Pilgern mit Hund nach Santiago de Compostela

Translation:

Ein Blog, zwei Ansichten

Hier findet ihr unsere chronologischen Tagesberichte.

 

Da wir zwei Wanderer waren, hatten wir auch zwei verschiedene Perspektiven und erlebten Dinge anders. Deswegen sind die Berichte abwechselnd von Reinhard oder von Annika verfasst. Dreimal meldet sich sogar auch Sira zu Wort. Also, seid gespannt, was wir übereinander zu berichten oder auch zu motzen hatten!

Fr

19

Jul

2013

Sira: MEIN Sofa, MEIN Bett, MEINE Straße!

Wenn hier schon jeder was zum Abschied sagt, will ich das natürlich auch tun!

 

Entschuldigung, dass ich das nicht schon längst gemacht hab, aber in den letzten Tagen ging es mir gar nicht gut. So lange bin ich mit meinen Menschen durch die Welt gewandert, hab hundert verschiedene Sachen gefressen, aber kaum bin ich zu Hause, werde ich krank. Ich weiß gar nicht mehr, warum, aber auf einmal hat es am Sonntag Nachmittag in meinem Magen kräftig rumort und ich hab heftigen Durchfall bekommen. Von da an musste ich mindestens alle zwei Stunden dringend mal raus, auch in der Nacht. Frauchen und Herrchen waren ganz lieb und sind auch nachts mit mir rausgegangen. Trotzdem hatte ich ein ganz schlechtes Gewissen, wenn ich sie geweckt habe. Und ein noch schlechteres Gewissen hatte ich, als ich am Mittwoch zwei Stunden alleine zu Hause war und es einfach nicht zurückhalten konnte. Als Frauchen heimkam, habe ich sie nur mit eingezogenem Bürzel und hängenden Ohren angesehen. Sie hat nur gesagt "Ist nicht schlimm, Maus", hat mir über den Kopf gestreichelt und hat die Schweinerei weg gemacht. Ich glaube, sie war froh, dass ich mich dafür bis auf die Fliesen vor der Haustür geschleppt hab. So eine Bescherung auf unserem Dielenboden oder dem Spieleteppich im Kinderzimmer wäre viel schlimmer gewesen, das weiß ich. Deswegen geh ich immer brav auf die Fliesen, wenn so etwas mal passiert. Zum Glück geht es mir inzwischen wieder besser und endlich kann ich euch schreiben, wie alles sich entwickelt hat.

 

Meine letzten Tage auf der Wanderschaft waren die besten von allen! Wind, fischiger Meeresduft und mehrere Nächte im gleichen kuschelig weichen Hundebett von Compis. Obwohl dieser lustige Typ irgendwie mein Freund war, war er mir nicht immer ganz geheuer. Er hat mir manchmal, ohne auch nur einen Ton zu sagen, ganz klar gemacht, dass das SEIN Haus ist und ich mich zu benehmen hatte. Davor hatte ich ganz schön Respekt. Soviel, dass ich mich nur die Treppe runter und an ihm vorbei getraut hab, wenn ich mich ganz dicht an Frauchen quetschen konnte. Trotzdem haben wir uns sehr gut verstanden. Und er hatte einfach das leckerste Futter!

 

Und als ich dachte, es könnte gar nicht schöner werden, durfte ich auch noch ohne Leine am Strand rumflitzen. Das war ein Spaß! Und zum ersten Mal war ich so richtig aus der Puste. Weil die Menschen aber alle nicht so schnell laufen können wie ich, hat mir das aber auch nicht ewig Spaß gemacht und ich bin zu ihnen zurückgekommen. Ich weiß nicht, warum, aber Frauchen war darüber sehr zufrieden und glücklich. Na schön, dann bin ich es auch.

 

Irgendwann ist auch die schönste Zeit zu Ende. Als Frauchen nach drei gemütlichen Tagen wieder meine Decke zusammenrollt, sagt mein Blick mehr als tausend Worte: "Nicht schon wieder weg! Es ist doch gerade so schön hier!" Aber ich habe keine Wahl. Frauchen ist der Bestimmer...

 

Am selben Tag passiert etwas Komisches: Als wir durch die netten Landschaften marschieren, kommen uns zwei Leute entgegen. Sie sehen gar nicht aus wie Pilger. Und sie riechen auch nicht so. Moment mal... Aber ich kenne den Geruch! Die gehören doch zur Familie! Das sind doch Basti und Dimi! Wie kommen die denn hierher??? Ich bin so begeistert und begrüße Basti mit Freudensprüngen. Bei Dimi bin ich etwas vorsichtiger. Die hat ja immer noch Angst vor mir. Als auch Anni und Papa den Zweien Hallo gesagt haben, laufen wir zusammen weiter und Basti nimmt meine Leine. Das ist lustig! Der weiß ja noch gar nicht, was ich alles kann. Als wir einer Katze und zwei bellenden Hunden begegnen, kann ich es ihm mal so richtig zeigen. Basti kommt ins Schwitzen, alle anderen lachen, aber ich erwische die Katze leider trotzdem nicht. Mist, ich dachte, das wäre meine Chance.

 

Bald sind wir in Muxia angekommen und Papa und Anni liegen sich schon wieder in den Armen. Das machen die öfter in letzter Zeit. Ich hab auf sowas jetzt keine Lust, denn der Wind pustet mich bald vom Felsen. Frauchen sagt: "Gut, dass ne Leine dran ist, sonst wär mein Hund schon weggeflogen." Toll. Ich finde das nicht witzig.

 

Ich bin froh, als wir zum Auto gehen. Da ist es geschützt. Aber die Autobox, in die ich rein soll, ist mir erstmal nicht geheuer. Wie immer füge ich mich aber bald meinem Chef und die große Fahrt beginnt. Von jetzt an sitzen wir ewig im Auto und ich versuche, so viel Zeit wie möglich zu verschlafen. Meine Knochen knacken jedes Mal ganz schön, wenn wir irgendwo anhalten und ich raus darf. Ich bin froh, dass Basti dann immer wieder ein bisschen mit mir rennt, dann roste ich nicht ganz ein.

 

Nach zwei Tagen halten wir wieder an und Frauchen und Papa steigen mit mir aus. Wir gehen über einen Schotterweg, an Wiesen entlang, hinter den Wiesen ein Fluss, ich schnupper hier und schnupper dort, und plötzlich: Was riech ich denn da? Das kenn ich doch. Dann höre ich ein Bellen. Das kenn ich doch auch. Moment mal: Wo sind wir? Ich kenn das alles hier! Ohne Frauchens Hilfe finde ich sofort die richtige Abzweigung und stehe bald vor meinem Zuhause! Und da sind so viele Leute! Und mein Hundefreund Sammy! Und Frauchens Mama, die immer so super nach Katzen riecht! Und überhaupt! Mein Zuhause! Herrchen ist auch da, aber den begrüß ich später.

 

Kurz ist alles ganz aufregend, aber bald ist alles so wie immer, so wie früher. Wir sitzen im Hof, ich bin an der Schleppleine, die Menschen müssen über meine Leine hüpfen. Aber irgendwie ist wohl doch was anders. Ich fühle mich irgendwie so stark. Ich sage dem Sammy das immer wieder mal und dann ist er ganz überrascht. Und außerdem habe ich von all den anderen Hunden unterwegs gelernt, dass man sein Zuhause beschützen muss. Und dass alle wissen müssen, dass man der Boss ist. Also auch alle in der Straße. Deswegen muss ich das seitdem ein paar Mal täglich laut herausbrüllen, damit alle wissen, dass das MEINE Straße ist. Frauchen versteht das nicht und sagt immer, ich soll das lassen. Wie schon gesagt, manchmal ist sie schwer von Begriff...

 

An meinem ersten Abend zu Hause zeige ich mich von meiner besten Seite. Nicht ein einziges Mal versuche ich, Sofa oder Bett zu erobern. Ich lege mich in mein Körbchen, als würde ich nie mehr woanders liegen wollen. Umso glücklicher bin ich, als Herrchen abends, als alle weg sind, endlich aufs Sofa klopft und sagt: "Komm Eule, Hepp!" Mit einer herzhaften Arschbombe erfülle ich den Befehl. Ich seufze kurz, mache ganz schnell die Augen zu und verfalle in Tiefschlaf, bevor es sich noch jemand anders überlegt.

 

In dieser Nacht schlafe ich wie auf Wolken. Am nächsten Morgen bekomme ich mein leckeres Futter und nach dem Gassigang die nächste "Hepp!"-Aufforderung. Juhuu! Auf ins Bett meiner Menschen! Alleine wäre ich ja niiiiieee auf die Idee gekommen. Aber wenn Herrchen unbedingt will... Wir schlafen noch gemütlich ein paar Stündchen und von da an ist alles wie früher. Leckeres Essen, lange Spaziergänge, und gaaaanz viel Zeit mit meinem Sammy und meinen Menschen. Als wären wir nie weg gewesen... Für jeden sieht es ein bisschen so aus als wären wir nie weg gewesen. Wir benehmen uns fast so wie immer. Und wir gehen miteinander fast so um wie immer.

 

Aber manchmal, wenn keiner hinsieht, dann gucken Frauchen und ich uns an und in unseren Köpfen schwirrt ein Film von Nächten im Zelt, Katzenjagden, Hundekumpels, Leckerchen und Streicheleinheiten von Fremden, misstrauischem Beobachten von Seetang, der sich mit den Wellen im Meer bewegt und Tobereien im Sand. Dann lege ich mich ganz nah neben sie, lecke ihr über die Hand und sie krault mir die Nase. Wir haben zusammen etwas erlebt!

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Do

11

Jul

2013

Reinhard, Annika und Sira: Zum Abschluss...

 

Zu guter Letzt möchten wir euch allen, unseren Heimatfreunden, unseren uns bekannten und unbekannten Homepagefans, den fleißigen Kommentatoren und Gästebucheinträgern, den stillen Mitfieberern und den Nicht-Computerfreunden, die sich unsere Artikel haben ausdrucken lassen, um unsere Stories zu lesen, danken, dass ihr uns bis zum Schluss treu geblieben seid. Eine solche Resonanz hatten wir im Traum nicht erwartet. Wir danken den netten Herren von den Zeitungen, die sich Zeit für uns und unsere Geschichte genommen haben und uns durch ihre Presseartikel noch mehr Homepagefreunde beschert haben. Wir danken unseren Lieben zu Hause, die uns haben ziehen und dieses wunderbare Abenteuer erleben lassen. Wir danken all den Helfern von Jakobus` Bodentruppen, die im rechten Moment da waren und uns auf dem Weg in irgendeiner Form ein Stück weitergebracht haben. Und zu guter Letzt danken wir Jakobus selbst, dass er uns diesen Weg in irgendeiner Form geschenkt hat. Es war eine Wahnsinnszeit mit euch allen! Wir danken euch!

 

Vielleicht bleibt ihr uns und unserer Seite immer noch ein wenig treu. Es lohnt sich, immer wieder mal vorbeizuschauen, da wir in der kommenden Zeit versuchen werden, Fotos hochzuladen, Einiges zu aktualisieren und zu ergänzen und die bald erscheinenden Presseartikel einzustellen. Habt aber bittebitte ein bisschen Geduld mit uns.

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Do

11

Jul

2013

Annika: Irgendwas bleibt

Tja, da war der Papa wohl mal wieder schneller und gewissenhafter als ich... Vor heute hatte ich aber auch echt keine Chance, mich mit der Homepage zu befassen, geschweige denn ein Fazit zu verfassen. Na, dann wollen wir mal!

 

Unser Ankommen hier war eigenartig. Ähnlich wie nach meiner Rückkehr aus Afrika ist bei mir der Kulturschock komplett ausgeblieben. Ich bin angekommen und hatte das Gefühl, ich war nur mal eben zwei Wochen in Urlaub. Nur dass es den Daheimgebliebenen irgendwie länger vorgekommen sein muss. Unsere Familie ist da, um uns zu begrüßen und schließt uns sehnsüchtig in die Arme. Ich freue mich, sie alle zu sehen, bin aber in erster Linie müde. Und da Sira noch an mir dranhängt, ist das Ganze auch ganz schön durcheinander und anstrengend. Den Rest des Tages sitzen wir gemütlich zusammen wie bei jedem anderen unserer Familientreffen. Kaum zu glauben, dass dieses sich von den anderen durch eine viermonatige Abwesenheit und dreitausend gelaufene Kilometer von den anderen unterscheidet. Es fühlt sich an wie immer. Es ist schön, wieder hier zu sein!

 

Die nächsten Tage verbringe ich damit, meine Wäsche zu waschen und mir einen neuen Job zu suchen. Ein bisschen ist alles wie immer, aber eben irgendwie auch nicht. Ich mache den Haushalt, genieße die Sonne im Innenhof, mache Spaziergänge mit Sira, genieße das heimelige Zusammensein mit meinem Freund, aber irgendetwas ist auch anders. Ich gehe jeden Tag mit Sira joggen, damit sie sich ein bisschen austoben kann. Ich bin sicherer im Umgang mit ihr und anderen Hunden. Ich finde immer noch Sand in meinen Wanderschuhen. Und wenn ich andere Schuhe anziehe, kriege ich sofort Blasen und stelle fest, dass Wanderschuhe einfach am allerbequemsten sind. Ich suche das erste Mal in meinem Leben nach einem Arbeitsplatz, bei dem ich vielleicht immer bleiben will. Die anderen Male hatte ich mir das Ganze selbst befristet, weil ich schon meinen nächsten Trip in die große weite Welt geplant hatte.

 

Mein jetziger Plan ist ein neuer: Ich plane - zu Hause zu sein und zu Hause zu bleiben. Das soll nicht heißen, dass ich nie mehr rausgehen möchte oder Urlaub mache. Das bedeutet nur, dass mein Hunger auf Mammutprojekte erstmal gestillt ist. Keine Frage, die Tour war toll und wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich es genauso wieder machen. Aber jetzt hab ich genug. Ich bin nicht "angefixt" wie Papa. Ich habe gemacht, was ich wollte und jetzt ist es an der Zeit, ein geregeltes Leben zu führen. Vielleicht in Urlauben mal die Welt um uns rum, in Deutschland und den angrenzenden Ländern kennenlernen, vielleicht im Zelt, vielleicht in Ferienhäuschen. Vielleicht über ein Wochenende oder zwei Wochen, aber nicht mehr monatelang. Vielleicht mit Freunden, vielleicht mit der Familie oder vielleicht nur mit meinem Freund.

 

Aber zur eigentlichen Frage: Was hat der Weg aus mir gemacht? Was hat er aus UNS gemacht? Ich habe nicht zu Gott gefunden. Ich wurde nicht erleuchtet. Ich habe keine Freunde fürs Leben gefunden. Ich bin nicht lockerer geworden. Ich habe meinen Reinlichkeitsfimmel nicht abgelegt. Wie Papa schon sagte, wird die Zeit erst zeigen und unser Umfeld uns sagen, inwiefern wir uns verändert haben. Vielleicht bin ich etwas stärker und flexibler geworden. Vielleicht bin ich enger mit meinem Hund zusammengewachsen, obwohl wir uns unterwegs manchmal echt genervt haben.

 

Ich weiß nur, dass ich es genossen habe. Ich habe es genossen, jeden Tag in der Natur zu sein. Jeden Tag auch durch Wind und Wetter zu laufen. Jeden Tag ein kleines Abenteuer zu erleben. Immer wieder mit fremden Menschen zu sprechen. Leute besser kennenzulernen. Eine Berühmtheit auf dem Camino zu sein. Auf unserem kleinen Kocher unser Nudelsüppchen zu kochen. Unser Zelt aufzubauen. Meinem Hund jeden Abend stolz sein Fell zu kraulen. Mindestens dreimal täglich unsere Homepage zu besuchen, um Klickeranzahl, Gästebucheinträge und Kommentare zu lesen. Sira am Strand durch den Sand wirbeln und sich mit den Wellen anlegen zu sehen. Und natürlich nicht zuletzt so viel Zeit wie noch nie mit meinem Papa zu verbringen. Papa, es war mir eine Ehre!

 

Was waren wohl die schönsten oder schlimmsten Momente auf unserer Tour? Für mich waren die schlimmsten, wie ihr wohl alle mitbekommen habt, die Tage nach unserem Schäferhundangriff. Ich habe ernsthaft über einen Abbruch nachgedacht. Umso stolzer bin ich, dass wir uns dem Problem mit Pfefferspray und Pilgerstab gestellt haben und auch nach dem Vorfall noch eine Menge Hundekumpels gefunden haben. Trotzdem: Ein tiefes Misstrauen Hunden gegenüber, vor allem Schäferhunden, ist zumindest bei mir geblieben. Wir arbeiten weiter daran, in der Hundeschule und mit jedem anderen freundlich gesinnten Hund, den wir treffen.

 

Die schönsten Momente? Wir haben viel Herzlichkeit empfangen bei den Menschen in Frankreich, bei denen wir umsonst schlafen durften. Das waren wirklich besondere Momente. Auch das Gefühl der Pilgergemeinschaft, zum Beispiel bei einem spontanen Sit-In mit völlig Fremden vor der Pilgerherberge von San Juan de Ortega. Und natürlich diese besonderen ergreifenden Momente mit meinem Papa vor der Kathedrale von Burgos, wo plötzlich aus riesigen Boxen der Gefangenenchor von "Nabucco" ertönt, auf dem Kathedralsvorplatz von Santiago de Compostela, beim Sonnenuntergang überm Meer in Fisterra und auf den Felsen von Muxia, wo uns der Wind bald davongepustet hätte. Kein Mensch kann dieses Gefühl beschreiben, wenn man es nicht selbst erlebt hat.

 

Und nun noch ein paar Worte für alle Hundebesitzer: Ist es empfehlenswert, mit Hund zu pilgern? Das können wir nur mit einem klaren "Ja" beantworten. Natürlich sollten gewisse Grundvoraussetzungen erfüllt sein. Der Hund sollte nicht unbedingt schon "vom alten Eisen" sein. Jeder sollte sich seinen Hund vor Augen führen. Kann er in dem Alter und mit dem Trainingsstand Spaß haben an einem solchen Weg? Wie geht der Hund mit Menschen um? Wie verhält er sich zu anderen Hunden? Wie reagiert er auf stetig wechselnde Schlafstätten, unter Umständen auch im Zelt? Kommt er mit stetig wechselndem Futter klar? Wir hatten das Glück, dass wir jede dieser Fragen zufriedenstellend beantworten konnten. Sira hatte bis zum letzten Tag jeden Morgen Freude daran, aufzubrechen und Neues zu erleben und zu entdecken. Sie und ich haben Dinge gelernt, die uns keine Hundeschule dieser Welt beibringen könnte. Wir waren uns so lange und intensiv nah wie noch nie. Wir sind zu einer Einheit zusammengewachsen. Klar, es wäre noch einfacher gewesen, wenn sie top erzogen wäre und keinen Jagdtrieb hätte, aber man nimmt die Dinge eben, wie sie kommen. Und wir hatten eine tolle Tour gemeinsam.

 

Man muss ein höheres Budget einplanen oder Wind-und-Wetter-Zelter sein. Außerdem ist es sinnig, sich seine wie auch immer geartete Unterkunft im Voraus telefonisch zu sichern, um bösen Überraschungen am Nachmittag vorzubeugen. Niemand möchte nach 25 gelaufenen Kilometern nochmal sieben Kilometer weitergeschickt werden, wenn die Herberge keine Hunde akzeptiert.

 

Natürlich, Hundepilgern ist anders als normales Pilgern und ich empfehle jedem, beides zu probieren, aber es ist definitiv ein besonderes und lohnendes Pilgern, das keinesfalls unmöglich ist und sehr wertvoll für die Mensch-Hund-Beziehung.

 

Tja, und jetzt sitze ich hier, in meinem immer noch nicht ganz beseitigten Rückkehrer-Chaos. Mein Rücksack ist immer noch nur halb ausgepackt und steht neben meinem Bett. Vielleicht will mein Unterbewusstsein sagen, dass ich doch noch nicht ganz angekommen bin. Der Rucksack steht quasi allzeit bereit für neue Schandttaten. Geht die Reise noch weiter? Gibt es ein neues Projekt, irgendwann, irgendwohin? Das gehört wohl in einen neuen Internetblog...

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Di

09

Jul

2013

Reinhard: Ein Fazit - oder sowas Ähnliches

Jeder, der auf einen Pilgerweg geht, geht seinen ganz persönlichen Weg, aus seinen ganz persönlichen Motiven heraus, in seiner ganz eigenen Art und Weise. Keiner kann konkret vorhersagen, in welcher Weise und mit welcher Intensität ihn die Pilgerreise verändern wird, aber sie wird ihn verändern. Ein Spruch unter Pilgern lautet: Gleichgültig, ob jemand aus spirituellen Motiven, aus Abenteuerlust, aus kunstgeschichtlichem Interesse oder als sportliche Herausforderung den Jakobsweg geht, in Santiago kommen alle als Pilger an.

 

Wir haben dieselben Erfahrungen gemacht wie die Pilger zu allen Zeiten: aufbrechen, Einsamkeit begegnen, Schmerzen ertragen, durchhalten, ankommen. Wer in Santiago de Compostela eintrifft, ist ein Anderer geworden. Was hat diese Pilgerreise also aus uns gemacht? Hat sie uns wirklich verändert? Garantiert hat sie das. Aber das genau zu ergründen, ist – für mich jedenfalls – noch zu früh. Es muss alles noch mehr sacken. Ich brauche noch mehr Abstand. Vielleicht werde ich selbst darauf auch nie eine Antwort finden. Möglicherweise können bald andere, die mich kennen, das viel besser beurteilen.

 

Ob oder wie uns der Weg verändert hat, wissen wir (noch) nicht. Was wir geleistet und erlebt haben, wissen wir sehr genau: 134 Tage sind wir gewandert, nur in Santiago haben wir uns einen Ruhetag gegönnt. Zusammen waren es fast auf den Kilometer genau 3000 Kilometer. Ein Paar Wanderschuhe hat jeder von uns „durchgelatscht“, das zweite Paar ist schon erheblich angegriffen. Drei Paar Socken mutierten bei mir mit den Wochen zum Schweizer Käse. Anni benötigte nur ein Paar, himmelte dafür aber eine Trekkinghose. Beide verloren wir auf dem Weg zusammen 28 kg (!) Körpergewicht. Man möge sich das bitte auf der Zunge zergehen lassen. Das ist gleichbedeutend mit dem Gewicht von zwei schwerbepackten Rucksäcken.

 

Am Anfang war die Neugierde: Nicht nur, werden wir den Weg schaffen?, sondern: Wird der Weg uns „schaffen“? Ich hatte die Sorge, dass ich auf dieser Pilgerreise meinen Körper intensiver kennenlernen würde, als ich eigentlich wollte. Doch die Sorge war unbegründet. Mein Körper bereitete mir so gut wie keine Probleme, meine Psyche genoss den Weg wie ein Stück Schokolade, das langsam auf der Zunge zergeht. Unser beider Durchhaltewillen zeigte sich als verlässlicher Gefährte. Der zeitweilige Entzug des gewohnten Komforts, eine Dosis von Strapazen und Härten, hatte für mich vor allem eine befreiende Wirkung. Zu erleben, dass ich dazu noch fähig bin, ja darüber hinaus noch Lust auf mehr bekommen habe, macht mich froh. Selbst die spartanische Nahrungsaufnahme an den meisten Abenden lässt mich im Rückblick nur noch schmunzeln. Das Hungergefühl am Ende eines Wandertages folgte einem bestimmten Muster: Am ersten Tag quälte einen der Hunger auf die angekündigte abendliche Nudelsuppe; am zweiten Abend quälte einen der Hunger, aber nicht schon wieder auf Nudelsuppe; am dritten Abend konnte man keine Nudelsuppe mehr sehen, aber man wusste, dass man was essen muss; am vierten Tag hatte man eigentlich überhaupt keinen Appetit, aber man aß trotzdem Nudelsuppe, weil man das eben so tut. Zur Abwechslung dann einmal ein Abend mit Kartoffelpüree aus der Tüte mit reingeschnibbelten Wurststückchen – und dann ging der Turnus mit der Nudelsuppe wieder von vorne los.

 

Die Nahrung für den Magen war das eine, die Nahrung für die Seele, der Weg durch wunderschöne Landschaften, das andere. Am faszinierendsten war für mich die nahezu meditative Streckenführung durch die spanische Meseta. Hier spürte ich ganz deutlich, wie mich der Zauber dieser Landschaft ergriff. Eigentlich war dies keine Landschaft, es war ein Zustand, in den man sich langsam versenken wollte. Alles hier war Harmonie und manchmal dachte ich, lag in diesem Moment der Sinn meiner Reise. Im Rückblick auf die vergangenen Wochen war der Weg wie die konkave Innenseite der Jakobsmuschel – wie eine Schale. Vielerlei habe ich darin aufnehmen und sammeln können: verschiedenartigste Landschaften, Kulturdenkmäler, unterschiedlichste Erfahrungen, Begegnungen, Sonne, Wind, Regen, karge und noblere Übernachtungen, einfachstes und feudaleres Essen, Gedanken und Erinnerungen, Gespräche, Anstrengungen und Schweiß, Freude und Freiheit … Diese Muschelschale ist randvoll.

 

Im Mittelalter gab es einen Spruch: „vita via est“ – „Das Leben ist ein Weg“. Ein leicht verständlicher Vergleich, das Leben als Weg zu sehen, mit einem Anfang, mit Irr- und Umwegen, mit Aufs und Abs, mit (hoffentlich!) einem Ziel. Den Spruch kann man aber auch umdrehen: „via vita est“ – „Der Weg ist das Leben“. Denn Vieles ist auf dem Weg ganz lebendig: die unterschiedlichen Wetter-, Jahreszeiten- und Landschaftserfahrungen, die Begegnungen mit Menschen, das Erleben von unterschiedlichen Kulturzeugnissen, unterschiedliche Glücks- und Schmerzerfahrungen …

 

Die emotionalsten Momente lagen für mich am Schluss. Lange hatte ich geplant, gespart, gezweifelt. Ich hatte manche Hoffnung und viele Befürchtungen. Dann stand ich vor der Kathedrale von Santiago de Compostela – unfassbar! Und jetzt? Eine bisher unbekannte Traurigkeit war in mir aufgestiegen. Ich konnte es nicht länger verdrängen: Meine Pilgerwanderung war zu Ende. Wo waren die anderen? Die netten Menschen von unterwegs? Glücklicherweise war ich nicht allein gelassen. Anni und Sira waren noch da.

 

Dann noch die „Galgenfrist“ bis Kap Finisterre, bis Muxia. Irgendwann am wirklich letzten Wandertag durchfuhr es mich dann wie ein Blitz, und mir wurde schlagartig bewusst, dass meine Wanderung nicht mehr lange dauern würde. Nur noch ein paar Kilometer, dann war alles vorbei. Vieles, was mir in den vergangenen Wochen so gefallen hatte, würde es bald nicht mehr geben: das ständige Unterwegssein, das Dahintreiben auf Straßen und Pfaden, das Leben unter freiem Himmel und das Gefühl, heute hier und morgen dort zu sein. Am liebsten hätte ich die Zeit angehalten, hätte sie ausgeblendet. Doch unaufhörlich rann sie dahin, und mir wurde klar, dass ich eigentlich gar nicht ankommen wollte. In mir war eine seltsame Mischung von Vorfreude, Enttäuschung und innerer Anspannung.

 

Als Anni und ich bei der Felsenküste von Muxia, an der „Virxen da Barca“, nebeneinanderstanden, war ich für einen Moment unfähig, ein Wort hervorzubringen. Einen Moment zögerten wir. Dann nahmen wir uns in die Arme. Und ich dachte: Kann man jemanden intensiver spüren als sein Kind? Danke!, flüsterte ich ihr wortlos ins Ohr und hielt sie noch fester.

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So

30

Jun

2013

Reinhard: Ich hätte ja auch zurückpilgern können!

Von Poitiers bis Eitorf/Windeck, 900 km

Es ist für mich schon ein eigenartiges Gefühl, als wir morgens um 8 Uhr in Portiers ins Auto steigen. Heute Abend sind wir zu Hause!

 

Die lange Fahrerei gefällt mir überhaupt nicht. Vorgestern und gestern war es noch spannend. Vorgestern durchrasten wir noch Landschaften und Regionen, die wir vor Wochen zu Fuß durchstreiften: die Montes de Oca, die Montes de Leon, die Messeta. Gestern dann sogar ein flüchtiges Wiedersehen mit Orten und Örtlichkeiten direkt am Weg: Espinal, Zubiri, Roncesvalles, Ibaneta-Pass, Valcarlos, St.-Jean-Pied-de-Port. Punkte, an denen wir die Schnellstraße auf unserem Weg kreuzten, Baumalleen, an denen wir entlangzogen, Dörfer, die wir durchquerten, mit ihren roten Ziegeldächern und Storchennestern auf den Kirchtürmen.

 

Nach St.-Jean verlassen wir den "Dunstkreis" unseres Weges, fahren nun Richtung Norden - bezeichnenderweise aber wieder angelehnt an einen Jakobsweg.  Diesmal ist es die Via Turensis, der westlichste Hauptstrang der französischen Jakobswege, der über Portiers bis Tour führt. Sogar von dort hätte ich unter dem Zeichen der Jakobsmuschel weitergehen können Richtung Heimat. Weitere Jakobswege führen von Tour über Paris nach Aachen, von Aachen nach Trier, weiter über den Moselcamino von Trier nach Koblenz. Von Koblenz über den Westerwald nach Hause wäre es dann nur noch ein "Katzensprung".

 

Im dahinrasenden Auto auf der mautpflichtigen Autobahn zwischen Portiers und Paris beginne ich (mal wieder) zu träumen: Wenn ich von Santiago aus den Camino Norte (Küstenweg) bis zu den Pyrenäen genommen hätte, dann weiter auf der Via Turensis, dann ... , ich hätte tatsächlich, wie die Pilger im Mittelalter, auch zurückgehen können. Schätzungsweise Ende Oktober / Anfang November wäre ich zu Hause gewesen. Warum habe ich das nicht gemacht??? Eigentlich wäre doch erst dann diese Pilgerreise "rund" gewesen. Ich habe unterwegs tatsächlich darüber nachgedacht. Geh einfach weiter! Pfeif doch auf die Mühle von sogenannten Verpflichtungen! Alles, was zu Hause auf dich wartet, kann auch noch vier Monate länger warten. Alle, die auf dich warten, werden es auch noch länger ertragen können. Und wer damit Probleme hat, kann dich ja unterwegs besuchen kommen und ein Stück begleiten.

 

Jetzt ist es zu spät! Sebastian hat den Bleifuß und wir fressen die Kilometer mit teilweise 180 km/h. Spätestens nach einer Stunde Fahrt rutsche ich auf dem Beifahrersitz hin und her, weiß nicht, wie ich sitzen soll, mein Kreuz tut weh. Sitzen ist nicht mehr mein Ding, ich habe mich mehr ans Gehen gewöhnt. Eine halbe Stunde lang schlummere ich mal vor mich hin. Als ich die Augen wieder öffne, durchfahren wir gerade Paris. Für einen Moment erblicke ich den Eiffelturm. Anni gelingt es häufiger, längere Abschnitte schlafend zu überbrücken. Sira liegt hinten in ihrem Transportkorb und schläft wohl durchgehend, jedenfalls hören wir von ihr keinen Fieps. Braves Mädchen! Die Pausen an den Raststätten sind nicht lang, aber ausreichend, mit Schwerpunkt Toilettengang für Mensch und Hund.

 

Französich-belgische Grenze ... belgisch-deutsche Grenze ... Aachen ... Köln ... ohne größere Staus nähern wir uns der Heimat. Siegburg ... Hennef ... dann sind wir in Eitorf. Bei Anni zu Hause ist eine kleine Wiedersehensfeier angesetzt. Gleich sehen wir unsere Lieben wieder, wir freuen uns drauf. 200 Meter vor der Haustür lassen wir uns absetzen. Auf dem Siegdamm wollen wir uns schnell nochmal die autolahmen Knochen lockern und Sira einen Gassigang gönnen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Anni strahlt. Gleich hat sie ihren Ingo wieder. Ihre Schritte werden immer schneller.

 

Dann sehen wir sie alle vor dem kleinen Fachwerkhaus stehen oder sitzen - und sie sehen uns. Erste Reaktion: "Oh Gott, Ihr seid aber dünn geworden! Wie seht Ihr denn aus??!!" Na toll! Ich liebe meine Verwandtschaft!

 

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Sa

29

Jun

2013

Annika: Die Heimat ruft!

Von Burgos nach Poitiers, 900 km

Hach, was sind wir doch leicht zufrieden zu stellen! In unserem (für unsere Verhältnisse edlen) Hotel in Burgos schlafen Papa und ich ziemlich gut. Klar, nicht so gut wie in unserer Oase bei Jan und Rosa in Fisterra, aber immer noch ausreichend. Die Betten sind nicht ganz so himmelweich, die Brise und das Rauschen des Meeres fehlen und die Aufregung der Heimkehr macht den Schlaf unruhig. Trotzdem sind wir zufrieden. Betten mit Decke und Kopfkissen, Handtücher, Duschgel gratis und ein Duschkopf, der sich befestigen lässt. Was will man mehr?!?

Sira, Dimi und Basti könnten da jetzt so einige Beispiele nennen. Siras Kopf war, nach den für sie ziemlich anstrengenden ersten 600 km gestern im Auto, im Hotelzimmer auf ihrem dünnen Deckchen lange nicht so weich und komfortabel gebettet wie die drei vorigen Nächte in Compis' Körbchen.

Dimi und Basti waren in den letzten Wochen deutlich andere Standards gewohnt als wir. Sie sind lange nicht so zufrieden wie wir. Sie hören Toillettenspülungen in anderen Zimmern und empfinden das Frühstück als mickrig. Ich glaube, Papa und ich haben ganz schön Hornhaut entwickelt in den letzten Monaten.

So oder so, wir sind ja zum Glück nur auf der Durchreise. Im fliegenden Wechsel mit Papa frühstücke ich und überraschend schnell sind wir danach startklar. Die Heimat ruft...

Zuerst ist allerdings wieder mal Tetris angesagt. Wir mussten gestern noch einmal an unsere Sachen und irgendwie ist diese ganze Packfabrik sowieso noch verbesserungswürdig. Also hin und her, da was zwischen, hier was drunter, doch nochmal raus und wieder rein.... Ich nutze die Zeit und jogge mit Sira um den Block. Besonders viel Bewegung wird die Gute heute nicht bekommen. Ich bin gespannt, wie sie das aushält.

Nach einer Viertelstunde ist alles verstaut und wir düsen ein weiteres Stück gen Heimat.

Die ersten drei Stunden führen uns durch Spanien, oft ganz schön nah am Jakobsweg. Immer wieder fahren wir durch Dörfer und sagen: "Guck mal, da sind wir rausgekommen!", "Hier haben wir die Straße überquert!", "Da drüben haben wir geschlafen!" Wir sehen Rucksackwanderer mit Jakobsmuscheln, die sich Berge hoch und durch die Sonne abrackern. Sie sind gerade am Anfang ihrer Reise. Buen Camino, Leute! Von jetzt an ohne uns...

Bis zur französischen Grenzen wird Bastis Fahrkünsten und seiner Geduld Einiges abverlangt. Wir kurven durch die Serpentinen der Pyrenäen und kommen nicht so recht vorwärts. Wir hätten das ganze Gebiet auch bei San Sebastian auf der Autobahn umfahren können, aber dann hätten wir St.-Jean-Pied-de-Port verpasst. Vor gut eineinhalb Monaten sind wir schon einmal dort gewesen, wo die meisten Pilger ihre Wanderung beginnen. Damals waren auch wir zu Fuß. Veronika kam zu Besuch und brachte einen schweren Koffer voll guter Gaben für uns mit. Die haben wir herausgenommen und dafür andere entbehrliche Dinge reingepackt. Den Koffer brachten wir zur Pilgeranlaufstelle, wo er verwahrt wurde, bis wir ihn wieder abholen.

Das wollen wir jetzt tun. Dafür müssen wir diesen Umweg eben in Kauf nehmen. Nach einer Weile kommt durch das gleichmäßige Geschunkel, bei uns drei Mädels zumindest, latente Übelkeit auf. Die Sonne, die das Auto aufheizt, der Geruch von Hund und unseren Lebensmittelvorräten, die zu 95% aus Süßkram bestehen, tun ihr Übriges dazu.

 Wir alle sind froh, als wir in St.-Jean erstmal aus dem Auto rauskommen. Trotzdem wickeln wir unsere Vorhaben  so schnell wie möglich ab. Die Heimat ruft...

Während Papa sich im Pilgerbüro anstellt, drehe ich ein Ründchen mit Sira. Bis jetzt schlägt sie sich tapfer. Sie schläft den Großteil unserer Fahrten in ihrer neuen Box, die restliche Zeit schaut sie sich durch die Heckscheibe die vorbeiziehende Welt an. Wenn wir sie bei einer Pause herausholen, wirkt sie ein bisschen steif und muss sich erstmal schütteln, aber das ist bei uns Menschen ja nicht anders. Am Ende jeder Pause steigt sie bereitwillig wieder in ihre Box, das ist immer ein gutes Zeichen. Was mir nicht gefällt, ist die Tatsache, dass sie tagsüber kaum etwas trinkt, aber bevor sie verdurstet, wird sie das wohl auch machen. Außerdem schlabbert sie abends reichlich Wasser, also wird das wohl nicht so dramatisch sein.

Bald treffen wir uns wieder am Auto mit Basti und Dimi, die die Zeit für einen Schnelldurchlauf durch die Stadt genutzt haben.

Kurz darauf sitzen wir wieder im Auto, zusätzlich mit dem "neuen" Koffer beladen, und tuckern über Landstraße Richtung Lamothe, wo wir Fritz Papas geliebten Leihwheely wieder übergeben.

 Als wir um kurz nach vier dort eintreffen, ist es kräftig warm. Papa und ich sind froh, dass wir früher dran waren. Die Wandertemperaturen waren uns definitiv angenehmer, als es jetzt der Fall wäre, von Sira ganz zu schweigen. Klar, das Zelten wäre unkomplizierter, aber man kann nicht alles haben.

Als wir bei Fritz ankommen, steckt er schon in der Vorbereitung seines grandiosen Süßkartoffel-Stews. Es ist ruhig hier. Die paar Gäste, die er hat, halten sich in ihren Zimmern auf. Kein Vergleich zu dem Gewusel, als wir hier waren.

Fritz hat sogar Zeit, uns auf eine Kanne Kaffee einzuladen und sich kurz zu uns zu gesellen. Wir tauschen die eine oder andere Erfahrung aus, während Basti und Dimi ein Ründchen mit dem Hund drehen. Ich muss ja sagen, ich bin dankbar, dass Papa und Basti mir meinen Fiffi immer mal wieder abnehmen. Das macht es für Sira und mich immer einen Tick entspannter.

Nachdem Papa seine Sachen vom Wheely zurück gepackt hat in seinen hier gelagerten Rucksack, gibt Fritz ihm noch ein paar Anregungen für weitere Pilgerreisen. Jaja, Angefixte unter sich...

Bald sitzen wir wieder im Auto. Die Heimat ruft...

Mit angenehm viel Bewegungsfreiheit geht es weiter. Wir sehen unsere letzten Pilger, als wir Lamothe verlassen. Über Schleichwege düsen wir Richtung Heimat. Bald stoßen wir auf die Autobahn, die wir erst in Poitiers wieder verlassen, um unser Hotel anzusteuern. Es ist auch langsam Zeit. Zehn Uhr, Zeit für die Heia.

Heute haben wir uns circa 800 km näher an das große Ziel herangearbeitet. Sira darf sich jetzt endlich den Wanst vollschlagen. Den ganzen Tag über hat sie nichts bekommen, damit ihr nicht schlecht wird beim Auto fahren. Dafür jetzt! Sie frisst mit viel Appetit, sie säuft mit viel Durst, ihr Öhrchen wird das letzte Mal wundversorgt und sie streckt sich das letzte Mal auf ihrer stinkenden, haarigen dünnen Decke aus. Ob sie das weiß? Ob sie weiß, was sie in den letzten Monaten geleistet hat? Ob sie eine Ahnung hat, welchem Zweck es dient, dass sie sich drei lange Tage im Auto langweilen muss? Ob sie ahnt, dass ihr ab morgen wieder ein Platz auf dem Sofa in Herrchens Arm sicher ist? Ob sie im Gefühl hat, dass es ab morgen wieder jeden Tag Nassfutter und Leckeres vom Hundemetzger gibt, dafür aber weniger Streicheleinheiten von Fremden, kürzere Spaziergänge und weitaus weniger Zeit mit Papa? Ob sie ihr Zuhause und ihr Herrchen wieder erkennen wird? Wird sie sich freuen oder traurig sein? Ich hoffe, ein bisschen von beidem, denn dann haben wir alles richtig gemacht. Werden ihre alten Hundekumpels wieder ihre Kumpels und Feinde wieder Feinde sein?

Als Papa schon lange schläft, liege ich noch wach, schaue im Halbdunkel meinem Hund beim Schlafen zu und stelle mir vor, wie es morgen sein wird, heimzukommen. An Schlaf ist bis in die späte Nacht nicht zu denken. Ich bin aufgeregt wie ein kleines Kind in der Nacht vor seinem Geburtstag.

Die Heimat ruft!

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Fr

28

Jun

2013

Reinhard: Richtung Heimat

Von Lires nach Muxía, 15 km

Von Muxía nach Burgos, 570 km

Der letzte Tag! 135 Wandertage liegen dann hinter uns. 135 Tage voller wechselnder Eindrücke, unvergesslicher Erlebnisse und Erinnerungen. Es wird nicht einfach sein, sich ab morgen wieder einen ganz anderen Rhythmus anzugewöhnen. Heute geht es aber nochmal in altbewährter Weise weiter.

Gestern und vorgestern schien schon die Sonne, als wir aufstanden, heute wird es mal wieder gerade hell. Unsere Sachen hatten wir bereits gestern Abend weitgehend zusammengepackt, so dass wir schnell beim Frühstück sitzen. Danach geht es ziemlich zügig. Wir verstauen unser Gepäck bei Jan im Auto, verabschieden uns von Rosa, bedanken uns für einen tollen Aufenthalt in einem gastlichen Haus, steigen ein und Jan rollt die Straße hinunter.

Nach 20 Minuten Fahrt lädt er uns in Lires wieder aus, dort, wo er uns gestern Nachmittag aufgegabelt hat. Jetzt liegen die letzten 15 Kilometer von insgesamt 3000 vor uns. Etwas mehr als eine Stunde gehen wir nochmal alleine, dann kommt der Moment, auf den ich mich schon seit Tagen freue. Wir werden uns mit Sebastian und seiner Freundin Dimi treffen und die letzten zehn Kilometer zusammen nach Muxía gehen. Hoffentlich klappt das Rendezvous in der galicischen Einsamkeit. Von La Coruña aus, wo sie gestern auf ihrer Rundreise angekommen sind, haben sich die Beiden ungefähr um die gleiche Zeit wie wir mit dem Auto auf den Weg gemacht, um nach Muxía zu fahren. Dort lassen sie den Wagen zurück, steigen in ein Taxi, das sie dann zu uns bringen soll.

Heute gehen wir auf einen Innenlandstrecke, also keine Meeresblicke oder Strandspaziergänge wie gestern. Dennoch aber schön! Moderat geht es auf und ab, wieder mal durch Eichen- und Eukalyptuswälder, an mit Farn bewachsenen Feldsteinmauern vorbei, durch kleine Dörfer mit Hunden, Katzen und alten Kornspeichern.

Zu den drei Häusern von Guisamonde sollen sich Sebastian und Dimi bringen lassen, so ist es telefonisch verabredet. 10 Uhr ist angedacht. Um 10.15 Uhr sind wir dort, die Beiden noch nicht. Anni und ich hocken uns in ein kleines Bushäuschen und muffeln Muffins. Von Basti und Dimi keine Spur. Zehn Minuten später klingelt Annis Handy. Basti ist auf der anderen Seite. Er hat zwar dem Taxifahrer den Auftrag gegeben, nach Guisamonde zu fahren, aber auch blöderweise was vom Camino gesagt. So hält der Droschkenkutscher bereits zwei Kilometer vorher in Morquintián, deutet auf die sichtbaren Pfeile des Weges nach Muxía und schmeißt die Beiden raus. Dank der manchmal doch ganz schön nützlichen Handytechnik ist das Problem schnell gelöst und wir vereinbaren, uns auf dem Weg entgegenzukommen.

Jetzt kribbelt es mir doch etwas im Magen. Eines seiner Kinder nach viereinhalb Monaten irgendwo in der Pampa gleich wiederzusehen, hat für mich schon was Besonderes. Auf einer breiten Piste gehen wir gerade mal wieder durch einen Eukalyptuswald, da biegen die beiden Ersehnten um eine Kurve. Schon auf 50 Metern rufen wir uns Willkommensgrüße entgegen und liegen uns wenige Augenblicke später in den Armen. Unser Rendezvous hat tatsächlich geklappt! Lachend und schnatternd ziehen wir gemeinsam weiter.

Basti lässt es sich natürlich nicht nehmen, sich die Hundeleine mit Sira umzuschnallen. Sira gaukelt ihm am Anfang Wanderluxus vor und zieht ihn gemächlich einen Anstieg hoch. Bis bei einem Bauernhof die erste Katze auf dem Weg liegt! Mit Zugkräften dieser Art hat Basti bei einem Hund von dieser Größenordnung nicht gerechnet. Er hat alle Mühe, die Katzenjägerin im Zaum zu halten. Als wir dann Morquintián erreichen und auch noch Hunde dazukommen, übernimmt lieber Anni wieder die Leine. Jetzt hat Basti wenigstens den Hauch einer Vorstellung davon, was seine Schwester auf dieser Pilgerreise, mal ganz abgesehen von den zurückgelegten Kilometern, geleistet hat. Jetzt soll er auch noch die zweite Erfahrung machen: Ich drehe ihm meinen Wheely an. Anfangs ist der Weg noch ohne große Steigung, der Pistenbelag glatt und ohne Schotter oder gar Geröll. Ein leichtes Fahren also. Dann wird es rumpeliger. Erosionsrinnen ziehen eine Anhöhe hinauf und hinunter und Basti bekommt eine kleine Ahnung von dem, womit ich mich viele Tage beschäftigen durfte. Außerdem lastet der Bauchgurt des Wheely schwer auf seinen Hüften und bereitet Schmerzen. Nach höchstens fünf Kilometern darf ich den Wheely wieder übernehmen.

Beim Abstieg hinunter nach Xurarantes sehen wir endlich wieder das Meer. Jetzt wissen wir, es ist nicht mehr weit bis Muxía. Der Weg wird sandiger, verengt sich zu einem Pfad, der fast von Brombeerranken überwuchert wird. Dann befinden wir uns in den Dünen des Playa de Lourido, der letzten Strandbucht vor Muxía. Noch einen Kilometer auf einer wenig befahrenen Küstenstraße entlang der vom starken Wind aufgewühlten See und wir erreichen die ersten Häuser von Muxía.

Muxía ist nicht mehr besonders attraktiv. Vom einstigen Fischerdörfchen zeugen nur noch wenige Steinhäuser. Nach der Entdeckung reicher Fischgründe in den 60er Jahren wuchs der Ort ohne städteplanerischer Weitsicht. Der Grund für die Jakobspilger, nach dem "Ende der Welt" auch noch Muxía aufzusuchen, liegt an der Kirche Virxe da Barca. Der Legende nach erschien dort, wo sich heute das Steinriff mit dieser Kirche befindet, einst dem missionseifrigen Jakobus die heilige Jungfrau Maria in einem seegängigen Steinschiff und sprach ihm Mut zu. Hier wird das endgültige Ende unserer Pilgerreise sein.

Doch vorher haben wir noch einiges zu erledigen. Erste Anlaufstation ist die öffentliche Herberge im oberen Teil der Stadt. Hier erhalten wir die dritte dokumentierte Bestätigung unserer Pilgerreise. Nach der "Compostela" in Santiago und der "Fisterrana" in Fisterra, fügen wir jetzt noch die "Muxíana" unserer kleinen Sammlung hinzu. Alle drei Urkunden werden zu Hause einen Ehrenplatz erhalten.

Danach ist nochmal ein Einkauf angesagt, für alles, was man für eine lange Rückreise im Auto so braucht. Während die anderen Drei in den Supermarkt einfallen, bleibe ich in gewohnter Weise wieder mit Sira draußen vor der Tür. Ob ich mich jetzt vielleicht nochmal zur Aufbesserung unseres Budgets auf den Boden setzen, Sira malerisch neben meinen Füßen platzieren und den Wassernapf aufstellen sollte? Vielleicht kommt ja dann nochmal jemand und ...? Ich lass es. Die Drei kommen recht bald mit dem Reiseproviant wieder aus dem Laden. Viel wäre nicht zusammengekommen.

Unten am Hafen steht Bastis Auto. Jetzt beginnt ein schwieriges Unternehmen. Schon lange haben wir uns die Frage gestellt: "Passt überhaupt unser gesamtes Gepäck in den Kofferraum? Hundebox, Wheely, Annis Rucksack, die Urlaubskoffer von Dimi und Basti sowie diverse andere Kleinigkeiten? Was ist, wenn nicht?" Das Tetrisspiel beginnt.

Das Auto dürfte keine zwei Zentimeter schmaler sein! Nach verschiedenen Versuchen ist alles verstaut. Gott sei's gelobt und gepfiffen! Ein Koffer liegt zwar noch auf der Rückbank zwischen Anni und Dimi, aber das ist wohl das geringste Problem.

Jetzt geht es auf den allerletzten Kilometer. Basti und Dimi fahren mit dem Wagen hoch zur Virxe da Barca. Eigentlich ist mir das auch sehr recht. Diesen letzten Kilometer möchte ich mit Anni und Sira alleine gehen. Der starke Wind, der das Meer rechts von uns aufwühlt, drückt uns fast vom Bürgersteig der Straße, die zur "Jungfrau im Steinschiff" führt. Um 15 Uhr sind wir da, am Ende unseres viereinhalbmonatigen Abenteuers.

Die Virxe da Barca ist ein passender Abschluss. Würdevoll steht die Kirche inmitten einer vom Wasser abgeschliffenen Felsenlandschaft. In einige dieser Felsformationen wurden Figuren hineininterpretiert, z.B. in einen spitz nach oben zulaufenden Felsen das Segel des Schiffes der heiligen Jungfrau. Die Menschen des Mittelalters waren für solche Fantasiebilder bestimmt empfänglicher als die von heute. Für mich ist er eben ein schöner Felsen.

In seinem Windschatten nehmen Anni und ich uns einen Moment miteinander, um uns von unserem Weg zu verabschieden. Was wir wirklich geleistet haben, wird uns vielleicht später irgendwann einmal bewusst. Was der Weg mit uns gemacht, ob er uns verändert hat, werden andere vielleicht eher feststellen als wir selbst. Ein Fazit werde ich mit etwas Abstand ziehen, auch auf diesem Blog.

Jetzt ändern wir die Himmelsrichtung. Von Westen drehen wir auf Osten. Sonne und Wind scheinen sich von uns in aller Form verabschieden zu wollen. Die Sonne strahlt und der Wind fegt uns fast von den Felsen. Schon gut, ihr Beiden, wir verschwinden ja schon. Wir fahren jetzt nach Hause.

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Mi

26

Jun

2013

Annika: Freiheit!!!

Von Fisterra nach Lires, 15 km

Die zweite Nacht in Folge schlafe ich wie ein Baby. Liegt das daran, dass ich langsam die "Ziel erreicht!"-Tiefenentspannungsphase erreicht habe. Oder an dem Wissen, quasi in einem Haus am Ozean zu schlafen? Oder an den tollen Betten? Oder daran, dass mir klar ist, dass unsere heutige Etappe mit 15 km nur kurz ist und wir uns deshalb nicht hetzen müssen? So oder so, der Wecker treibt mich um kurz vor acht hoch. Ich schaue in strahlend blauen Himmel. Die Sonne färbt Dünen und Strand bereits golden. Da steh ich gern auf!

Papa geht es etwas anders als mir. Sein Magen hat heute  Nacht wieder krampfhaft rebelliert und sein Erholungsgrad ist nicht besonders hoch. Und sein Bauch quält fleißig weiter. Vielleicht will sein Körper ihm sagen, dass es reicht und es an der Zeit ist für einen "echten" Ruhetag, ganz ohne wandern. Bald hast du es erstmal geschafft, du armer, geschundener Körper. Nur noch zweimal...

Als ich mit Sira unsere morgendliche Runde drehe, zeigt mir auch ihr geschundener Körper, dass es reicht. Sie plagt seit gestern morgendlicher Durchfall. Es wird Zeit für gleichbleibendes, regelmäßiges Futter und Erholung. Bald...

Jan kommt mir entgegen. Ich erwarte Compis, den Haushund an seiner Seite. Fehlanzeige! "Ich hab meinen Hund verloren." Für ihn wohl keine Besonderheit. "Der macht, was er will!" Compis ist eben genau wie unsere Sira ein Straßenkind. Sieht er etwas Spannendes, rennt er hin und interessiert sich nicht mehr für seine Menschen. Er kommt eben auch alleine klar, zumindest eine Weile. "Wenn der Hunger hat, kommt er heim." Nachmittags ist er wieder zu Hause. Sira ist also nicht der einzige Freigeist...

Nach einem kleinen Kellogs-Frühstück (Ok, das von gestern war um Klassen besser, aber das Budget...) verlassen wir mit leichtem Gepäck die Herberge. Da Jan uns heute Nachmittag in Lires abholen wird und wir eine zweite Nacht in unserem kleinen Paradies verbringen werden, können mein Rucksack und Papas Wheely hier bleiben.

Wir verlassen unsere Herberge über den Weg, den Jan uns beschrieben hat.

 Bald erreichen wir durch schmale Gassen San Martiño. Hunde und Katzen sind schon jetzt reichhaltig vertreten und ich bin froh, dass Sira zumindest die Letzteren oft nicht registriert oder nicht übermäßig darauf anspringt.

Immer weiter steigen wir terrassenförmig auf und sehen das Meer stets zu unserer Rechten. Es muss schon toll sein, hier dauerhaft zu wohnen! Oder sieht man die Schönheit des Meeres dann vielleicht gar nicht mehr?

Hinter Escaselas kommt Papa mit einer vorbeiziehenden deutschen Pilgerin ins Gespräch. Sie ist die einzige, die wir heute sehen, die in die gleiche Richtung läuft wie wir. Im Moment unseres Zusammentreffens ist sie sich unsicher, ob sie richtig gelaufen ist. Die Muschelkacheln sind hier nämlich nur noch selten richtungsweisend angebracht. Da das Teilstück Fisterra-Muxia in beide Richtungen begangen werden kann, zeigen die Muscheln nach oben oder unten. Das kann den geübten Pilger verwirren.

Im nächsten Ort, Hermedesuxo, schließt sie sich uns kurzerhand an und läuft den Rest des Tages mit uns mit.

An der nächsten Kreuzung haben wir die Wahl. Entweder den offiziellen, etwas kürzeren Jakobsweg oder die Küstenvariante. Keine Frage: Küste!

Über kleine Landstraßen erreichen wir Vilar. Kurzzeitig haben wir eine tolle Aussicht auf den Strand vor Castromiñan im Westen und den Strand von Fisterra im Südosten.

Durch weitere kleine Dörfer und über Landstraßen durch Wälder und Buschwerk kommen wir dem Meer immer näher. Bald nehmen wir den ersten Abzweig nach links auf eine unscheinbare Schotterpiste. Ich befürchte fast, dass wir hier bloß irgendwann abrupt an einer steilen Felsküste enden und umkehren müssen, als sich plötzlich hinter dem Gebüsch die Dünen auftun. Ein paar Schritte später erreichen wir den riesigen, extrem sauberen und einsamen Strand "Praia o rostro". Eineinhalb Kilometer feinster Sand und klares blaues Wasser liegen vor uns und kein Mensch, mit dem wir das teilen müssen. Ich überlege nicht lange. Klack! - und Siras Leine ist ab. Als sie endlich registriert, dass sie frei ist, gibt's kein Halten mehr. Sie wetzt rauf und runter, ans Wasser, in die Dünen und immer wieder zu uns zurück. Zu uns zurück? Ich bin ganz überrascht. Sonst hat sie uns doch in den seltenen freien Momenten ihres Lebens ganz selten eines Blickes gewürdigt. Jetzt WILL sie uns als ihr Rudel bei sich haben und es ist ein Genuss, ihr zuzusehen, während sie den Sand aufwirbelt, Löcher gräbt und Algen durch die Luft schleudert.

Als sie nach einer guten Viertelstunde alles gegeben hat, jede Feder und jede Möwe soweit wie möglich gejagt hat, erklärt sie selbst ihre wilde Phase für beendet. Sie gesellt sich zu uns und trottet ganz nah neben uns und zwischen uns her. Sie geht so gut bei Fuß wie sie es mit Leine noch nie getan hat.

Mir soll es recht sein, denn just in dem Moment tauchen in einiger Entfernung weitere Menschen am Strand auf. So romantisch sich das Ganze gerade angehört hat in Bezug auf Sira: Ich weiß auch, dass sie eine solche Begeisterung über ihre gewonnene Freiheit gern mit jedem teilen möchte. Ich weiß aber nicht, ob jeder Fremde es so spitze fänd, wenn ein überdrehtes Kalb von Hund ungebremst auf ihn zuläuft, an ihm hochspringen, das Gesicht ableckt und vor Freude und im Spielmodus herzhaft in den Arm beißt.

Klar, die Halter der top erzogenen Hunde sagen jetzt, dass der Hund sowas doch nicht darf und man ihm das abgewöhnen muss. Dem stimme ich voll zu. Wenn ich ihn an der Leine habe, kann ich das kontrollieren und gegebenenfalls eingreifen. Hier, in dieser ungewohnten Situation kann ich das nicht, also keine Frage: Der Hund kommt wieder an die Leine. Ihm ist das wurscht, die erste Luft ist eh raus.

Bei einer angeschwemmten Holzpalette auf halber Strandhöhe machen wir Pause. Zu uns stößt Gustav, ein Radpilger, der in der gleichen Unterkunft schläft wie wir. Bei unserer langen gemeinsamen Pause reden wir Vier über dies und das, während Sira sich im Sand zusammenrollt und die jüngsten Ereignisse Revue passieren lässt. Der Wind peitscht immer wieder einzelne Sandkörner gegen unsere Haut und in unsere Ohren, Augen und Münder. Trotzdem ist es einfach zu schön, hier zu sein. Die Kekse, die wir essen, knirschen so langsam zwischen den Zähnen und Sira sucht nach einem windgeschützten Plätzchen hinter Papa, um nicht völlig paniert zu werden.

Als wir wieder aufbrechen, sind wir wieder völlig allein am Strand. Also kriegt Sira noch einmal die Möglichkeit. Leine los und ordentlich herumrennen! Sie gibt noch einmal alles und lässt sich dann, völlig ausgepowert, artig ranpfeifen, als ich weitere Menschen entdecke und wir den Strand sowieso verlassen.

Hach ja, hätte man doch nur einen solchen einsamen Strand zu Hause in der Nähe, dann könnte man den Hund ewig frei laufen lassen. Leider ist das aber bei uns, immer in der Nähe von vielen jagbaren Wildtieren, gefährlichen Straßen, vielen Menschen und (Jagdhunden gegenüber nicht unbedingt freundlich gesinnten) Jägern ein unerfüllbarer Traum, zumindest beim jetzigen Erziehungsstand meines Hundes. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Vielleicht tobt meine Sira ja eines Tages so durch die Siegauen...

Wir verlassen den Strand auf eine kleine Straße, die uns steil bergauf führt. Bald geht es über schöne Waldwege und steinige Pfade zwischen Feldern entlang. Für eine kurze Zeit verlieren wir das Meer aus den Augen, nur um dann einen steinigen Weg abzusteigen, der uns wieder zum Wasser führt.

Bald stehen wir vor der Bar "Playa de Lires", oberhalb des Strandes. Papa, der sich immer noch still mit seinem rebellierenden Magen herumschlägt, ist froh, dass wir hier sind und entscheidet, dass hier heute für uns Feierabend angesagt ist. Er kann nicht mehr. Jan hatte uns angeboten, uns heute hier abzuholen und morgen wieder herzufahren und wir nehmen gerne an. Also warten wir hier zusammen mit unserer Mitpilgerin Gabi auf unser "Taxi".

Zu der Strandbar steht Interessantes in unserem Wanderführer: "Wenn es Ihnen [...] gelungen ist, sich vom Anblick des Meeres und/oder den schönen Augen von "Lolli" (Dolores, die schöne Tochter des Hauses) loszureißen, folgen Sie [...] dem Meeresarm immer weiter geradeaus [...]." Na, DAS wollen wir doch mal sehen. Kurz nachdem wir sitzen, kommt eine junge dunkelhaarige Frau mit tatsächlich feurigen dunklen Augen heraus, um unsere Bestellung aufzunehmen. Papa fragt sie bald, ob sie Dolores sei. Sie nickt erstaunt und er erklärt ihr bald, woher er das weiß. Sie freut sich verlegen über das Kompliment des Buchautors und ihre namentliche Erwähnung im Wanderführer. Tja, so schnell geht das! Hat der Papa mal wieder ein junges Mädel glücklich gemacht!

Bald verabschieden wir uns von Gabi und Jan fährt vor, um uns abzuholen. Er fährt quasi noch einmal die Wegstrecke mit uns ab und liefert uns dann vor der Haustür ab. Rosa empfängt uns und fragt, wie unser Tag war und ob wir Tee oder Ähnliches haben möchten. Papa und Sira möchten erstmal nur Ruhe. Sira macht noch nicht einmal Späßchen mit Compis. Sie schiebt sich an ihm vorbei und lässt sich gleich im Eingangsbereich auf den Teppich fallen. Ich überrede sie mit Mühe zu einem letzten Anstieg hoch in unser Dachzimmer, bevor sie für heute Feierabend hat. 

Nach einem Nickerchen geht es Papa wieder besser und er beginnt schonmal, so gut wie möglich, seine Sachen zu packen.

Sira liegt währenddessen in Compis Leihkörbchen und schläft. Ihre Beine, Mundwinkel und Ohren zucken. Sie träumt. Vielleicht läuft sie noch einmal in Gedanken ihren Strand ab.

Was für ein gelungener vorletzter Wandertag! 

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Di

25

Jun

2013

Reinhard: Am Ende der Welt

Von Fisterra zum Kap Finisterre, 10 km

Liebe Anverwandte, liebe Freunde, liebe Leser dieses Blogs, ich muss euch etwas beichten! Seit heute bin ich unter die Almosenempfänger gegangen. Doch dazu komme ich noch.

Mit dem herrlichen Gefühl, dass uns heute ein wunderschöner Ruhetag erwartet, schlafen wir zwei Stunden länger als normal. Als ich die Augen öffne, sehe ich über unsere Dachterrasse hinaus einen knallblauen Himmel, höre das Geschrei einzelner Möwen und den Meereswind, der ums Haus schlägt. Und wenn er gerade mal eine kurze Pause einlegt, meine ich sogar, die Brandung unten vom Strand zu vernehmen. Ich hüpfe übermäßig gut gelaunt aus dem Bett und würde im Badezimmer gerne laut singen oder flöten, lasse es aber, weil Anni noch schlummert - oder wenigstens so tut. Zehn Minuten später bin ich parat und gehe mit Sira raus, die mich etwas verdutzt ansieht und sich wohl fragt, warum ihr Frauchen zu diesem Zwecke nicht aus der Kiste kommt.

Draußen ist die Luft wie Samt und Seide und schon angenehm warm. Für mich würde das von den Temperaturen her reichen, aber die Sonne wird bestimmt noch einiges zulegen. Was haben wir wieder mal für ein Glück mit dem Wetter! Nahezu wochenlang hat es hier, am westlichsten Punkt Spaniens, geschüttet, berichtet uns Jan. Pilger und Touristen haben tagelang vor lauter Nebel und Regenwolken kaum das Meer gesehen, geschweige denn die Küstenberge der Umgebung. Kein Wunder, dass man den Küstenabschnitt dieser Region die "Todesküste" nennt. So manchem Schiff wurden bei solch einem Wetter die hiesigen schroffen und zerklüfteten Uferfelsen zum Verhängnis.

Sira vermisst bei ihrem Gassigang ihr Frauchen, erledigt schnell ihre Geschäfte und zieht mich zurück ins Haus. Anni ist inzwischen auch aufgestanden, für Sira ist ihre Welt wieder in Ordnung. Rosa fragt, ob sie uns das Frühstück aufs Zimmer bringen könne. Zimmerservice sozusagen. Ich lehne natürlich nicht ab und eine Viertelstunde später bringen uns unsere Gastgeber ein typisch deutsches Frühstück auf unser Schlafgemach. Wenn der Lebenspartner Deutscher ist, weiß eine Spanierin, was ihren deutschen Gästen zum Frühstück schmeckt. Pappesatt beginnen wir danach mit der Gestaltung unseres Ruhetages.

Jan hatte uns gestern bereits den Tipp gegeben: "Wenn ihr zum Kap wollt, geht nicht den langweiligen Weg über die, sich bergauf lang hinziehende Landstraße, auch wenn der Camino offiziell dort entlangführt. Geht lieber ..." Dann zeigt er uns auf einer Karte den Weg über die höchste Erhebung der Kap-Halbinsel, beschreibt ihn als landschaftlich äußerst reizvoll und aussichtsreich. "Ihr nähert euch von oben dem Leuchtturm am Kap und der Blick über ihn hinweg aufs offene Meer ist einmalig". Wir glauben ihm gerne, packen nur das Nötigste in meinen kleinen Rucksack und nehmen dann seine Empfehlung unter die Füße.

Wie einfach ist es doch, steile und steinige Anstiege ohne Wheely zu schaffen. Trotz der immer mehr aufkommenden Hitze ziehen wir zügig den Berg hinauf. Der Schatten von Hohlwegen und Kiefernwäldern sorgt dafür, dass ich nicht einmal ins Schwitzen gerate. Mit jedem geschafften Höhenmeter wird die Aussicht spektakulärer und oben bei der ehemaligen Erimitage San Guillermo gerate ich heute das erste Mal ins Schwärmen. Ich sehe unter mir den Strand "vor unserer Haustür", den Playa Mar de Fora, ich sehe die Häuser von Fisterra, die langgezogene Strandsichel von A Langosteira, über die wir uns gestern Fisterra genähert haben, weiter hinten den Strand von Cee, wo wir vorgestern unsere leckeren Fischmahlzeiten verzehrten, und weiter herüber immer wieder andere ruhige Sandflächen und zerklüftete Felsabschnitte dieser wohl besonders beeindruckenden Küste der Iberischen Halbinsel.

Von der ehemaligen Erimitage San Guillermo ziehen wir weiter auf die nächste Aussichtsanhöhe, erklimmen noch zusätzlich einige Granitfelsen und kommen wieder aus dem Staunen nicht heraus. Wir sind jetzt noch höher, bekommen nun sogar einen Überblick über den Wegverlauf Richtung Muxia. Wir sehen Fischerboote wie kleine Nussschalen auf dem Meer liegen und weiße Schaumkronen auf dem Wasser tanzen. Nur Richtung Westen reicht der Blick noch nicht allzuweit, dorthin, wo hinter einem Kiefernwald der Weg zum Kap und dem Leuchtturm abfällt. Als ich vom höchsten Felsen aus mit meiner Fotokamera ein Rundum-Video versuche, bläst mich der Wind fast runter.

"Jetzt aber endlich zum Kap!", mahnt Anni. Recht hat sie! Seit 24 Stunden sind wir so nah dran. Fast eilig marschieren wir unsere letzten zwei Kilometer in Richtung Westen. Nach dem kleinen Wald und hinter einer Wegebiegung sehen wir es dann unter uns: Kap Finisterre mit seinem Leuchtturm. Und hinter beidem nur noch grenzenloses weites Meer.

In vorchristlicher Zeit wurde das westlichste Kap Galiciens fälschlicherweise als der westlichste Punkt des europäischen Festlandes und somit ebenso irrtümlich als das Ende der Welt betrachtet, worauf auch dessen Name hinweist. Verschiedene Quellen vermuten, dass der Ort daher schon zur Zeit der Kelten einen bekannten Pilgerort darstellte, dem auch im Zuge der Pilgerreise nach Santiago später eine mehr oder weniger große Bedeutung zukam.

Von der kleinen Straße aus, auf der wir den Berg hinunterkommen, sehen wir auf der unter uns liegenden Landstraße, die zum Leuchtturm führt, andere Pilger entlangziehen. Für die allermeisten von ihnen wird ihr langer Weg, sei es zu Fuß oder mit dem Rad, nach wenigen Metern nun endgültig zu Ende sein. Im Moment, als wir auf die Landstraße treffen, fährt ein älteres Ehepaar mit einem angestrengten, aber auch glücklichen Lächeln nebeneinander an uns vorbei. 50 Meter weiter geben sie sich die Hand und fahren so gemeinsam über eine imaginäre "Ziellinie". Dann steigen sie ab, fallen sich in die Arme und küssen sich überschwänglich. Wie ich später erfahre, sind sie Holländer, sind zu Hause gestartet und jetzt, nach 6 Wochen, an ihrem Ziel angekommen.

Auch für Anni und mich ist es nochmal ein sehr emotionaler Moment, als wir hinter dem Leuchtturm stehen, vor uns nur noch steil abfallende Felsen, dann Wasser, Wasser, Wasser ... Wir halten uns im Arm und keiner von uns beiden bleibt unberührt. Ich glaube keiner, der diesen Weg nicht gemacht hat, kann sich in dem Moment in uns hineinversetzen. Dieser Moment gehört nur uns.

Ein Ritual steht noch aus. Nach alter Sitte verbrennen Pilger hier unterhalb des Leuchtturms ein von der langen Pilgerreise verschlissenes Kleidungsstück oder Schuhe. Wir opfern unsere Wandersocken, d.h. wir "opfern" sie eigentlich nicht, sehen sie doch sowieso mittlerweile aus wie ein Schweizer Käse. Und noch genauer gesagt, bei Anni ist es noch das erste Paar (ein Lob an die Hersteller!), bei mir schon das vierte.

Mit Geduld, aber auch mit Mühe, bekommt Anni unsere Opfergaben, trotz des anhaltenden Windes, in Brand gesteckt, sodass sie wirklich zu einem kleinen Aschehaufen zerfallen. Andere bekommen das nicht so gut hin. An manchen Stellen in den Felsen liegen nur angekokelte Textilien, stehen einsame Schuhe auf den Felsen oder stecken Wanderstäbe zwischen Steinen fest.Auch wenn dieser Hang teilweise aussieht wie eine kleine Müllhalde und so mancher Tourist sich über diese "Umweltverschmutzung" aufregen mag, so gehört er doch zum Jakobsweg wie das Gebet in der Kathedrale von Santiago.

Wir schauen noch eine Weile hinaus aufs Meer, drehen uns dann um und gehen zum ersten Mal wieder bewusst nach Osten, auf der Landstraße zurück nach Fisterra. Auf den genauso traditionellen Sonnenuntergang hier warten wir nicht. Den hatten wir in vollendeter Schönheit bereits gestern Abend.

Zurück in Fisterra müssen dringend mal wieder Lebensmittel eingekauft werden. Während Anni in den Supermarkt geht, setze ich mich mit Sira davor auf den Boden, hole noch die Wasserschale aus meinem Rucksack und fülle Wasser ein. Dem Hund soll es ja an nichts mangeln. Dann kommt der Moment: Eine junge Frau geht hinter meinem Rücken aus dem Laden, sieht mich Bettler (mit Hund) auf dem Boden sitzen, zückt ihre Geldbörse - und wirft 50 Cent in Siras Wasserschale. Ich bin so verblüfft, dass ich überhaupt nicht reagiere und das Missverständnis aufkläre. So starte ich also eine neue Karriere, ein Anfang ist gemacht.

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Mo

24

Jun

2013

Annika: Böse böse Sonne!

Von Estorde nach Fisterra, 11 km

Wie beschreibt man den Tag, an dem man fast bis ans Ende der Welt gelaufen ist? Wie erzählt man, dass man sich, dem alten Brauch folgend, im klirrend kalten Meer gewaschen hat? Wie gibt man den Leuten ein Gefühl davon, wie sich der Sand, auf den man seit 3000 km zuläuft, zwischen den Zehen anfühlt? Wie sorgt man dafür, dass die Leute die fangfrische Paella, die wir uns als Festtagsmenü gegönnt haben, praktisch schmecken können? Am Besten, indem man der Reihe nach erzählt.

Der Wecker klingelt heute zur Feier des Tages erst um sieben. Um zehn vor sieben sagt meine innere Uhr mir bereits, dass ich verschlafen habe. Ich werde wach und kann nicht mehr einschlafen. Na toll. Dann kann ich auch aufstehen...

Wie immer, wenn wir im Zelt schlafen, gilt meine erste morgendliche Aufmerksamkeit meinem Hund. Sira wird ausgeführt, noch bevor ich überhaupt zur Toilette war oder mir die Zähne geputzt hab. Frei nach dem Motto: "Man pupst sich nicht auf's eigene Kopfkissen", will ich sie gar nicht erst in Versuchung bringen, also raus an die Straße.

Als wir aus dem baumbeschatteten Campingplatz hinaus ins "Freie" treten, trifft Sira bald der Schlag. Eine dicke, niedrige, weiße Scheibe von Restvollmond klebt am Himmel. Sie macht sich bald ins Fell. Zitternd sackt sie auf den Boden und an irgendwelche Toilettengeschäfte ist nicht mehr zu denken. Mühsam versuche ich sie in Gegenden zu bugsieren, in denen sie den Mond nicht sieht, hinter Häuser oder Hecken, aber meine Sira weiß genau, wo sich der Feind befindet und flüchtet, so gut und so schnell sie kann, Richtung Campingplatz. Sie bewegt sich, als wäre der gemeinste, brutalste und gruseligst aussehende Mensch mit Knüppel hinter ihr her und wollte sie verdreschen. Am Zelt angekommen, schicke ich sie in Schutzhaft in die Apsis. Das Zittern lässt langsam, aber nur ganz langsam nach.

Kurze Zeit später lauert auch schon der nächste Feind: Die Sonne geht über dem Berg auf und verbreitet herrliche Morgenstimmung. Sira gruselt sich. Zum Frühstück kommt Sira mit ins Zelt, damit sie sich beruhigt. Kurze Zeit später ist das Spektakel vorbei. Die Sonne steht klar und deutlich am Himmel. Kein Thema mehr für meinen Hund.

Ein letztes Mal packen wir routiniert das Zelt und unsere Siebensachen zusammen und verlassen den Campingplatz. Bis zum Fischerörtchen Sardiñeiro laufen wir an der wenig befahrenen Landstraße entlang, zu unserer Linken immer wieder herrliche Blicke auf das Meer in all seiner Pracht.

Im Ort teilt sich der Weg. Man kann wählen zwischen dem Ortsweg und dem Höhenweg. Ganz klar: Höhenweg! Nach der ersten steilen Plackerei über steinige Pfade werden wir mit grandiosen Ausblicken belohnt. Nach einer Weile auf abenteuerlichen, farnbewachsenen Wegen sehen wir Fisterra unter uns am Meer liegen, davor seinen wunderschönen, gut zwei Kilometer langen feinen Sandstrand.

Als wir ihn tatsächlich erreichen, packt mich irgendwie eine komische Stimmung. 3000 km. Wir sind ganz kurz vorm Ende unserer Reise. Lange stelle ich mir vor, wie es sich anfühlen wird, seine Füße nach dieser langen Zeit aus den stickigen Schuhen zu befreien und in den herrlichen körnigen Sand zu stecken. Ich tu es! Schuhe aus, Socken aus, hmmmmm. Herrlich! Ich liebe Sandstrände.

Wie es der Brauch will (und weil ich schließlich am Meer bin), ziehe ich Wanderhose und Shirt gleich mit aus, um ins Wasser zu gehen und mich zu reinigen. Naja, das ist wohl mehr was Symbolisches. Um mich zu reinigen, brauche ich schon warmes Wasser und Duschgel. Aber fürs erste soll es reichen. Nach kleiner Tobeeinheit mit Sira am Strand, wage ich mich ins kühle Nass. Meine Herren, das ist so kalt, dass ich Kopfschmerzen davon kriege! Trotzdem wage ich mich wenigstens kurz komplett ins Wasser (MIT Untertauchen!), bevor ich klappernd wieder raushüpfe.

So, und jetzt schön den Rucksack auf den halbnackten und nassen Körper. Aua aua! Wie machen das denn bitte schön diese Nacktwanderer? Das zwickt und zwackt mir ja jetzt schon überall. Wie soll das denn mit noch weniger Kleidung sein? Als wir nach einer halben Stunde am Ende des Strandes angekommen sind, bin ich froh, dass wir Pause machen und ich mich wieder anziehen kann. Der Wind und die Sonne haben mich gnädigerweise inzwischen einigermaßen trocknen lassen.

 Nach der Pause laufen wir endlich ein in Fisterra, der Stadt am Ende der Welt. Als wir den zentralen Punkt der Stadt erreichen, an dem die Cafés sind, die öffentliche Pilgerherberge ihren Platz hat und die Busse ankommen, treffen wir gleich Hinz und Kunz. Ricarda begrüßt uns, ebenso diverse andere Mitpilger, die man unterwegs getroffen hat, und Heidi, die Hospitalera, die wir eine gute Woche zuvor kennen gelernt haben.

Mehrere Leute quatschen uns an, um uns Unterkünfte anzubieten, aber wir haben vorreserviert. Nicht ganz billig soll es sein, dafür aber bei einem Deutschen, der am Telefon sympathisch klang und mit dem ich keine bösen Überraschungen mit Siras Schlaflösung zu erwarten habe. Das lassen wir nicht sausen!

 Nach einigem Umherirren und Suchen finden wir unsere schöne familiäre Herberge "Casa El Camino", wo uns Hospitalero Jan, seine spanische Frau Rosa und ihr freundlicher Rüde Compis erwarten. Die Pension liegt etwas außerhalb, nah am "hinteren", untouristischen und etwas alternativen Strand, mit wundervollen Aussichten. Das ist genau das Richtige für unseren morgigen Ruhetag! Ein gelungener Abschluss unserer Reise.

Nachdem wir unser Gepäck abgeworfen und unsere Wäsche zum Waschen abliefern durften und uns "warm welcome"-Brote haben schmecken lassen, machen wir uns noch einmal auf den Weg in den Ort.

 Wir haben uns entschieden, uns den Gang zum Kap Finisterre, zum letzten Zipfel, für unseren morgigen Ruhetag aufzusparen. Einkaufen können wir auch nichts, denn es ist San Xuan, ein Feiertag. Na toll, Sira braucht doch dringend Futter! Rosa hilft aus: Sira wird heute von Compis zum Essen eingeladen. Danke, Compis, danke Rosa!

Wir schlendern in den Ort, an den Hafen und sehen den Fischern beim Entladen ihrer Kähne zu. Unzählige Möwen kreisen gierig über ihnen, um den einen oder anderen eventuell aussortierten Fisch zu ergattern.

So langsam meldet sich auch unser Magen. Da wir schließlich am Meer sind, entscheiden wir uns spontan für ein Abendessen am Hafen. Paella, Brot, Getränk und Nachtisch für 7€, da kann man nicht meckern... Und all diese leckeren Meeresbewohner! Krabben, Riesenkrabben, Tintenfischchen, Jakobsmuscheln, andere Muscheln... Mjamjam. Nur doof, dass ich Banause nicht so genau weiß, wie man das alles isst... Papa ist da auch nicht viel erfahrener und so wird das Ganze, bei mir zumindest, zu einer ganz schönen Sauerei. Aber einer leckeren!

Bald machen wir uns zurück auf den Weg in unsere Unterkunft, wo wir ziemlich ausgedehnte Schwätzchen mit unseren Gastgebern führen, während die Hunde miteinander spielen.

Abends brechen wir noch einmal auf. Wir wollen den Sonnenuntergang am Strand sehen! An "unserem" Strand, dem "Praia de Mar de Fora" streifen wir erst entlang, sehen den Surfern auf dem Wasser zu und Sira, die neue Hundebekanntschaften schließt. Eine Handvoll Menschen sitzt vereinzelt am Strand oder in den Dünen, vermutlich Urlauber. Andere scheinen länger hier zu sein. In den Dünen stehen Zelte. Vermutlich wohnen die wettergegerbten Leute, die drumherum jonglieren, meditieren oder Gitarre spielen, darin, zumindest an den schönen Tagen.

 Am Ende des Strandes laufen wir über Bretterwege hinauf auf die Dünen zu einer Aussichtsplattform. Circa eine halbe Stunde lang schauen wir dem Sonnenuntergang zu und sind ergriffen von seiner Schönheit und diesem sehr gelungenen Teil des Abschieds. Kurz bevor die Sonnenscheibe ganz am Horizont verschwindet, nimmt Sira erst Notiz von ihr. Der Tag endet, wie er begonnen hat: Böse, böse Sonne!

Es ist schön am Ende der Welt!

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So

23

Jun

2013

Reinhard: Meer in Sicht!

Von Olveiroa nach Estorde, 25 km

Während ich hier schreibe, baut Anni zehn Meter von mir das Zelt auf. Sira liegt im Halbschatten an einer Kiefer angebunden und genießt den Feierabend. Das heißt, von Abend kann noch keine Rede sein, es ist gerade mal 16 Uhr vorbei. Unsere Ausrüstung liegt malerisch auf der Wiese verteilt, der Wheely sieht auch aus als würde er sich ausruhen und die Schlafsäcke liegen zum Lüften aus. In ihnen steckt noch ein wenig der Muff von der Albergue in Vilaserío.

Anni hat Spaß daran gefunden, das Zelt alleine aufzustellen und einzurichten. "Fang du ruhig schon mit deinem Blogbericht an!", sagt sie. Na, mir soll es doch Recht sein.

Anni bereitet uns heute morgen in der kleinen Küche der Herberge in Olveiroa unseren immer wieder gerne gegessenen Bananen-Porridge, während ich mich anschließend der Zubereitung von Kaffee und Tee widme. Dazu gehe ich aber nicht in die Küche, sondern hänge einen Teebeutel in Annis Tasse, in meine kommt ein Tütchen Instantkaffee und etwas Zucker und in beide Tassen obendrauf nicht gerade sehr heißes Wasser aus dem Kran im Badezimmer. Fertig! Geld kann man dafür nicht verlangen, aber der pappige Porridge wird damit ganz gut runtergespült.

Um 8 Uhr sind wir mal wieder fast die Letzten, die losziehen. Vom Wetter hatte ich mir für heute etwas mehr versprochen, Sonne zum Beispiel. Aber es sind nicht die tiefhängenden Regenwolken, die den Himmel bedecken, sondern es scheint eher Hochnebel zu sein, der sich vielleicht bald auflöst. Und der recht ordentliche Wind, der uns in die Jacken fährt, hilft wahrscheinlich noch dabei, den Himmel freizupusten.

Schon bald nach dem Ortsende von Olveiroa gehen wir auf einem schönen Höhenweg oberhalb des beeindruckenden Flusses Xallas bis Hospital de Logoso, wo es im Mittelalter mal ein Pilgerhospital gab. Heute bietet eine Bar den Pilgern ihre Dienste an. Für uns ist es für eine Rast aber noch zu früh, obwohl ein Schild warnt: "Last drinks for the next 15 kilometers!" Aber was soll's! Mit Sira dürfen wir nicht in die Bar, zum Draußensitzen ist es noch zu ungemütlich und außerdem stört mich - die benachbarte Hochofenfabrik! Ja, richtig gelesen: HOCHOFENFABRIK! Was macht in dieser schönen galicischen Landschaft, umgeben von Wiesen, Feldern, Bergen und Wäldern, eine HOCHOFENFABRIK? Fast bedrohlich groß und schwarz steht sie da und schickt stinkenden Ruß in den Himmel. Mich erinnert das an Duisburg oder Essen zu tiefsten Ruhrpottzeiten.

Unmittelbar hinter diesem Ungetüm haben wir die theoretische Wahl zwischen "Linksrum" nach Finisterre oder "Rechtsrum" nach Muxia. Zu beiden Zielen sind es noch ca. 30 Kilometer. Wir hatten uns schon zu Hause entschieden: Für uns gibt es kein Entweder - Oder, sondern ein Sowohl - Als auch. Erst gehen wir nach Finisterre und dann auch noch nach Muxia. Also "Linksrum"!

Schnell finden wir uns auf einem nächsten Höhenweg wieder. Weit gehen jetzt unsere Blicke über die Berge der hiesigen Küstenregion. Der Camino Finisterre führt durch eine herrliche Heide-, Stechginster- und Strauchlandschaft. Und das Beste: Der Hochnebel hat verloren. Die Sonne löst immer mehr Wolken auf und es wird wärmer. Gerade rechtzeitig für eine kurze Rast an der Erimitage A Nosa Señora des Neves. Da der Wind noch etwas kühl ist, suchen wir Schutz in einem Winkel der kleinen Kapelle und sehen einige wenige andere Pilger vorüberziehen. Was uns jetzt fehlt, ist etwas zu Essen. Rucksack bzw. Wheely geben nichts mehr her, noch nichtmal Kekse oder Schokolade. Anni und ich stellen fest, dass Essen sowieso vollkommen überbewertet wird und spekulieren auf den nächsten Halt in Cee, der nächsten Kleinstadt unten an der Küste.

Zwei Kilometer später ein besonderer Moment: Ich meine, jenseits eines Taleinschnitts im Dunst das Meer zu sehen. Anni mag es nicht so ganz glauben. Jetzt sehe ich einen weißen Fleck in dieser undefinierbaren grauen Masse, die keinen klaren Horizont zu erkennen gibt. Ich nehme den weißen Punkt ins Tele meiner Fotokamera - und tatsächlich! Ich erkenne ein Segelboot. Wir sehen zum ersten Mal das Meer.

Von der Höhe O Cruceiro da Armada können wir dann sogar zum ersten Mal am Horizont das Kap Finisterre mit seinem Leuchtturm erkennen, etwas weiter rechts auf Meereshöhe den Ort Fisterra. Morgen werden wir dort sein.

Von der Höhe geht es steil und sehr steinig hinab in die Bucht von Cee. Der Himmel ist mittlerweile strahlend blau und damit auch das Meer. Bald sehen wir die Häuser von Cee und Corcubión, die sich um die Bucht herum an die Berghänge schmiegen. Weiße Badestrände und ein Hafen mit kleinen Sportbooten machen das Bild perfekt. Für einen Moment ist sogar der Hunger vergessen.

Aber nur für einen Moment! Als wir in Cee einlaufen, suchen unsere Blicke einzig und allein eine passende Gelegenheit zur Nahrungsaufnahme. Nachdem wir zwei Bars links liegengelassen haben - das Auge isst schließlich auch mit -, werden wir mitten in einer Grünanlage am Strand fündig. Was auf die Entfernung aussieht wie ein etwas größeres Klohäuschen, ist sowas wie eine gehobene Frittenbude. Schon die auf einer Tafel angeschriebenen Tagesgerichte führen bei uns beiden zu überhöhtem Speichelfluss: Backfisch bzw. Tintenfischringe mit Fritten und Salat zu jeweils 4,50€. Dat isset!!! Wir bestellen und bekommen eine Viertelstunde später eines der besten Essen der letzten vier Monate serviert, alles frisch angerichtet. Wir genießen es und befürchten nur, mit unseren vollen Mägen den letzten Berg nicht mehr hochzukommen.

Die Befürchtung ist aber unbegründet. Das Wetter, der Blick aufs Meer, die Hoffnung auf eine schöne letzte Zeltübernachtung in der nächsten Bucht, all das trägt uns praktisch über den Berg hinüber nach Estorde zum Campingplatz Ruta Finisterre.

Inzwischen steht das Zelt wie eine Eins. Zeit also, dem Strand einen Besuch abzustatten. Es ist kein Badestrand wie z.B. an der Costa del Sol, sondern eher das, was man unter einem Naturstrand versteht: Felsen und Sand natürlich, aber auch Seetang, Strandgut und schlicht auch Müll. Einige Badefreudige tummeln sich mutig im noch nicht so warmen Wasser oder räkeln sich in der Sonne. Während ich mich auf einem Felsen niederlasse, lässt es sich Anni nicht nehmen, mit ihrem Hund herumzutollen. Sira jagt den Stöckchen oder den Kiefernzapfen nach, die Anni wegwirft, vermeidet es aber tunlichst, auf Annis Versuche hereinzufallen, sie ins Wasser zu locken. Dieser Hund macht wirklich nicht den Eindruck, heute bereits 25 Kilometer gelaufen zu sein, geschweige denn fast 3000 Kilometer insgesamt. Sira, wir sind stolz auf dich!

Jetzt beginnt bald unsere letzte Nacht im Zelt. Schade eigentlich!

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Sa

22

Jun

2013

Annika: Ursprünglichkeit

Von Vilaserio nach Olveiroa, 22 km

Als ich morgens mit Sira rausgehe, ziehe ich den Reißverschluss meiner Fleecejacke noch etwas höher und schüttle mich. Es ist ungemütlich! Dicker Nebel hängt über den Feldern, es ist kalt und leichter Sprühregen fällt. Ich freue mich gerade, dass ich gleich wieder rein kann ins verhältnismäßig Trockene und Warme, als ich auf der Wiese einen jungen Mann schlafen sehe. Es ist der Holländer, der gestern Abend noch mit zwei anderen Pilgern hier ankam. Eine dünne Isomatte, ein Schlafsack, sonst nichts. Er wird wach, reibt sich die Augen und grüßt mich. Jetzt erwarte ich eine Flucht ins Haus. Stattdessen packt er sein Buch aus und liest gemütlich in seinem Schlafsack. DAS nenne ich Naturverbundenheit! Ich schäme mich ein bisschen für unser Weicheiertum. Schönwetterzelter! Pah! Aber das Außergewöhnliche dabei ist ja, dass der junge Mann das Ganze tatsächlich genießt! Nun denn, jedem Tierchen sein Pläsierchen, jedem das Seine.

Ohne Frühstück ziehen wir los. Das ist eine Premiere. Wir können es noch so eilig haben, wir können schwer vom Wochenende überrascht werden, aber dass wir so gar nichts frühstücken, ist neu. Die Möglichkeiten sind uns irgendwie ausgegangen. Wie Papa schon gesagt hat: Hier herrscht nicht mehr die gewohnte Camino-Infrastruktur. Es passiert schon mal, dass man auf knappen 50 km nicht an Lebensmittelgeschäften vorbeikommt. Und eben auch mal acht Kilometer lang, dass man nicht an Bars vorbeikommt, in denen man frühstücken kann. So wie heute. Papa stellt die Entfernung mit Entsetzen fest und fühlt sich allein deshalb schon entsetzlich hungrig. Da kann man nur schnell laufen, umso früher erreicht man sein Frühstück.

Bei tropischen Wetterverhältnissen eilen wir unserem Frühstück entgegen. Der sprühende Nebel kitzelt auf der Haut, ist aber nie stark genug, als dass sich heute das Regencape lohnen würde. Es ist so warm, dass ich unter meinem Fleece nicht viel trockener bin als obendrauf.

Einen Großteil unseres Tages halten wir uns heute auf wenig bis gar nicht befahrenem Asphalt auf. Wir laufen durch das menschenleere Cornado. Es ist Samstagmorgen. Noch nicht einmal die Katzen scheinen wach zu sein.

Wer allerdings schon wach ist, sind die zwei Kaninchen, die kurz hinter dem Dorf gemütlich auf dem Feldweg sitzen. Sie lassen sich von Sira fast genausowenig beeindrucken wie die Dorfkatzen, die uns seit Wochen das Leben schwer machen. Aber inzwischen sind die Schwielen an meinen Händen so dick, dass es schon fast gar nicht mehr wehtut, gegen den Hund anzukämpfen.

Die putzigen Häschen, die langsam ins Gebüsch schlendern, zeigen sich von uns ebenso wenig beeindruckt, wie von den Schüssen, die Jäger heute Morgen regelmäßig und nicht allzu weit entfernt abfeuern. Uns beeindruckt das schon mehr. Wir fragen uns, wann uns wohl jemand den Weg versperrt und uns wegen Jagdtreiben in den Wäldern zurückschickt. Wir bleiben verschont und dürfen unserem Weg folgen.

Vor As Maroñas wird die Wegstrecke tatsächlich irgendwie ungemütlich. Dicke Steine bestimmen den Untergrund, sind sogar fest darin verankert. Man muss seine Füße unnatürlich setzen und kann trotzdem nicht an ihnen vorbei treten. Die komische Fußhaltung strengt enorm an. Papas Kommentar: "Wenn der ganze Weg so gewesen wäre, wären wir heute noch in Burgos." Mein Gott, Burgos! Das ist ja schon Ewigkeiten her! Und ist trotzdem noch eine der Stationen, die bei Weitem nicht so lange zurückliegen wie andere. Wir sind wirklich schon lange unterwegs...

Als wir ein Feld passieren, bemerken wir einen großen Schwarm Vögel, der darauf herumstakst. Es sind Möwen. Das Meer kann wirklich nicht mehr weit sein.

Wie weit genau lässt sich aber nur sagen, wenn wir unseren Wanderführer zur Hand nehmen. Das war mal anders. Eigentlich stehen überall am Weg steinerne Säulen mit einer Jakobsmuschel-Fliese und einer, auf den Meter genauen Entfernungsangabe. Nur noch eine Handvoll dieser unzähligen Säulen ist komplett. Bei fast allen haben Souvenirjäger die Entfernungsangabe und oft auch die Muschelfliese herausgepult. Wer macht sowas?!? Da wir das seit über einhundert Kilometern beobachten, können es ja eigentlich nur Pilger sein. Ist es das, worum es hier geht? Souvenirs abgreifen, egal um welchen Preis? Hier hat man den Gedanken des Pilgerns wohl grundlegend missverstanden. Mich ärgert es.

In der Bar von Santa Mariña ist es dann endlich soweit: Frühstück! Wir setzen uns wie immer draußen vor die Bar. Die Hospitalera kommt raus, bleibt abrupt stehen, als ihr Blick auf Sira fällt und verliert jede Fassung. Man sieht ihr Todesangst an. Sie lächelt dankbar, als ich Sira auf die andere Seite des Tisches setze und am Halsband festhalte.

Als Papa drinnen bestellt, registriert er eine junge Pilgerin, die, auf ihren Arm gestützt, über ihrem Frühstück schläft. Krank? Noch gar nicht losgelaufen? Oder schon 30 km unterwegs? Als sie kurze Zeit später mit Rucksack aus der Bar kommt, erfahren wir es: Sie ist die Nacht über durchgelaufen. Nicht nur die Nacht, sondern auch den Tag davor. Heute will sie noch siebzehn Kilometer weit, also genauso weit wie wir. Hm. Nachts laufen ist ja schön und gut. Vor allem in einer besonderen Nacht wie der letzten, denn es war Sommersonnenwende. Aber dann kann man doch tagsüber schlafen. Man muss es ja nicht übertreiben. Sie sieht nicht glücklich aus. Trotzdem zieht sie weiter.

Während wir uns unsere Tostadas con Mantequilla, Marmelada y Té (getoastetes Baguette mit Butter, Marmelade und Tee) zu Gemüte führen, läuten plötzlich die Glocken der alten kleinen Kirche nebenan. Es ist 10.12 Uhr. Im vereinzelten Geläut lässt sich keine Regelmäßigkeit erkennen. Allerdings sehe ich, wie sich zwei dicke Drähte bewegen. "Papa, da zieht einer an der Strippe! Die haben hier 'nen Glöckner!" Papa geht um die Ecke und sieht tatsächlich den Mann, der hochkonzentriert und scheinbar doch in einer bestimmten Reihenfolge die Drähte der zwei Glocken zieht. Das hat sowas Ursprüngliches, dass es schon fast wieder romantisch ist.

Bald darauf laufen wir weiter. Das Wetter will sich nicht so recht bessern. Die hartnäckigen Wolken und der Nebel bleiben, der Nieselregen kommt und geht.

Trotzdem fällt die Etappe nicht besonders schwer. Die Steigungen sind angenehm, die Bodenbeschaffenheit auch, außerdem könnte es auch wesentlich schlimmer regnen.

Als wir eine Anhöhe am Monte Aro hinuntergehen, bleibt Papa stehen: "Anni, guck mal! Das wird doch nicht...?" Papa glaubt kurzfristig, das erste Stück vom Meer gesehen zu haben. In einiger Entfernung sieht man tatsächlich ein großes Gewässer. Nach dem ersten Überraschungsmoment ist aber klar: Falscher Alarm! Wir sehen lediglich einen Arm des Xallas-Stausees Encoro da Farvenza.

Wir laufen weiter durch Maisfelder, immer über kleine und kaum befahrene Landstraßen. Ein Trecker kommt auf uns zu und biegt in die Abzweigung ein, die wir auch nehmen müssen. Neben dem Trecker läuft begeistert ein kleiner wuscheliger Hund her, der so sehr damit beschäftigt ist, seine Beine nicht im Lauf zu verknoten, dass er Sira keines Blickes würdigt. Als wir die Hinteransicht des Treckers zu sehen bekommen, entdecken wir auf der Ladefläche eine jüngere und eine ältere Bäuerin mit Kopftuch. Auch hier wieder romantische Ursprünglichkeit und Klischeebild von spanischen Dörfern. Schön, wenn man es "echt" präsentiert kriegt.

Bald lässt die Sonne sich ab und an mal blicken und die Landschaft verändert sich. Felsen ragen heraus, Heidekraut und Stechginster bestimmen das Bild, ebenso wie die Fernblicke, unter anderem auf unser Etappenziel Olveiroa im Tal.

In Ponte Olveira laufen wir auf den Friedhof zu. Zig Autos stehen davor. Ist heute eine Beerdigung? Wenn ja, dann nehmen aber wirklich viele Leute Anteil... Die Menschenmassen, die kurz darauf aus der Kirche strömen, sind nicht beerdigungsgerecht gekleidet. Und sie sind zu gut gelaunt. Man grüßt uns fröhlich auf deutsch. Es war wohl einfach nur Gottesdienst. Mit so vielen Besuchern! Wahnsinn! Das schafft man bei uns höchstens mal an Weihnachten!

Bald erreichen wir Olveiroa und in der Nähe der kleinen Kirche unsere Herberge. Wir hören immer mal wieder eine Stimme aus einem Lautsprecher. Bald stellen wir fest: Es ist der Pastor. Auch hier ist gerade Gottesdienst und wir hören die gesamte Gemeinde durch den Lautsprecher ein Lied singen. Bald darauf strömen auch hier Heerscharen aus der Kirche und steuern auf das Restaurant zu, das an unsere Herberge angegliedert ist. Gut, dass wir schon eingecheckt haben!

Abends haben wir das Fenster geöffnet und die Nachtwanderin von heute Morgen sitzt vor der Bar, als ein Deutscher sie anquatscht. "Du bist also die Verrückte, die die Nacht durchgelaufen ist..." - "Wer hat dir das denn schon erzählt?" - "Auf dem Camino geht nichts verloren, weder Menschen, noch. Informationen!" Recht hat er!

Sie erzählt ihm das gleiche, was sie uns schon erzählt hat. Fast genau 24 Stunden ist sie gelaufen, 60 km, geschlafen hat sie 15 Minuten in einer Bushaltestelle und eine halbe Stunde über ihrem Frühstück (während sie kaute, übrigens).

Naja, jeder macht sich eben seinen eigenen Camino...

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Fr

21

Jun

2013

Reinhard: Herbergenvielfalt

Von Negreira nach Vilaserio, 14 km

In der Nacht schlafe ich beruhigter als in Santa Irene. Anni darf zwar wieder nicht mit Sira in die Herberge, aber darauf waren wir ja vorbereitet. Nur fungiert diesmal als Schlafsaalersatz keine enge, kalte und feuchte Pferdebox, sondern ein großer, wohltemperierter, nur etwas staubiger Lagerraum. Anni liegt auf einer Reservematratze der Herberge und Sira hat bei der Größe des Raumes sogar Platz zum Toben. Alles ist gut, ich mache mir keine Sorgen.

Beim Frühstück bleibt Sira sogar lieb alleine in dem Lagerraum, damit Frauchen etwas gemütlicher im Aufenthaltsraum zusammen mit ihrem Vater essen kann. Good girl!

Um 8 Uhr sind wir wieder am Start. Das Wetter ist nicht gerade ein Fest. Dicke Wolken hängen über Negreira und feiner Sprühregen sorgt dafür, dass es auf den Straßen nicht staubt. Als wir den Ort durchqueren, stöbern wir einige andere Pilger aus unserer und aus anderen Herbergen auf, die gerade in einer Bar ihr Frühstück beendet haben und nun auch bereit sind zum Aufbruch. Gemeinsam mit ihnen ziehen wir durch das mittelalterliche Stadttor und verlassen Negreira.

Recht bald finden wir uns auf einem schönen Waldweg wieder. Erneut sind es mächtige Eichen, Kiefern und Eukalyptusbäume, die den Wald, erst recht bei den dunklen Wolken, mystisch und geheimnisvoll wirken lassen. Regen rauscht auf die Blätter, aber die aus Leibeskräften singenden Vögel können selbst dieses Geräusch spielend übertönen. Mir gefällt diese Atmosphäre, nur der Schlamm, der sich mal wieder dank des Regens der letzten Tage auf den engen Pfaden und Hohlwegen gebildet hat, stört. Er erinnert mich an die Waldwege im Norden Frankreichs, wo wir manchmal im Modder versanken.

Vor uns tauchen auf einmal drei Mädchen in einem Hohlweg auf und kommen uns entgegen. Mit ihren Ponchos sehen sie aus wie kleine Waldwichtel. Sie sind in Begleitung eines niedlichen Hundes, der aufgeregt kläffend Sira entgegenspringt. Nach einem energischen Rückkläff, mit dem sie sich den nötigen Respekt verschaffen will, ist Sira schnell einigen Spieleinheiten nicht abgeneigt. Die Mädels nutzen ungefragt die Gelegenheit, uns über mögliche Übernachtungsmöglichkeiten mit Hund auf dem Weg nach Finisterre zu informieren. Natürlich sind wir ihnen für diese Auskünfte dankbar und machen uns Notizen. Dann wird der aufkeimenden Freundschaft zwischen Sira und dem kleinen Rüden jäh ein Ende gesetzt und jeder geht in seine Richtung weiter.

Die Hospitalera unserer Albergue in Negreira hatte uns für den Nachmittag besseres Wetter versprochen und sie soll recht behalten. Bereits mittags hört der Regen auf, die Wolken steigen die Berghänge hoch und bald schon tun sich für die Sonne erste Lücken auf. Damit steigen die Temperaturen, Waschküchenverhältnisse entwickeln sich. Ich frage Anni, ob sie überhaupt weiß, was man unter einer "Waschküche" früher verstanden hat. Sie weiß es nicht, gehört sie doch einer anderen Generation an. Ich erkläre es ihr und Erinnerungen aus meiner Kindheit steigen in mir auf.

Waschküchenverhältnisse sind das eine, wenn dann aber noch satte Aufstiege auf rumpeligen Pfaden dazukommen, wird es anstrengend. Nur ganz selten habe ich auf dem Camino Francés so geschwitzt wie an den letzten beiden Tagen. Dennoch gefällt mir der Camino Finisterre bisher. Er ist ruhiger, unaufgeregter, bedächtiger. Oder empfinde ich das nur so , weil die gewisse Hektik raus ist, viel weniger Pilger unterwegs und die Bars nur noch rar gesät sind? Oder ist die Spannung raus, das große Ziel bald zu erreichen, was einen selbst und das ganze Umfeld ruhiger sein lässt?

Unsere Rast an einer Bar fällt heute aus, wir kommen einfach an keiner vorbei. Als Ersatz zum Ausruhen dient uns, wie auf unserem langen Weg schon so einige Male, ein kleines Buswartehäuschen am Rand einer kleinen Landstraße. Nix Bocadillo, nix Tortilla, nix Café americano grande. Unsere Rucksackvorräte tendieren gegen Null. Ein paar fluffige Muffins, etwas Schokolade. Unsere Devise: Was man nicht an Vorräten im Rucksack hat, muss man auch nicht schleppen. Und ein bisschen Hungern hat noch keinem geschadet.

Nach einem weiteren letzten Aufstieg folgt netterweise auch ein kurzer Abstieg. Nach nur 14 Kilometern sind wir schon gegen 13 Uhr in Vilarios, unserem Tagesziel. In unserem eigentlich angedachten Ziel Santa Mariña ist unsere Schlafsituation mit Hund ungewiss und unser Bedarf an unliebsamen Überraschungen ist seit gestern gedeckt. Hier, in Vilaserio, sind wir recht sicher, in der Albergue municipal Unterschlupf zu finden. Sie soll laut Aussage unseres Wanderführers und der Hospitalera aus Negreira etwas in die Jahre und heruntergekommen sein. "Matratzen mit Gebrauchsspuren" und Schimmel an den Wänden - da kann man doch gegen einen Hund nichts haben! Wichtiger Pluspunkt: Übernachtungskosten auf Spendenbasis! Da darf es ruhig auch mal weniger komfortabel zugehen.

Tatsächlich riecht es etwas muffig in den Räumen der Herberge, die ehemals eine einklassige Schule war. Hoffentlich ist den Kindern damals der Schimmel erspart geblieben. Sie hatten keine andere Wahl. Anscheinend versucht man hier seit geraumer Zeit, die Verhältnisse zu verbessern. Türen und Fenster stehen zum Lüften sperrangelweit auf, neue Fenster sind mal eingesetzt und die Böden neu gefliest worden. Die Wände scheinen neu gestrichen zu sein, auch wenn die Farbe den Schimmel nicht immer übertünchen konnte. Als Betten dienen im Erdgeschoss, dort, wo früher Unterricht abgehalten wurde, Bodenmatten, die aussehen wie Turnmatten aus einer Sporthalle. Ein paar Decken liegen auf einem Tisch. Annis Neugierde treibt sie ins Obergeschoss, anscheinend die frühere Lehrerwohnung. Hier gibt es sogar kleine Zimmer mit alten Einzelbetten, allerdings ist hier oben die Luft noch etwas strenger als unten. Trotzdem nehmen wir die Herausforderung an und Anni und ich beziehen unsere Zimmer, richten uns häuslich ein und stellen uns vor, in einer schönen Appartment-Wohnung zu sein. Irgendwann fühlen wir uns sogar richtig wohl, zumindest erleichtert, dass es diesmal doch mit dem Hund geklappt hat. Da naht - wir sehen es aus dem Fenster - aus dem gegenüberliegenden Haus die Hospitalera. Schnappatmung! Komplimentiert sie uns jetzt wieder raus? Perro no? Kurz halte ich die Luft an, als sie mit Anni spricht. Dann höre ich aus ihren Worten raus, dass sie Sira akzeptiert. Danke, Jakobus!

Widererwartend bleiben wir nicht die einzigen Gäste. Keiner von ihnen hat ein Problem mit Sira. Die Sonne scheint warm, wir Pilger sitzen draußen vor dem alten Schulgebäude und genießen den schönen Abend. Alles ist gut.

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Do

20

Jun

2013

Annika: Es fällt schwer...

Von Santiago nach Negreira, 23 km

Wie schnell man sich doch gewöhnen kann... Nach einem Tag Ausschlafen fällt mir das frühe Aufstehen schon ganz schön schwer.

Nicht nur mir. Papa auch,  er  leidet unter Kopfschmerzen. Sira ist die einzige, die es gar nicht abwarten kann. Sie hat gestern eindeutig zu wenig Aktivität abbekommen. Sie springt an mir hoch, beißt in die Leine und dreht einfach nur ein bisschen durch. Als wollte sie uns sagen: "Könnt ihr nicht ein bisschen schneller machen? Ich will los!"

 Wir geben unser Bestes und stehen bald wieder vor der Kathedrale. Wir werfen einen letzten Blick auf unseren großen Höhepunkt und ziehen dann an ihm und dem Parador Santiago, der großen historischen Pilgerunterkunft vorbei, die inzwischen ein 5*-Luxushotel ist, und raus aus Santiago.

 Irgendwie ist man viel schneller raus  als man reingekommen ist. Bald laufen wir durch einen schönen verwilderten Park mit uralten dicken Laubbäumen. Wie viele Jahre suchen die Pilger hier wohl schon einen Moment der Ruhe und des Schattens, nachdem sie den Großstadttrubel hinter sich gelassen haben?

 Bald zeigt uns der weitere Wegeverlauf, dass er gar nicht einsieht, hinter Santiago so einfach und gemütlich dahinzuplätschern. Nein, er verlangt uns richtig etwas ab! Steil und steinig geht es auf Waldpfaden zwischen Eukalyptus auf und ab. Genau das Richtige für einen kopfschmerzgeplagten Mann mit Wheely und einer Frau mit Hund und einem Fuß, der bei jedem Schritt vor Schmerzen jault. Seit ich zu Beginn des spanischen Caminos neue Schuhe bekommen habe (derselbe Typ wie die Alten), quälen mich diese blöden Dinger. Eigentlich nur der Linke und der auch nur am Ballen. Und das auch nicht regelmäßig, sondern immer mal zwischendurch und dann aber wie die Hölle. Ein Gefühl, als wäre der gesamte Ballen ein einziger Krampf. Nicht schön! Bei der heutigen Buckelkiste gar nicht schön! Papa schnaubt unter der Last seines Wheelys. Hinzu kommen die steigenden Temperaturen, die uns ins Schwitzen bringen. Beide leiden wir stumm und kommen nur langsam voran. Das erste Mal, dass wir mehrfach auf dem Weg überholt werden. Man kann es ruhig sagen: Wir haben uns gequält. Kurzzeitig wünsche ich mir, Santiago wäre doch unser Finale gewesen und wir wären jetzt durch mit solchen Strapazen. So, Ruhe jetzt, genug gejammert!

Die Pilgerströme sind vorbei. Zeitgleich mit uns sind zwar ein paar Unentwegte aus Santiago ausgezogen, aber dann verläuft es sich schnell. Wir sehen nur selten welche. Siras Nase sagt uns allerdings, dass sie nicht besonders weit weg sein können.

 In Quintans ist es endlich Zeit für eine Rast. Wir steuern die örtliche Bar an. Zwei Pilger sitzen auf den Plastikstühlen davor. Wir kennen sie nicht. Man grüßt mit einem knappen Nicken. Wo ist es hin, das fröhlich geträllerte "Buen Camino!", das sich alle Pilger in den vergangenen Wochen andauernd zugerufen haben? Wo sind die immer wiederkehrenden Fragen zum Pilgern mit Hund und Wheely? Wo ist die klassenfahrtähnliche Grundstimmung? Weg! Vorbei! Hier geht's gediegener zu. Ruhiger. Irgendwie erwachsener. Ab und zu ist das auch mal schön. Aber den Gemeinschafts-Camino vermisst man schon .

 Nach Eis und Cola, einer Runde "Schuhe aus" für meine wehen Füße, einer Runde Aspirin für Papas Kopf und einem halben Eieromelette von der netten Frau vom Nachbartisch für Sira geht es weiter.

Wir ziehen an eingezäunten Gärten vorbei, an Weinspalieren und Wiesen, ich träume so vor mich hin, da macht Sira auf einmal einen Satz, dass es mir bald die Rippen prellt und die Luft wegbleibt. Eine Katze hat unmittelbar am Wegesrand gesessen und sich nun auf ein Weinspalier gerettet. Boah, da mischen sich Eis und Cola in meinem Bauch nochmal richtig durch und schäumen so richtig schön zusammen auf. Nach ein paar Mal Durchatmen können wir weitergehen.

Kleine Dörfer säumen unseren Weg. Ventosa, Augapesada und Carballo. Immer weiter werden wir steil bergauf und bergab gescheucht. Ab dem Alto do Mar de Ovellas geht es endlich nur noch bergab.

 In Trasmonte zieht sich der Himmel endgültig zu. Die ersten Tropfen erwischen uns kurz vor Ponte Maceira, wo wir sowieso rasten wollen. Bei der ersten und einzigen Bar mit Restaurant suchen wir Schutz. Wir versuchen es gar nicht erst drinnen, denn es ist schließlich ein Restaurant und wir sind  mit Hund unterwegs. Also rücken wir uns wie selbstverständlich den fast dichten Sonnenschirm zurecht, platzieren Hund und Gepäck so regengeschützt wie möglich und uns mit Poncho und Schirm irgendwie drumherum. Papa bestellt wie immer Getränke. Der Kellner lädt uns ein, doch auch drinnen zu sitzen, nur der Hund müsse draußen bleiben. Wir lehnen dankend ab. Nicht ohne Hund. Ich glaube, der junge Mann ist beeindruckt von unserer Hundesolidarität. Er stellt uns den zweiten Sonnenschirm irgendwie dazu und bringt uns vier Kroketten zum Probieren, für jeden zwei. Jaja, ich kann mir vorstellen, wie das läuft. Appetizer bringen und die Leute anfixen, dann bestellen die schon noch nach... Aber bei 'ner 0,2l-Cola für zwei Euro bleibt nicht noch wer weiß wie viel Geld übrig für sonstige Leckereien. Trotzdem zählen diese verdammten Dinger tatsächlich zu dem Leckersten, was ich je gegessen hab. Mit Hähnchen und irgend so einer Creme drin. Als wir unser Pröbchen verputzt haben und ich den Kellner für das Leckerchen lobe, ohne aber Neues zu bestellen, bringt er trotzdem nochmal die gleiche Portion, plus einer Schüssel mit gesalzenem Knabberkram. Wir müssen wirklich entweder mitleiderregend aussehen oder viel Eindruck machen! Als wir einsehen, dass das Wetter nicht unbedingt im absehbarer Zeit besser wird, beenden wir die Pause und ziehen durch den Regen und über die Landstraße nach Negreira.

 Wenigstens über die Unterkunft müssen wir uns keine Gedanken machen, da man uns doch versichert hat, dass es kein Problem werden würde, mit dem Hund in der Unterkunft zu schlafen. Vermutlich in Küche oder Aufenthaltsraum, aber Hauptsache drinnen bei dem Regen. Wir kommen an, finden die freundliche Herberge mit der freundlichen Hospitalera und einer großzügigen Wohnküche. Wir bezahlen, richten uns ein und in einem Nebensatz erwähnt die Frau: "Wir haben hier auch eine Katze, eine kleine, ganz niedliche, die wohnt da hinter dem Paravant." Super! Im gleichen Raum wie wir. Die ganze Nacht! Und den Nachmittag! Mal sehen, wie lang das gut geht. Es dauert circa eine halbe Stunde, Papa hat sich gerade häuslich eingerichtet, da fängt das Kätzchen das Singen an. Sira ist schon vorm ersten Blickkontakt aus dem Häuschen. Als sie sich dann sehen, ist alles vorbei. Das kleine Ding provoziert schon wie die ganz Großen und Sira haut bald den kompletten Anmelde-Schreibtisch um. Die Hospitalera steht verhältnismäßig unbeeindruckt daneben. Ich nicht. Denn so erholt sich hier heute Nacht niemand. Sira nicht. Ich nicht. Und alle anderen Pilger nebenan im Schlafsaal auch nicht.

 Die Entscheidung ist relativ schnell und einstimmig getroffen. Wir rufen im einzigen hundefreundlichen Hotel des Ortes an. Wir dürfen dort residieren. Papa wartet mit Sira draußen, als ich meine Sachen zusammenraffe und umgekehrt. Keinem müssen wir antun, dass Sira nochmal zurück geht ins Katzenhaus. Nachdem ich mir unseren bezahlten Herbergspreis zurückerkämpft habe, warte ich draußen, während Papa seine Sachen wieder einpackt. Ein junger Mann mit Pilgerrucksack und riesigem Schäferhund steuert auf die Herberge zu und Sira flippt schon auf hundert Meter Entfernung völlig aus. Der will auch hier schlafen! Na wie gut, dass wir abhauen! Wir verkrümeln uns in den nächsten Hauseingang. Auch als die zwei wieder vorbeikommen und der Mann uns ermutigt, den Konflikt doch zuzulassen, verfahren wir gleich. Das brauch ich jetzt nicht. Nicht hier in der Stadt, wo es eh schon stressig genug ist und man nicht ausweichen kann. Der junge Mann guckt mitleidig und geht weiter. Als er das dritte Mal vorbeikommt, lässt er mir kaum eine Wahl. Er WILL den Konflikt. Na gut, dann mal los. Er hält den Hintern seines lammfrommen Schäferhundes hin, damit Sira schnuppern kann. Die macht sich aber so ins Hemd, dass das kaum möglich ist. Er zeigt mir ein paar Kniffe, damit besser umzugehen. Endlich mal jemand, der da praktisch ist und nicht nur schlaue Sprüche übrig hat. Wir unterhalten uns und er gibt mir ein Bier aus. Dann ziehen Papa und ich weiter Richtung Hotel  und  freuen uns auf ein gemütliches Zimmer mit heißer Dusche, denn es regnet schon wieder und ist echt kalt.

 Beim Hotel läuft wieder mal alles anders als geplant. "Oh, nee, so ein großer Hund darf aber nicht mit ins Zimmer. Der kann in den Zwinger hinterm Haus zu den anderen Hunden." Mir wird schlecht. Tränen der Erschöpfung, Verzweiflung und Wut steigen mir in die Augen. Der Mann hat kein Erbarmen. "Aber ich hab doch extra angerufen!" - "Da wusste ich ja nicht, wie groß der Hund ist..." - "Aber sie ist ganz ruhig und lieb!" - "Aber zu groß. Zwinger oder tschüss!"

Gut, dann eben tschüss, du herzloser, gemeiner Mensch. Unsere letzte Hoffnung ist eine nahegelegene Herberge aus unserem Buch, die zwar ein Hundeverbotszeichen, dafür aber ein Pferdezeichen trägt. Wo ein Pferd schlafen kann, können wir auch schlafen, das haben wir schon bewiesen. Also hin!

 Als ich an der Rezeption stehe, dauert es nicht lange, bis meine Verzweiflungstränen erneut kullern, bevor die Frau überhaupt antworten kann. Sie hat ein Herz, macht für uns eine Ausnahme und wir können nebenan in einer Lagerhalle schlafen, während Papa in den Genuss der Zweisterne-Herberge kommt. Es ist trocken, nicht besonders kalt, Sira kann frei in  dem "Abenteuerspielplatz" herumlaufen und ich richte uns mit noch  eingeschweißten Matratzen ein gemütliches Plätzchen her. Ich bekomme Papas Schlafsack, Sira meinen direkt daneben und wir sind einfach glücklich. Zum Essen und Duschen lasse ich Sira kurzzeitig allein, was selten auf dieser Tour passiert ist, und wenn, dann nur in den letzten paar Tagen.

Ich hab das Gefühl, sie weiß auch hier so langsam, dass wir nicht ohne sie weggehen. Als ich nach dem Abendessen lauschend auf der Straße stehe, jammert sie nicht. Sie rennt nicht herum. Ich öffne die Tür, sie liegt auf meinem Schlafsack und schaut mich mit schiefem Kopf an, als würde sie noch ewig so warten, wenn ich ihr doch weiterhin alle einsamen Nächte im Zwinger erspare.

Das mache ich! Mein guter, guter Hund!

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Mi

19

Jun

2013

Reinhard: Santiago!!!

Von Santa Irene nach Santiago de Compostela, 24 km

Wir haben es tatsächlich geschafft! Nach 18 Wochen und fast 2900 Kilometern sind wir in Santiago de Compostela. Schon gestern Nachmittag standen wir vor der Kathedrale. Heute gönnen wir uns einen Tag Ruhe. Ab morgen begeben wir uns auf den "Nachschlag" über Kap Finisterre nach Muxia. Aber der Reihe nach!

 

Mir gefällt es nachts in Santa Irene überhaupt nicht, Anni und Sira in diesem feuchten Loch, was sich Pferdebox nennt, zu wissen. Ich hätte beiden gerne Gesellschaft geleistet, aber wenn ich mich dazu gelegt hätte, hätte einer von uns aus Platzmangel auf jeden Fall im Wasser gelegen. So schlafe ich etwas unruhig im Schlafsaal und treffe Anni am Morgen relativ wohlbehalten beim Packen vor der Pferdebox an. Um 8 Uhr sind wir wieder unterwegs.

 

Der Regen, der noch in der Nacht kräftig niederging, hat inzwischen einem klaren Himmel Platz gemacht. Aber das täuscht wohl. Für den Nachmittag und die kommende Nacht ist wieder Regen vorhergesagt. Angedacht hatten wir eine Zeltübernachtung auf dem Monte de Gozo, fünf Kilometer vor Santiago. Die Regenaussichten ändern unseren Plan. Wir beschließen durchzugehen, heute schon Santiago zu erreichen.

 

Viele Pilger, die wir heute treffen, haben ein Flackern in den Augen. Sie fiebern offensichtlich dem Ziel entgegen, freuen sich auf Santiago. Das macht ihre Schritte schneller, sie unterhalten sich lauter, lachen mehr als sonst. Die Pausen werden kürzer, sie wollen ankommen, endlich ankommen. Für manche Pilger wird es auch wirklich Zeit. Langsam nur noch setzen sie Schritt vor Schritt, die Augen blicken wie durch einen Tunnel zwei Meter vor die Füße auf den Boden. Einige tun mir wirklich leid.

 

Auch wir Drei haben nun einen zügigen Schritt drauf. Es sind nicht nur die nun doch immer mehr aufziehenden Wolken, die uns treiben. Es ist etwas anderes. Im Kopf bin ich noch gar nicht so weit. Ich kann mir nicht vorstellen, bald vor der Kathedrale zu stehen.

 

Dann geht es Schlag auf Schlag. Von einer Anhöhe hinter Amenal sehen wir auf die Landebahn des Flughafens von Santiago bei Labacolla, wo wir kurz danach eine Ryanair-Maschine in den Himmel steigen sehen. Wahrscheinlich ist sie u.a. voll mit Pilgern, die ein oder zwei Tage zuvor auf dem Kathedralenvorplatz standen und sich über das Ende ihrer Pilgerschaft freuten.

 

Für die Pilger des Mittelalters war Labacolla aus einem ganz anderen Grund wichtig. An einer Stelle am Ortsausgang, wo in einem kleinen Wald zwei kleine Bäche zusammenfließen, pflegten sie sich nochmals zu waschen, bevor sie dann feierlich in Santiago einzogen. Noch heute ist diese unauffällig gelegene, historische Waschstelle am Weg zu sehen. Als wir dort vorbeikommen, ist von sich waschenden Pilgern nichts zu sehen. Vielleicht wissen aber auch die heutigen Pilger eher als die früheren, dass es nochmal einen ordentlichen Hügel hinaufgeht, den Monte de Gozo. Was nützt das Waschen, wenn man doch wieder ins Schwitzen kommt!

 

Monte de Gozo heißt "Berg der Freude" und bezieht sich auf das große Glücksgefühl, das die Pilger damals erfüllte, als sie nach all den Strapazen und Gefahren endlich das ersehnte Pilgerziel Santiago de Compostela vor sich sahen. Mag sein, dass bei mir dieses Gefühl nicht aufkommt, weil man die damaligen Bedingungen nicht mit den heutigen vergleichen kann oder weil Baumanpflanzungen und Büsche kaum einen ungehinderten Blick auf Santiago zulassen. Vielleicht lenkt aber auch das gewaltige Denkmal, das an den Besuch von Papst Johannes Paul ll. erinnert, etwas ab. Ich jedenfalls möchte hier oben nur nochmal eine Rast machen, bevor es zum großen Finale auf dem Camino Francés kommt. Viele übernachten nochmal hier oben in der großen Herberge oder in den anderen zahlreichen Übernachtungsmöglichkeiten, um am nächsten Morgen erholt die letzten fünf Kilometer bis zur Kathedrale zurückzulegen. Sollen sie! Wir wollen jetzt noch runter.

 

Bei der kurzen Rast treffen wir noch Sylvia aus Bochum und gemeinsam geht es nun die wenig befahrene, aber von vielen Pilgern begangene kleine Straße steil nach Santiago hinunter. Bald merken wir, dass Santiago nicht nur das Ziel eines Pilgerweges oder eine ehemalige Kulturhauptstadt Europas ist, sondern zu allererst eine Großstadt. Der Autolärm nimmt zu, wir gehen durch Vorstädte und entlang stark befahrener Straßen, überqueren Kreisverkehre und Zebrastreifen an Fußgängerampeln. Aber anders als in anderen Großstädten zieht ein Lindwurm an Pilgern in die Stadt ein und jeder von ihnen weiß, dass er es gleich geschafft hat. Dann werden die Straßen schmaler, werden zu Gassen. Die Altstadt ist erreicht. Wir sehen einen ersten Turm der Kathedrale vor uns. Dann gehen wir durch ein großes Tor - und stehen auf dem Praza do Obradoiro, dem Hauptplatz vor der Kathedrale. Wir gehen bis ganz in seine Mitte, dann setzt Anni sich auf das Pflaster, Sira setzt sich daneben, nur ich bleibe stehen.

 

In diesem Moment ist jeder mit seinen Gedanken und Gefühlen allein - und das ist gut so. Irgendwann steht Anni auf und wir nehmen uns in den Arm. Irgendwann kommen dann andere Pilger, bekannte oder auch unbekannte Gesichter. Wir lachen miteinander, klopfen uns auf die Schultern, umarmen uns. Auch Sira bekommt reichlich Streicheleinheiten. Fotokameras und Handys kommen zum Einsatz, zum Abschied wird gewunken oder sich noch einmal in den Arm genommen. Es gibt sie wirklich, diese Art von großer Gemeinschaft auf dem Camino.

 

Auf dem Platz gibt es zwei Blickrichtungen, entweder in Richtung Kathedrale, dem magischen Ziel aller Pilger, oder in die Fotokameras. Die Fotos sind gemacht, die Kathedrale werden wir morgen aufsuchen, ohne Gepäck und in aller Ruhe. Wir müssen noch anderes erledigen.

 

Zunächst geht es zum nahegelegenen Pilgerbüro. Hier gibt es gegen Vorlage der Stempelpässe die lang erhoffte Pilgerurkunde Compostela. Eigentlich nur ein Stück Papier mit einer lateinischen Aufschrift, mit der wie seit hunderten von Jahren die zurückgelegte Pilgerschaft bestätigt wird. Für fast alle Pilger eine schöne Erinnerung, für mich auch. Nachdem wir sie (endlich!) im Besitz haben, drängen wir uns durch die bevölkerten Gassen nahe der Kathedrale und finden bald das Touristenbüro für Galicien, wo wir uns noch Material für den Weg nach Finisterre und Muxia abholen.

 

Jetzt brauchen wir "nur" noch eine Unterkunft. Anni regelt das hervorragend im Touristenbüro der Stadt Santiago. Eine Pension etwas außerhalb des Altstadtbereichs nimmt uns mit Sira auf. Ein Stein fällt uns vom Herzen und gegen 18 Uhr sind wir auf unserem kleinen, aber feinen Zimmer. Die richtige Unterkunft für unseren morgigen Ruhetag.

 

Der Ruhetag fängt an wie immer: Um 6 Uhr klingelt Annis Handywecker. Sie muss mit Sira raus. Ich merke nichts davon, schlafe weiter. Als Anni zurückkommt, legt sie sich wohlig grunzend wieder hin. Genauso hatte sie sich das am Abend vorher ausgemalt. Sira ist irritiert und fragt sich wohl, was los ist.

 

Als ich um 9 Uhr aufstehe, schlafen beide noch. Ruhetage sind schon was Feines! Wie noch am Abend zuvor verabredet, werden wir heute den ersten Teil des Tages getrennt verbringen. Ich möchte in die um 12 Uhr beginnende Pilgermesse in die Kathedrale, für Anni leider nicht möglich wegen Sira. Sie will dafür reichlich faulenzen, auch nicht schlecht für einen Ruhetag. Ich frühstücke leise und mach mich dann aus dem Staub. Eine halbe Stunde später stehe ich vor der Kathedrale, umrunde sie ein Mal und gehe dann hinein. Pilger und Touristen bevölkern sie jetzt schon in Mengen. Viele der Pilger sind wohl gerade erst vom Monte de Gozo herunter gekommen.

 

Langsam nehme ich die Atmosphäre dieser besonderen Kirche in mich auf, gehe wie Hunderttausende vor mir den schmalen Gang hinter dem Hauptaltar hinauf, um oben hinter die Jakobusfigur zu treten, ihm meine Hände auf die Schultern zu legen und dort, einer ewig alten Tradition gehorchend, für einen kurzen Moment innezuhalten. Ich steige hinunter zur Krypta unter dem Altar und sehe den Sarkophag mit den Reliquien des Apostels Jakobus und kann mich auch hier einer gewissen Ergriffenheit nicht entziehen.

 

Als die Pilgermesse beginnt, ist die Kathedrale gefüllt. Eine Nonne mit herrlicher Stimme singt liturgische Lieder und zahlreiche Pilger stimmen mit ein. Ich schaue mich um und sehe in viele Gesichter, die ich vom Weg her kenne. Wir nicken, winken oder lächeln uns zu, freuen uns, dass wir uns hier noch einmal wiedersehen, wahrscheinlich ein letztes Mal. Von der Messe selbst bekomme ich wegen der spanischen Sprache nicht viel mit, fühle mich aber sehr stark eingebettet in ein Geschehen, das meine Pilgerreise nach Santiago hier und jetzt abschließt.

 

Nach der Messe treffen sich Anni und ich nebst Sira nochmal auf dem Kathedralenvorplatz, bummeln bei leichtem Nieselregen durch die Gassen und stecken die Nase in den einen oder anderen Souvenirladen und werden auch fündig. Es ist später Nachmittag, als wir wieder in unserem Pensionszimmer sind. Jetzt heißt es, sich ausruhen vom Ruhetag, Kraft schöpfen für unsere letzten Tage in Wanderschuhen. Und wie kann man das besser, als mit einem Nickerchen.

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Mo

17

Jun

2013

Annika: Tropfsteinhöhle

Von Boente nach Santa Irene, 25 km

Schon vor dem Frühstück hat Papa den Kaffee auf. Oder eben nicht. Hierzu muss man erklären, dass ich, so oft es geht, versuche, den Morgenkaffee mit dem heißen Wasser aus dem Hahn herzustellen. Nur, wenn dort wirklich kaltes Wasser rauskommt, wird meine Faulheit besiegt und ich packe den rußenden Kocher aus. Heute entscheide ich, dass das Leitungswasser heiß genug ist und nutze den Kochtopf als Schale für unser Müsli. Papa will die Tassen mit Wasser füllen und kommt maulig zurück. "Das war ja wohl mal gar nix! Eiskalt, die Plörre! Das kann man ja keinem Esel ins Ohr schütten..." Ich grinse und schweige. Nachdem er zehn Minuten lang still gelitten hat, erlöse ich ihn und kaufe ihm an der Bar unserer Herberge einen heißen Kaffee. Der Tag kann beginnen.

Ich bin heute sowas von gut in der Zeit! Wenn es nach mir ginge, hätten wir um 7.20 Uhr unterwegs sein können. Papa braucht länger. Er nimmt noch Blog-Korrekturen vor. Naja, auch so sind wir um zehn vor acht parat, das ist immer noch früh genug.

Das Wetter am Morgen ist nicht unbedingt viel besser als das am Vorabend. Es regnet zwar gerade nicht, aber dicke Wolken verhängen den Himmel, alles ist nass und ungemütlich und kalt und die richtige Wanderlust mag nicht aufkommen. Und wie sollen die Waldwege erst aussehen nach dem Regen?!?

Es ist weniger schlimm als erwartet und wir erreichen bald Rivadiso. Aus der Herberge kommen gerade fröhlich unser Ben und Lukas, ein junger Österreicher. Ben hatte gestern keine Lust mehr weiter zu laufen, also wandern wir nun gemeinsam nach Arzúa.

Nach gemeinsamem Einkauf und einer Rast ziehen die Zwei allein weiter. Sie haben heute einen weiten Weg vor sich, da sie ihren frühen Stopp in Rivadiso wieder ausgleichen müssen. Wir verabschieden uns und bleiben noch einen Moment.

Sira benimmt sich komisch seit ein paar Tagen. Keine Sorge, sie ist nicht krank oder so. Sie verhält sich nur komisch. Vielen Artgenossen, teilweise auch wirklich sympathischen Rüden gegenüber ist sie auffallend zickig. Das kenne ich von ihr seit Monaten nicht. Gestern bei unserer Mittagsrast an einer Bar hat sie quasi durchgehend gefiept und gejammert. Einen Grund konnte ich nicht erkennen. Heute bei unserer Rast ist sie wieder irgendwie knatschig. Sie knurrt und fiept in Richtung der Sonne, die blass durch die Wolken hindurchscheint. Ok, das ist ihr grundsätzlich nie geheuer, aber heute steigert sie sich regelrecht rein. Sie setzt sich sogar schutzsuchend unter den Tisch, immer noch maulend. Erst als ich ihr Schutz hinter mir biete, ist sie zufrieden.

Ich frage mich in solchen Momenten, welcher Teufel sie gerade reitet. Merkt sie, dass das Ende der Reise näher rückt? Hat sie genug von immer neuen, ständig wechselnden Bekanntschaften? Oder projiziere ich hier etwas auf den Hund, was vielleicht eigentlich gar nicht da ist? Ich habe das Gefühl, ihr reicht es. Na gut, sie hat ihre Dienste geleistet und lang ist es jetzt ja auch nicht mehr.

Auch nach der Pause behält sie ihre Mauligkeit. Sie zieht durchgehend, egal ob mit oder ohne Pilger voraus. Ich bin mal wieder ausreichend genervt, um von Papa Ablöse einzufordern. Er willigt wie immer ein. Was würde ich hier bloß ohne ihn machen?

Als die beiden vorausjagen, komme ich nicht mehr nach. Ich falle zurück und bleibe stehen. Mein Blick schweift über die Weiden. Es ist mal wieder warm geworden. Bald ist das hier alles vorbei. Dann müssen wir nicht mehr bangen, wenn Regen vorhergesagt ist. Dann müssen wir morgens nicht mehr dreimal überlegen, ob uns auch ja nicht zu kalt oder zu warm wird den ganzen Tag über. Ich muss mich nicht mehr täglich intensivst mit Sira herumzanken und bin nicht mehr andauernd auf Papa angewiesen. Schade eigentlich. Bei all der Vorfreude auf zu Hause und meiner Begeisterung, das Ziel zu erreichen, vergesse ich manchmal, was wir hier jeden Tag für ein Abenteuer erleben und was für ein Glück wir haben, dass uns das so lange, in der Intensität und mit so viel Glück möglich ist, auch gesundheitlich. Wir haben hier eine tolle Zeit erlebt und ein bisschen traurig bin ich doch.

Während ich so vor mich hin sinniere, wandert meine Hand zu der kleinen Tasche am Hüftgurt meines Rucksacks. Es ist Zeit für ein Klümmek (=Bonbon). Ich greife in die Tasche und ziehe sie angeekelt wieder raus. Aus den Karamell- und Hustenbonbons, die wir noch in Frankreich gekauft haben, ist im Laufe der Zeit und der Sonnenstunden ein großer, klebriger Klumpatsch geworden, der sich nicht mehr auseinander dividieren lässt. Und mein Pfefferspray mittendrin. Na lecker. Unverrichteter Dinge ziehe ich den Reißverschluss einfach wieder zu. Das mache ich sauber, wenn ich zu Hause bin.

 Schon während wir durch den Wald laufen, zieht sich der Himmel langsam aber bedrohlich zu. Bald hält neben uns ein Auto. Eine deutsche Frau steigt aus und sagt, sie sei so begeistert, dass sie mal eben aussteigen und den Hund anfassen müsse. Nach dem üblichen Smalltalk über das Wandern mit Hund fragt sie, ob Sira eine Pilgermuschel hätte. Ich verneine und sie bittet uns, bis zu ihrem Haus mit Kaffee- und Kuchenstand zu laufen und dort einen Moment zu warten. Das tun wir auch und werden von zahlreichem Hundegebell aus einem Freigehege und einem kleinen Fiffi begrüßt, der um uns herum springt. Sira und er sind sich auf Anhieb sympathisch und spielen lange und ausgelassen miteinander. Wir trinken Tee und unterhalten uns lange über den Tierschutz. Ihre fünf Hunde sind allesamt arme Tiere gewesen, einer ein krepierender Kettenhund, der Nächste nachgelaufen, wieder einer überfahren und mehr tot als lebendig von ihr zum Tierarzt geschleppt. Die Tiere beeindrucken mich durch ihr tolles Sozialverhalten, ihre blinde Folgsamkeit und ihre Grundfreundlichkeit, auch der bullige Kampfhund.

 Während wir uns unterhalten, kommt ein uns bekanntes Gesicht aus dem Haus: Anke hat nach einer kurzen aber heftigen Migräne-Attacke hier Zuflucht gefunden. Sie durfte zwei Stunden schlafen, jetzt geht es ihr besser und sie zieht mit uns weiter. Der zugezogene Himmel hat sich zu einem handfesten Regen entwickelt, der auch bis zum Abend durchhält.

Durch weitere Hohlwege und Wälder kommen wir voran.

Für eine weitere Rast kauern wir uns zu viert in eine Bushaltestelle. Wir sehen dem Regen zu. Der klitschnasse Hund drückt sich gegen mein warmes Bein, um nicht zu frieren.

 Der Weg zum Ziel kann gar nicht schnell genug vergehen. Bei Regen ziehen wir in Santa Irene ein. In der öffentlichen Herberge weist man Anke ein Bett zu und zeigt uns die  Pferdebox für den Hund. Mit der grundsätzlichen Thematik komme ich klar, aber das Wasser, das in der leicht abschüssigen Seite der Box steht und vor sich hinfault, macht mir das Ganze nicht unbedingt sympathischer. Das Wissen, dass ich mit Sira diese Schlafstätte teilen werde, erst recht nicht. Die Frau von der Herberge guckt nur ungläubig, als ihr klar wird, dass ich bei meinem Hund bleiben werde.

Papa würde gern mit uns leiden, aber der faulende See in unserer Box lässt nur Platz für einen Menschen nebst Hund. Ich bin ganz froh, dass er sich das hier nicht mit antun muss. Schweren Herzens geht er rein und ich baue, wie so oft in letzter Zeit, unser Zuhause für eine Nacht. Ich kehre, versuche, das stetig nachlaufende und deshalb tropfende Wasser im Trog zu stoppen, stelle Eimer unter, lege Alumatten aus, pumpe Matratzen auf, lege Schlafsäcke zurecht und ziehe alles an, was ich habe. Es wird kalt werden.

Papa und Anke kommen abwechselnd immer wieder mit schlechtem Gewissen vorbei, um mir irgendwie etwas Gutes zu tun. Abends liege ich eng an Sira gekuschelt in meinem Schlafsack, das Wasser, das durch die Abflussrinne fließt, klingt wie eine Tropfsteinhöhle und der Regen scheppert aufs Dach. Während mir mal wieder kurz übel wird von dem Geruch des faulenden Brackwassers neben uns, denke ich mir: Es geht auch schlimmer. Das Wasser könnte auch noch von oben kommen.

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So

16

Jun

2013

Reinhard: Das Wetter war ideal!

Von Palas de Rei bis Boente, 21 km

 Als ich aus dem Badezimmer komme, ist Anni mit Sira bereits vom Gassigang zurück. Da ist mein Töchterchen ja eisern. Vor Allem anderen geht sie mit dem Hund raus. Es wird dann gerade immer erst so langsam hell und ist noch ruhig auf dem Camino. Der Hund dankt es ihr. Noch nie in den vergangenen mehr als vier Monaten ist ihm in einer Unterkunft ein Malheur passiert. Überhaupt benimmt Sira sich in dieser Hinsicht vorbildlich. In Städten oder Dörfern hat sie uns noch nie in unangenehme Situationen gebracht. Sogar auf dem Weg selbst nicht. Wenn es eben geht, begibt sie sich für ihre Geschäfte nach links oder rechts möglichst ins hohe Gras. Da unterscheidet sie sich gar nicht mal viel von uns Menschen.

Jetzt steht Anni auf dem Balkon (jaaa, wir haben einen Balkon bei unserem Luxus-Doppelzimmer zu 20 Euro!) und kocht dort mit ihrem Outdoor-Kocher unser Frühstücksporridge. In den heißen Haferbrei rührt sie dann noch die bereits gestern Abend kleingeschnippelten Erdbeeren und fertig ist das erste Mahl des Tages. Es schmeckt (uns jedenfalls) gut und hält eine Weile vor. Dazu eine Tasse Kaffee - der Camino-Tag kann beginnen.

Bei dem Wetter habe ich heute etwas Bedenken. Die Wettervorhersage im Internet sagt für die Region mittelmäßige bis starke Regenfälle voraus, eine Wetterlage, die wir jetzt schon länger nicht mehr hatten. Im Moment sieht es noch gar nicht so schlecht aus, aber in der Entfernung ziehen dunkle Wolkenbänke heran.

  An dieser Stelle mal ein paar Bemerkungen zum Wetter, welches uns auf dem Jakobsweg begleitet hat. In vielen Kommentaren zu unseren Blogeinträgen sind wir wegen des doch so schlechten Wetters während unserer Tour oft bedauert worden. Nun muss ich aber sagen, dass man als Betrachter von außen die Wetterbedingungen anders wahrnimmt als der Betroffene selbst. Anni und ich finden, dass uns Petrus mit dem Wetter regelrecht verwöhnt hat. Wenn man im Winter loszieht, darf man wohl nicht mit hohen Plusgraden rechnen. Ausgesprochene Regentage, an denen wir anhaltend begossen worden sind, lassen sich an einer Hand (!) abzählen. Der eine und andere Schauer, selbst ein, zwei Stunden Regen am Tag, sollten nicht den Eindruck einer verregneten Pilgertour aufkommen lassen. Die Temperaturen waren für mich durchweg sehr angenehm, wenn man vielleicht von der eiskalten Eifel absieht, wo schon bei einer fünfminütigen Rast die Kälte unerbittlich in uns hochkroch. Ansonsten liebe ich die Wandertemperaturen um die 15°C und die gab es, verbunden mit vielen Sonnenstunden, im März und April reichlich. Dass man in Südfrankreich oder in Nordspanien im Mai nicht mit Nachttemperaturen um den Gefrierpunkt rechnet, ist die eine Sache. Die andere Sache aber ist,  dass es tagelang bei strahlendem Sonnenschein und klarer Luft herrliche Fernblicke gab. Außerdem hatte ich mich vor hohen Temperaturen in Spanien regelrecht gefürchtet. 30°C oder gar 40°C, wie in anderen Jahren in dieser Gegend nicht unüblich, wären für mich der blanke Horror gewesen. Ich komme zu dem Resultat: Das Wetter auf unserer langen Pilgerreise war ideal. Das meine ich vollkommen ernst und weiß Anni da auf meiner Seite. Wir wollten den Weg in drei Jahreszeiten durchlaufen und so war es auch.

Die Jahrezeit heute entwickelt sich so Richtung Herbst. Von den gestrigen 27°C am frühen Abend in Palas de Rei ist im Laufe des Tages nicht mehr viel zu merken. Der Himmel zieht sich immer mehr zu und es wird merklich kühler. Die Entscheidung, heute früh im T-Shirt loszulaufen, erweist sich als zu optimistisch. Eins bleibt allerdings so, wie es gestern war. Durch Galicien zu wandern, ist eine Freude. Heute ziehen wir nicht mehr über die Höhen, mit den weiten Ausblicken über die grünen Bergkuppen, die Wälder, Wiesen und bestellten Felder. Heute sind es wieder die kleinen Dörfer mit ihren kleinen, alten und dunklen Bruchsteinhäusern, den auf Stelzen stehenden Vorratshäuschen, den alten Wegkreuzen und Brunnen. Es sind die tiefliegenden Hohlwege, links und rechts begrenzt durch markige, mit Efeu und anderen Rankpflanzen behängten Eichen und Kastanien. Es sind die jetzt immer häufiger auftretenden Eukalyptuswälder, die wir durchqueren. Der Eukalyptusbaum kam einst über Südamerika aus Australien hierher. Das Holz wird zur Papiergewinnung und zur Möbelherstellung verwendet. Heutzutage stellen die Eukalyptuswälder allerdings auch ein ökologisches Problem dar. Sie verdrängen immer mehr die heimische Pflanzenwelt und ihre Wurzeln senken den Grundwasserspiegel.

Im kleinen Cuto machen wir an einer Bar eine Rast. Im Moment scheint nochmal die Sonne und lässt uns die Rast genießen. Eine Katze ist ausnahmsweise auch mal nicht in Sicht. Was die Rastmöglichkeiten bei Bars anbetrifft, haben wir dank des Wetters in den letzten Wochen auch großes Glück gehabt. Bei schlechtem Wetter, bei Regen oder Kälte, wären die Pausen anders verlaufen. Nach drinnen: con perro - no! Im Außenbereich: no problema! Wir haben uns kaum hingesetzt, da gesellt sich auch wieder Ben kurz zu uns. Lange bleibt er nicht, er will heute noch bis nach Arzúa, ein ordentliches Stück weiter als wir. Ich denke, ab jetzt werden wir ihn nicht mehr sehen. Schade eigentlich!

Eine allein pilgernde Frau aus Deutschland, zum erweiterten "Rudel" gehörig, spricht uns nach Bens Fortgehen an. Sie sieht nicht gut aus, schleppt sich seit einigen Tagen mit einer schweren Erkältung rum und muss heute auch noch nach Arzúa. "Ich will nur noch nach Hause!" ist ihr Wunsch und sie ist dabei den Tränen nahe. Schade, wenn das das Fazit für den Jakobsweg ist.

Seit einigen Tagen, ich glaube, seitdem wir in Galicien sind, "verfolgen" uns Kilometersteine. Alle 500 Meter sind sie aufgestellt und zeigen die jeweils verbleibende Kilometerzahl nach Santiago an. Dem munteren Pilger führen sie vor Augen, wie schnell die Kilometer vergehen. Den erschöpften Pilger bringen sie vielleicht zur Verzweiflung, weil der Pilgertag anscheinend nie enden will.

In Boente, unserem Tagesziel, zeigt einer dieser Steine noch 45 Kilometer an. In drei Tagen werden wir in Santiago sein. Irgendwie nicht zu fassen. So langsam glaube ich dran.

Die "Albergue-Bar Boente" nimmt uns tatsächlich auf - mit Hund. Während einige andere Pilger in einem Schlafsaal zusammengedrängt werden, bekommen wir einen anderen kleinen Schlafsaal ganz für uns allein. Wer sagt eigentlich, dass es schwer sei, mit einem Hund auf dem Camino zu pilgern?

Draußen beginnt es zu regnen. Lernen wir jetzt auch mal das typisch galicische Regenwetter kennen?

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Sa

15

Jun

2013

Annika: Ein Tag geschenkt

Von Portomarin nach Palas de Rei, 26 km

Um drei Uhr nachts werde ich wach. Es ist stockdunkel. Endlich mal. Das erste Mal seit gefühlten Ewigkeiten sind wir an einem Ort angekommen, an dem die Laternen nachts nicht an-, sondern ausgemacht werden. Eine interessante Nacht, so ganz im Dunklen.

Auch interessant ist, dass der ganze Campingplatz leicht hanglagig ist. Wir haben lange nach einem ebenen Plätzchen gesucht und dachten auch, eins gefunden zu haben. Nachts haben wir gesehen, dass das wohl nicht so war. Immer wieder sind wir so tief in den Fußraum gerutscht, dass bis zur Tür mehr als eine Armlänge Platz war. Endlich mal jeden Zentimeter des Zeltes genutzt! Aber da sieht man mal, wieviel Platz da wirklich ist...

  Um Siras Morgengeschäfte zu erledigen, gehe ich mit ihr hinunter zum See. Wenn man schon mal in Wassernähe schläft, muss man es sich auch aus der Nähe angucken. Es dämmert noch. Der Tag ist noch nicht richtig aufgegangen und den gluckernden See kann man nur schemenhaft erkennen. Sira ist das nicht geheuer. Ganz nah ran traut sie sich nicht.

Über meinen Kopf hinweg hat Papa gestern Abend am Campingplatz Frühstück für heute Morgen bestellt. Weil die Übernachtung schließlich so billig war... Toll, so spar ich ja nie Geld. Aber wirklich böse drum bin ich auch nicht, wenn ich morgens nicht noch mit dem blöden rußigen Kocher rumhantieren muss. Das heißt, eigentlich ist gar nicht der Kocher, sondern nur der Spiritus blöd. Mit dem, den ich in Deutschland gekauft hab, konnte ich sogar spurlos in Hotelduschen oder auf der Fensterbank kochen. Mit dem spanischen Brennspiritus flämme ich sogar draußen die Wiesen an und ruße mir alles voll. Riesenschweinerei!

  Also frühstücken wir heute mal Indoor. Das Frühstück ist zwar mit 4,50 € das teuerste bisher, aber dafür auch ganz schön reichhaltig. Das erste Mal, seit wir Deutschland verlassen haben, stehen Wurst und Käse auf dem Tisch, außerdem Äpfel, Orangen, frische Kirschen, Joghurt, ACE-Saft, Muffins und das obligatorische Weißbrot mit Marmelade, Nachschlag inklusive. Durch ein solches Frühstück sind natürlich alle guten Vorsätze für einen frühen Aufbruch dahin. Wieder verlassen wir um kurz vor neun unsere Unterkunft und wissen schon jetzt zähneknirschend, dass wir wieder mal spät ankommen werden und wir nach Zeltaufbau, einrichten, duschen und essen mal wieder kaum noch Zeit zum Bloggen haben werden. Das ist ärgerlich, aber kein Beinbruch, und wieder muss ich sagen: Hilft ja nichts. Ich wundere mich nur immer, dass bei allen anderen Pilgern eine halbe, höchstens eine ganze Stunde vom Weckerklingeln bis zum Abmarsch vergeht, wo wir doch immer ziemlich genau zwei brauchen, egal ob mit oder ohne Zeltabbau, egal ob mit selbst gekochtem Frühstück oder bestelltem.

Obwohl wir spät dran sind, verlassen wir Portomarin nicht als die Letzten. Ein paar "Babys" stehen vor der Kirche. Man erkennt sie sofort, die 100 km-Läufer, die gestern erst gestartet sind. Sie tragen, wenn überhaupt, kleine Tagesrucksäcke, weil man sich den Rest entweder schicken lässt oder für eine Woche eben nicht mehr braucht. Ihre Kleidung ist sauber, ihre Socken ohne Löcher, ihre Gesichter sind noch nicht von der Wandersonne gebräunt. Sie tragen leichte Turnschuhe oder Trekkingsandalen, weil sie keine gewaltigen Klettereien mehr zu überstehen haben. Ihre Hüte und Kleidungen sind mehr schick als zweckmäßig, da sie keine Langzeit- und Härtetests überstehen müssen. Ihre Körper krümmen sich nicht unter der Last der schweren Rucksäcke und sie haben dieses Anfängerleuchten in den Augen, mit denen wir vor vier Monaten zu Hause, eine Handvoll andere in Le Puy en Velay, einige vor fünf Wochen in St.-Jean-pied-de-Port, und wieder ein paar in den großen Städten Pamplona, Burgos oder León gestartet sind. Jeder der "echten" Pilger, die schon länger unterwegs sind, betrachtet die Neulinge mit einer gewissen Herablassung, weil man selbst doch schon viel weiter ist, viel mehr weiß, wie es läuft, vielmehr geleistet hat. Ich persönlich sage mir immer, jeder geht seinen eigenen Camino. Mit Sicherheit haben auch die 100 km-Läufer an ihren täglichen gut 20 km zu knabbern, an die der Körper nicht gewöhnt ist. Und jeder sucht sich seine Last doch selbst aus. Mich hat niemand gezwungen, mit dem unvorstellbaren Gewicht von 14 kg auf dem Rücken die unvorstellbare Distanz von 2800 km zurück zu legen. Das habe ich selbst entschieden. Der Camino ist für jeden so, wie man ihn sich selber legt. Darum übe ich mich in Respekt und Toleranz den Neulingen gegenüber. Trotzdem kann ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, wenn ich bei einem "Buen Camino!" im Vorbeigehen nur einen verständnislosen Blick ernte, oder die Frischlinge ohne den geübten Pfeilesuchblick verzweifelt vor einer Wegegabelung stehen sehe.

Als wir die Brücke hinter Portomarin überqueren, hören wir hinter uns immer noch weitere Pilger kommen. Die Angst vor den Massenanstürmen und der Obdachlosigkeit am Abend scheint so groß also nicht zu sein.

Gleich der erste Anstieg hat es in sich. Steil bergauf geht es durch den Wald, über einen zum Glück sehr unsteinigen Weg. Sira hat mal wieder den Wahnsinn gefrühstückt. Sie schmeißt Tannenzapfen und Äste in die Höhe und vor sich her und jagt ihnen nach. Im Endeffekt rennen wir die gesamte steile Steigung hinauf und alle anderen schauen uns fassungslos und belustigt zugleich nach.

Auf halber Höhe entdecken wir ein Zelt im Wald. Ein Wildcamper hat sich hier wohl niedergelassen. Ist es wohl ein Pilger, der heute weiterzieht? Oder ist es einer der Aussteiger, die im Wald und im Zelt leben und von denen wir schon ein paar kennen gelernt haben seit Astorga. Minimalismus, wie er im Buche steht. Was bringt die Leute zu so einem Leben? Bewusste Entscheidung? Armut? Unzufriedenheit mit den herrschenden Systemen? Einfach nur Freakigkeit? Ich weiß es nicht. Mir wird nur mal wieder deutlich, dass ich fürs Wildcampen nicht gemacht bin. Weil es verboten ist und ich nur ganz widerwillig Verbotenes tu. Weil ich mich schutzlos fühle. Und weil ich fließendes Wasser, ein Klo und Strom eben doch gerne hab.

  Auf der Höhe angekommen laufen wir durch viele kleine Dörfchen. Hier sieht man dann aber doch, dass sich eindeutig mehr Leute auf dem Camino befinden als sonst. Die Bars in den zeitlich zur ersten Rast nach zwei Stunden passenden Dörfern sind reichlich überlaufen. Wir machen es wie mit den Herbergen auch: Gehen wir eben aus dem hochfrequentierten Touri-Bereich von Gonzar raus, noch einen weiter nach Castromaior und machen dort Pause in der Bar, wo kaum ein Mensch sitzt. Hier scheint so wenig los zu sein, dass die Wirtin nicht sofort abkassiert, sondern jeden Pilger im Auge hat, bis man geht und davor noch schnell abrechnet. In unserem Fall musste sie das. Wir hätten nämlich um ein Haar die Zeche geprellt. Ganz ins Gespräch vertieft, verlassen wir die Bar und vergessen, zu bezahlen, bis sie uns nachläuft. Peinlich, peinlich, aber wer uns kennt, sagt jetzt: Typisch!

  Das kommt davon, wenn man so abgelenkt ist! Ben, ein junger, deutscher Linguistiker, der uns seit St.-Jean immer mal wieder und ganz vermehrt in den letzten Tagen begegnet ist. Er hat uns wegen seiner fließenden Spanisch-Kenntnisse schon mehrfach wertvolle Dienste bei der Unterkunftssuche geleistet, heute rettet er uns auf andere Weise. Irgendwie bringt er uns darauf, dass unsere Tageszählung unstimmig ist mit den Wochentagen. Papa hat beim Aufschreiben einen Sonntag ausgelassen, weswegen wir quasi einen Wochentag gewonnen haben. Wir sind also schon Mittwoch in Santiago und Montag am Cap Finisterre, wären also Mittwoch schon in Muxia, wo mein Bruder Basti und seine Freundin Dimi uns aber Donnerstag erst abholen. Da wir quasi einen weiteren Tag geschenkt bekommen haben, werden wir wohl einfach einen (unseren ersten) Ruhetag in Fisterra einlegen. Schön! Gut, dass wir uns nicht umgekehrt vertan haben. Nicht auszudenken, was wäre, wenn uns ein Tag fehlen würde! Gut, dass es Ben gibt, sonst hätten wir in Muxia vielleicht ganz schön lange auf Basti und Dimi gewartet.

  Nachdem wir unsere Schulden beglichen haben, laufen wir über und an kleinen Landstraßen durch weitere Dörfer. Ben war schon vorgegangen, wir holen ihn aber schnell wieder ein und laufen ein Stück der Strecke gemeinsam. Quatschend erreichen wir Ligonde, wo wir eine zweite Pause machen bei einer Donativobar und -herberge mit einem bunten Schild mit der Aufschrift: "Free hugs/kostenlose Umarmungen". Soso... Na, das ist ja was für mich. Sowas kann ich ja gar nicht haben. Wenn Leute einem zu nahe kommen, die man nicht kennt. Und dann auch noch schwitzige Stinkepilger umarmen. Wer macht denn sowas freiwillig?!? Naja, der free hugger scheint heute Urlaub zu haben. Uns werden keine Umarmungen angeboten...

Nach einer Weile stetigen  sanften Abstiegs durch kleine Dörfchen erreichen wir die ersten Häuser von Palas de Rei, unserem Etappenziel. Jessica, die Ex-Hundepilgerin und Hospitalera von A Balsa hat uns aufgeschrieben, man könne in der öffentlichen Herberge anfragen und bekäme dort die Erlaubnis, auf der Dorfwiese umsonst zu zelten. Wolle man aber die sanitären Einrichtungen nutzen, müsse man den vollen Herbergspreis von 6€ zahlen. Ben fragt nach, man verweist ihn fürs Zelten auf das kleine Stück Wiese zwischen Herberge und Straße und sagt ihm aber, der eigentliche Ortskern sei jedoch  noch einen Kilometer entfernt und dort sei die andere öffentliche Herberge. Er zieht also weiter ins Zentrum, wir bleiben stehen und beratschlagen. Wir sind weit weg vom Zentrum und müssen fürs Wochenende einkaufen. Die Zeltmöglichkeit ist nicht optimal. Jessicas Vermerk steht außerdem bei der öffentlichen Herberge im Zentrum. Na gut, also ziehen wir weiter. Im Zentrum dämmert uns schnell, dass bei der Herberge direkt an der Hauptverkehrsstraße und mit all den Hundeverbotszeichen, ein Unnterkommen schwierig werden könnte. "Perro? No! Schlafen im Zelt? No! Andere Möglichkeiten in der Umgebung? No se!"

  Na dann mal herzlichen Dank. Wir sind erschöpft von dem langen Tag in der Sonne, Sira braucht Schatten, Wasser und Ruhe, wir beiden nicht weniger. Von jetzt an sind uns der Preis oder die Art der Absteige egal, Hauptsache wir finden ein Bett und müssen kein Zelt mehr aufbauen! Glücklicherweise liegen die Pensionen und Hotels hier dicht an dicht, also heißt es, abklappern. Papa und Sira parken in der Sonne und ich suche die nächstbeste Pension. Man grinst, man lacht, man ruft den "king of the house" an, nur um mir dann grinsend zu sagen: "No perro!" Ja, haha, wirklich witzig. Dass man das noch mit Grinsen sagen kann. Ich finde das nicht besonders lustig und gehe zum nächsten Hotel. Verzweiflung, Erschöpfung und die Angst vor der nächsten Absage übermannen mich und noch bevor ich meine Frage zu Ende gebracht hab, heule ich dem Mann an der Bar einen vor. Er schaut mitleidig, aber genauso hilflos wie ich mich fühle, als er den Kopf schüttelt. "Perro no possibile." Er verweist mich auf eine Unterkunft ein paar Häuser weiter. Ich bedanke mich und ziehe hoffnungslos davon. In der Pension Guntina keimt neue Hoffnung auf, als ich einen kleinen Hund in der Bar herumdackeln sehe. Ich frage an und - siehe da! wir bekommen ein Doppelzimmer ohne Bad für 20 €! 20 € ??? Soviel bezahlt man für zwei Personen manchmal in Pilgerherbergen mit Schlafsälen für zehn Leute! Wer braucht schon ein eigenes Bad?

Ich stürme zu Papa und Sira, halte triumphierend den Schlüssel hoch und wir erobern unser Zimmer. Der Flur stinkt unheimlich nach Katzenklo und dem Versuch, das Ganze mit Parfum zu übertünchen. Das lässt Schlimmes in Bezug auf das Zimmer befürchten. Selbst das ist uns allen jetzt völlig egal. Hauptsache Bett! Als wir unsere Zimmertür öffnen, sind wir angenehm überrascht. Zwei große saubere Betten in einem sauberen großen Zimmer, sogar mit Balkon und Bad im Flur gleich nebenan. Der Blick vom Balkon hat leichten sozialen Wohnbausiedlungs-Charakter. Auch das ist mir egal. Gleich schräg gegenüber auf dem Balkon steht ein alter Mann im speckigen Unterhemd und raucht, während sein schwarzer Fiffi uns anbellt. Sira weiß wohl, dass sie heute einfach nur froh um ihre Schlafstätte sein sollte und spart sich jeden Ärger, Sie wirft einen Blick auf das wütende schwarze Knäuel, geht rein, legt sich auf ihre Decke und schläft ein.

Und wenn man denkt, es geht nicht mehr, kommt Jakobus und öffnet uns ein Türchen. Danke!

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Fr

14

Jun

2013

Reinhard: Noch 100 km bis Santiago!

Von Sarria bis Portomarin, 24 km

Wir sind noch beim Packen und haben noch nicht gefrühstückt, als Anke in Begleitung von Thomas mit ihrem Rucksack aus dem Wohnmobil herauskommt. Mit einem strahlenden Lächeln und vor Aufregung etwas roten Wangen verabschiedet sie sich von uns und wird dann von Thomas noch zum Tor des Campingplatzes begleitet. Sie ist noch nie eine längere Strecke gewandert, hat noch nie mit anderen zusammen in einem Schlafsaal die Nacht verbracht. Sie lässt sich relativ spontan darauf ein und das beeindruckt mich. Buen camino, Anke!

Dicker Hochnebel liegt noch über Sarria, als wir den Vorortsbereich durchqueren. Eigentlich gibt es nichts Besonderes in Sarria - wenn Sarria selbst nicht etwas Besonderes wäre. Auf dem Camino gilt die Regelung, dass man als Fußpilger mindestens die letzten 100 Kilometer vor Santiago erwandert und auf seinem Pilgerpass durch Stempel dokumentiert haben muss, um seine sog. Compostela in Santiago ausgehändigt zu bekommen. Und Sarria liegt in unmittelbarer Nähe zu diesem magischen Punkt. Besonders viele Spanier steigen erst hier in den Jakobsweg ein und die Frequentierung des Weges nimmt sprunghaft zu.

Über eine vielstufige breite Treppe geht es in den Altstadtteil von Sarria mit seinen engen Gassen, hübschen Häusern und dem alten Monasterio de la Magdalena. Ich schenke mir die bestimmt fast 100 Stufen und umfahre sie mit meinem Wheely über eine hochführende Straße. Direkt gegenüber vom Monasterio höre ich plötzlich eine Stimme aus dem Obergeschoss-Fenster einer kleinen Pension laut "Annika!" rufen. Wir drehen uns um und erblicken John aus Detroit, mit dem wir mal einen Tag zusammen mit der Belgierin Ingrid gegangen sind. Irgendwo zu Beginn der Meseta war das, und in Hornillos del Camino haben wir uns das letzte Mal gesehen. Seitdem war er schnell unterwegs, so sagt er uns, war sogar schon in Santiago. Jetzt ist seine Frau aus Detroit, die uns vom Fenster aus zuwinkt, nachgekommen und geht mit ihm die Strecke Sarria - Santiago ein zweites Mal. Dann aber in ihrem Tempo, so dass er vielleicht auch mehr gezwungen ist, die Landschaft Galiciens zu genießen. Wer weiß, möglicherweise sehen wir die beiden sogar in Santiago nochmal wieder.

Noch während wir Sarria verlassen, reißt der Hochnebel auf und innerhalb einer Stunde ist der Himmel tiefblau. Die Kleiderfrage muss möglichst schnell überdacht werden, denn gleich kommt der knackige Aufstieg nach Barbadelos. Also rechts ran, raus aus dem Wheely-Geschirr, Jacke aus, Schuhe aus, Hose zur Shorts zippen, Schuhe wieder an, Jacke auf dem Wheely griffbereit festzurren und wieder vor's Wheely spannen - wie oft habe ich das nun schon in den letzten Wochen so gemacht. Aber noch nie haben uns im Verlauf dieser fünf Minuten so viele Pilger, oder solche, die es mal für 100 Kilometer sein wollen, überholt. Manche sehen allerdings eher aus wie Sonntagsausflügler, im weißen Baumwollshirt, Tennisshorts und Turnschuhen. Andere kommen als Familienausflug mit dem Fahrrad daher. Wird DAS der Camino der letzten 100 Kilometer sein?

  Doch es hält sich in Grenzen. Irgendwann sind die Massen weit auseinandergezogen und machen sich für uns nicht mehr störend bemerkbar. Die nächsten Kilometer werden zu einer Genusstour. Wir durchwandern die Landschaft auf einer Höhe, die uns das grüne Galicien wie von einem Balkon aus überblicken lässt. Mehr als in irgendeiner Region Spaniens, durch die wir bisher gezogen sind, sehen wir von hier oben große Waldgebiete und gehen durch viele auch hindurch. Fast archaisch anmutende uralte Kastanienbäume wirken auf mich nahezu ehrwürdig und geheimnisvoll, mächtige Eichen genauso. Sie spenden Schatten, geben dann den Weg wieder frei in die Sonne, im ständigen, angenehmen Wechsel. Efeubewachsene Feldsteinmauern begleiten den Weg oder unterteilen die hoch mit Getreide bewachsenen Felder. In Feuchtwiesen quaken unzählige Frösche ein fröhliches Konzert, Riesenbüsche von gelbblühendem Ginster lassen ihre Zweige über dem Weg hängen und verbreiten einen intensiven Geruch. Grillen zirpen und Vögel singen um die Wette, es ist ein Tag für die Sinne, ein friedlicher Tag.

Mercado, Ferreiros, Moimentos, Moutras, Vilacha heißen die kleinen Orte entlang der Strecke, fast jeder mit mindestens einer kleinen Bar oder einer Albergue, wo der erschöpfte Pilger für ein Weilchen rasten und es sich wohlergehen lassen kann. Genau das wollen wir in Morgade. Doch wieder mal ist eine Katze die Spielverderberin. Sie denkt nicht im Traum daran, von der Bildfläche zu verschwinden und Sira dreht an mehreren Rädern gleichzeitig. Anni zieht die einzig richtige Konsequenz: Sie schnappt sich Rucksack und Hund, geht 100 Meter weiter und wartet dort entspannt und stressfrei auf ihren Vater, der noch schnell seinen Bocadillo verdrückt und mit Kaffee hinunterspült.

Kurz nach den drei Häusern des Weilers Brea ein wichtiger Hinweis: noch 100 Kilometer bis Santiago! Stimmt aber nicht so ganz! D.h., irgendwann hat das mal gestimmt, aber durch die Wegverlaufsänderungen in den vergangenen Jahren sind es genau genommen noch 106 Kilometer. Aber wer will da schon kleinlich sein...

Die immer mehr aufkommende Nachmittagshitze fordert ihren Preis. Sira erhält wiederholt ihre verdienten Schatten- und Trinkpausen und auch unsere Schritte werden langsamer, je tiefer wir nach Portomarin hinunterkommen und die Hitze ansteigt.

Endlich überqueren wir auf einer langen Brücke den aufgestauten Fluss Miño, der tief unter seiner Wasseroberfläche das alte Dorf Portomarin begraben hat. Nur die Kirche wurde einst Stein für Stein abgetragen und am gegenüberliegenden Hang wieder neu aufgebaut, umgeben von den Häusern des neuen Portomarin.

Direkt von der Brücke aus führt eine lange Treppe fast komplett hinauf in den Ortskern des Ortes. Jeder Pilger muss sich nach einem langen Wandertag diese vielen Stufen hinaufquälen, um sein Tagesziel endgültig zu erreichen. Uns, und vor allem meinem Wheely, bleibt das erspart. Wir müssen zum Campingplatz, hinter der Brücke direkt rechts rum.

Wie der heutige Wandertag begonnen hat, so hört er auch auf: Von der letzten Treppenstufe oben hört Anni, wie man ihren Namen ruft. Es winkt jemand freudig erregt zu uns hinunter. Anke ist es und sie strahlt. Dabei bleibt es aber nicht. Sie begleitet uns zu unserem etwa einen Kilometer außerhalb am Ufer des Stausees liegenden Campingplatz und berichtet uns von ihrem ersten Pilgertag. Sie hat ihn unbeschadet und ohne große Mühe überstanden, ist für den morgigen Tag höchst motiviert und schreibt gleich ihrem Thomas per SMS einen Kurzbericht von ihrem ersten Pilgertag. Wir freuen uns mit ihr.

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Do

13

Jun

2013

Reinhard: Bitte einmal Dampfgegartes!

Von A Balsa bis Sarria, 16 km

Wir schwelgen. Mareyn, unser holländischer Hospitalero, hat Pfannekuchen gebacken. Mal so ein ganz anderes Frühstück als sonst immer. Im Kaminzimmer sitzen wir alleine und versüßen uns die Pfannekuchen mit verschiedenen Marmeladensorten. Den Kamin müssen wir uns noch vorstellen, denn außer einer großen Tischplatte auf zwei Holzböcken ist der Raum noch leer. Mareyn und Jessica, seine italienische Frau, werden noch viel Arbeit haben, um alles hier fertigzustellen, aber schon jetzt merkt man, dass "El Beso" später mal eine besondere Herberge sein wird.

Das Wetter ist leider recht galicisch, es regnet. Das haben wir so ja nun gar nicht geplant. Nach dem gestrigen herrlichen Wetter war das nicht unbedingt zu erwarten. Aber jetzt sehen wir aus dem großen Fenster mit seinen Altglasscheiben noch nicht einmal den gegenüberliegenden Berghang.

Irgendwas sagt mir jedoch, dass der Regen nicht von langer Dauer sein wird. Also aussitzen! Aussitzen alleine reicht aber nicht, wir sollten die Zeit auch nutzen. Ich frage bei Jessica an, ob sie uns bei der weiteren Unterkunftssuche helfen kann. Eine halbe Stunde später weiß ich, wo wir in dem einen oder anderen Zielort mit Sira unterkommen oder zumindest das Zelt aufstellen können. Erst um 9.30 Uhr verlassen wir El Beso und Mareyn und Jessica stehen winkend am Hoftor.

In A Balsa scheint selbst um diese Uhrzeit noch alles zu schlafen - nur die Hunde nicht. Die Meldung, dass wir kommen, wird von Hund zu Hund weitergereicht. Am Ende des Dorfes kommen zwei dicke Brocken plötzlich angeschossen, versuchen, uns mit ihrem Gekläffe einzuschüchtern.Sira verhält sich dabei ruhig, wirkt aber doch recht ängstlich. Vor allem, wenn zwei bis drei Artgenossen sie drohend umkreisen, ist sie sehr nervös. Anni wirkt in diesen Situationen nie verängstigt, sondern souverän und konzentriert. Wieviel Adrenalin sich dennoch hochschaukelt, steht auf einem anderen Blatt. Mit Stimme und Stock hat sie bis jetzt jede brenzlige Hundebegegnung in den Griff bekommen. Erstaunlich nach der Schäferhund-Attacke in Frankreich.

Hinter A Balsa führt uns ein enger, steiniger Hohlweg steil auf die Höhe. Langsam setze ich einen Fuß vor den anderen, komme stark und ergiebig ins Schwitzen, der Kreislauf kommt in Schwung. Über dem Hohlweg stehen wahre Goliaths von Kastanienbäumen, von denen immer noch Wasser des letzten Regens heruntertropft. Der Teufel sitzt wieder auf dem Wheely und schüttelt sich bei meiner Kraftanstrengung vor Lachen. Ich pfeif drauf und steige höher und höher. Irgendwann ist auch das vorbei und der Camino verläuft wie bei einer Panoramastraße auf einer Höhe an einem Berghang entlang, mit weiten Ausblicken nach Galicien hinein. Und es gibt hier tatsächlich Wald, weite Flächen sind mit Kastanienbäumen bepflanzt und vermitteln ein etwas anderes Landschaftsbild als in den letzten Wochen üblich. Dicke Wolken kleben an den Berghängen, die Nässe des vergangenen Regens steigt aus den Wäldern auf. Von hier oben sehen wir aber auch, wie in der Ferne der Himmel auflockert. Eigentlich ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann die Sonne wieder siegt.

Bei der Bar in Pintín ist es endlich so weit. Bei Kaffee, Cola und Donats sitzen wir an den Außentischen an der Straße und rasten. Einige Pilger sitzen schon drinnen oder draußen, stärken sich bei einem zweiten Frühstück oder einem frühen kleinen Mittagessen, suchen und finden das Gespräch mit anderen oder schweigen vor sich hin. Mancher hat sein Bocadillo vor sich auf dem Teller liegen, andere packen sich zu ihrem Café con leche eigenen Proviant aus dem Rucksack.

Auf einmal steht Ben an unserem Tisch. Immer wieder ist er für ein paar Tage von der Bildfläche verschwunden, dann taucht er auf einmal wieder auf. Mit seiner sehr blassen Gesichtsfarbe, seinen roten Haaren und seinem weißen Strohhut ist er uns schon in St-Jean-Pied-de-Port aufgefallen. Seitdem gehört er zu den wenigen, die mit uns immer noch auf gleicher Höhe Richtung Santiago ziehen. Und eins weiß ich inzwischen von ihm: Er spricht fließend Spanisch. Das kommt mir jetzt gerade recht. Ich brauche noch die ein oder andere Unterkunftsreservierung bzw. eine gesicherte Auskunft darüber, wo wir bei einer Albergue gesichert das Zelt aufschlagen können. Ben soll für uns telefonieren. Ich biete ihm einen Donat für ein Telefonat. Er schnappt sich - Donat kauend -unseren Miam Miam Do Do und mein Handy und wählt die erste Nummer. Ehrfürchtig lausche ich seinem spanischen Redeschwall und bin begeistert, als sein Daumen in die Höhe geht. Wir können auf der Wiese einer Gemeindeherberge unser Zelt aufschlagen, Hund kein Problem. Ich biete Ben einen zweiten Donat für ein zweites Telefonat. Den Donat schlägt er aus, telefoniert aber trotzdem. Mit dem gleichen Erfolg! Ben, ich werde mich bei Jakobus für dich verwenden!

Zwei Stunden später sind wir auf dem Campingplatz in Sarria. Wir könnten hier in großen Pilgerzelten schlafen, mit jeweils acht Stockbetten. Aber wieder einmal ist das mit Sira nicht möglich. Warum auch, im eigenen Zelt ist es viel heimeliger. Während wir im Schatten einiger Bäume unser Zelt aufstellen und unsere Siebensachen darin verstauen, parkt neben unserer Parzelle ein deutsches Wohnmobil ein. Anke und Thomas aus Braunschweig sind mit ihrem Hund auf dem Rückweg von ihrem langen Spanien-Portugal-Urlaub und froh, mal wieder "Stimmen aus der Heimat" zu hören.


Und jetzt schlägt mal wieder Jakobus zu: Noch ehe Anni einkaufen gehen kann, um u.a. längst fälliges Hundefutter für Sira zu kaufen, steht Thomas mit einer großen Dose Wildfleisch vor unserem Zelt, "weil etwas Abwechslung auf dem Speiseplan eures Hundes" bestimmt auch nicht falsch wäre. Wie recht er hat! Sira inhaliert den Inhalt der Dose förmlich, zeigt sich aber anschließend nicht so recht dankbar. Den kleinen Hund von Thomas keift sie unentwegt an. Olle Zicke!

Nach dem Hundefutter ergeht das nächste Angebot direkt an uns. Auch unseren Speiseplan schätzt Thomas vollkommen zu Recht als etwas zu einseitig ein und bietet uns dazu die Dienste seines Dampfgarers, Kartoffeln und Möhren liefert er gleich mit. Wie lange habe ich eigentlich keine Kartoffeln mehr gegessen? Und Möhren?!

Schließlich ergibt es sich, dass wir am Abend unsere Tische zusammenstellen und gemeinsam dampfgaren und essen. Zur Abrundung gibt es noch einen Pudding-Nachtisch und eine Flasche Weißwein. Jakobus, das war wieder voller Einsatz!

Ein wenig können wir uns aber revanchieren. Im Laufe des Abends stellt sich heraus, dass Anke ab morgen die letzten etwas mehr als 100 km bis Santiago ebenfalls auf dem Camino pilgern möchte, ein ziemlich spontaner Entschluss. Wir geben Tipps, beantworten einige Fragen und erreichen, dass Anke - mit reichlich Informationen versorgt - dem morgigen Tag mit Spannung und Vorfreude entgegensieht. Um 8 Uhr will sie zu ihrem kleinen Abenteuer Jakobsweg starten.

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Mi

12

Jun

2013

Annika: Oh du schönes Galicien!

Von Laguna de Castila nach A Balsa, 26 km

Mit Sira im Arm bin ich eingeschlafen, mit Sira im Arm wache ich wieder auf. Wir haben es heute Nacht genossen, mal wieder ganz nah beieinander zu schlafen. Wird Zeit, dass wir wieder auf unsere Couch zu Hause kommen.

Überhaupt muss ich sagen: Ich freue mich auf zu Hause! Ich frage viele Pilger, mit denen wir ins Gespräch kommen, ob sie sich auf das Ende der Reise freuen oder nicht. Keiner von ihnen hat die Antwort gegeben, die ich geben würde, wenn man mich fragte. Ich freue mich wirklich. Natürlich, ich genieße diese Reise jeden Tag. Ich genieße die Nähe zu meinem Hund, meinem Papa und der Natur. Außerdem ist das Leben hier so herrlich aufs Wesentliche reduziert: Laufen, Essen, Duschen, Klo, Schlafen. Das ist herrlich.

Trotzdem ist es mir genug. Wir sind gelaufen, wir haben erfahren, wir haben gelernt. Aber jetzt kann ich, wie gesagt, bald einen Haken dahinter setzen. Es ist an der Zeit, das Ziel zu erreichen. Anzukommen nach all der Zeit. Wieder nach Hause zu kommen. Ich freue mich auf meinen Freund. Auf meine Familie. Auf Freunde und anstehende Feierlichkeiten. Auf meine herrliche Matratze. Auf ein anständiges Kopfkissen. Auf eine vernünftige Bettdecke. Auf eine Dusche mit heißem und starkem Strahl, bis ich sie wieder ausdrehe. Auf Körnerbrot mit Fleischwurst. Auf Apfelschorle. Aufs Ausschlafen bis ich von selbst wach werde. Auf den frei im Haus herumlaufenden Hund. Einfach aufs zu Hause sein. In 15 Tagen ist es soweit. Dann geht es heimwärts. Ich freu mich!

Das erste, was Sira am Morgen sieht, als ich die Schuppentür öffne, ist ihr struppiger Spielgefährte von gestern Nachmittag. Sie spielen wieder herzerweichend miteinander, bis wir unsere Sachen gepackt haben und losgehen.

Ich weiß nicht, ob es an der Sonne oder an der Steigung liegt, aber schon auf den ersten Metern geraten wir ganz schön ins Schwitzen. Die Luft ist klar, aber die Sonne scheint auch schon kräftig.

Es geht steil hinauf nach O Cebreiro. Ein kleines ,schmuckes Dörfchen mit Backsteinhäusern. Die ersten Läden für Pilgersouvenirs öffnen gerade erst ihre Pforten, ebenso wie ein Privathaus, aus dem gleich darauf zwei wütend bellende Hunde herausgeschossen kommen. Zeitgleich zieht von rechts eine Katze über die Straße und ich habe mit der Gesamtsituation alle Hände voll zu tun, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich kriege das Ganze in den Griff und wir verlassen O Cebreiro weiter über einen Feldweg den Hügel hinauf. Nach dreihundert Metern bleibt Papa stehen und klatscht sich gegen den Kopf: "Och nää! Pilgerstempel vergessen!" Er stapft weiter: "Ach komm, is egal..." Ist es gar nicht, merke ich. "Soll ich zurück gehen, einen holen?" Papa nickt nur glücklich und ich schmeiße Rucksack und Hund ab und wetze zurück. Ich muss ja sagen, mir bedeutet dieses ganze Gestempel nix. Deswegen trägt Papa immer gleich beide Credencials ("Stempelkarten") bei sich, sodass er gleich für uns beide die Stempel besorgt, die man in Kirchen, Unterkünften, Touri-Infos, Bars oder sogar einzelnen Supermärkten bekommt. Die Stempelkarten legt man in Santiago im Pilgerbüro vor, um dann seine begehrte Compostela, also quasi die Pilgerurkunde zu bekommen. Außerdem sind sie für Viele ein schönes Andenken. Ginge es nach mir, hätte ich wahrscheinlich keine fünf Stempel in meinem Pass. Ich bin für sowas zu bequem. Für jeden anderen gehören bestimmte Stempel eben in einen Pass, unter anderem der von O Cebreiro. So auch für Papa. Ich merke, dass ihm das wichtig ist, also tu ich ihm den Gefallen und ergattere das begehrte Stück.

Mit einem Umweg von einem Kilometer und einer Viertelstunde geht es weiter. Wir genießen die klare Sicht über die galicischen Berge. Ja, richtig gehört, galicisch. Heute haben wir schon eineinhalb Kilometer nach Aufbruch den Grenzstein passiert, der markiert, wo man von Kastilien-Leon nach Galicien übertrifft. Jetzt sind wir endgültig im letzten Teilstück angekommen.

Wir gewinnen immer mehr an Höhe, bis wir schnaufend am Alto San Roque ankommen. Die Statue eines wettergegerbten Pilgers, der sich gegen den Wind lehnt, ziert die Anhöhe. Jeder lässt einen Schnappschuss von sich mit der Statue machen und wir ziehen weiter.

Von jetzt an entscheiden wir uns des Öfteren für die Straße. Der Jakobsweg führt auf Schotterpiste parallel dazu entlang, aber hier kriegt man andauernd Steinchen in die Schuhe, muss immer wieder hoch und runter, Sira hat Pilgerfährten in der Nase und außerdem fährt auf der Straße eh kaum ein Auto. Und der Wheely hat es dort eben einfach leichter. Und das haben wir uns verdient! Fast jeder lässt sich auf den Etappen, die wir gestern und heute gemacht haben, sein Gepäck transportieren, aber wir sind hart geblieben. Ganz oder gar nicht, das ist das Motto, wenn Papa mit seiner Karre die steinigen Holperpisten hochrumpelt. In guten wie in schlechten Zeiten eben...

Seicht geht es bergab ins Dorf Hospital da Condesa. Wir sind so mit der Suche nach einem geeigneten Rastplatz beschäftigt, dass wir den riesigen Schäferhund-Husky-Mix nicht bemerken, der im nächsten Moment mit seiner gesamten Masse ungebremst in seine Kette springt, die einen halben Meter vor uns endet. Er bellt aggressiv, gestresst und mit einer Lautstärke, die uns das Blut in den Adern gefrieren lässt. Sira geht gefasst vorbei, wir hinterher und setzen uns unweit davon in die Pilgerbar. Bei jedem Pilger, der vorbei kommt, hören wir ihn wieder ausrasten und ich habe Mitleid mit dem Ungetüm. Es ist gemein, ihn hier festzumachen, wenn er doch offensichtlich mit dem nie verebbenden Strom neuer Leute Probleme hat. Kann man ihn denn nicht z.B. auf der anderen Hausseite anketten? So kann er ja nie zur Ruhe kommen, ebenso wenig die Pilger, die vorbei laufen. Von den Anwohnern mal ganz zu schweigen...

Nachdem wir aus dem Ort raus sind, steigt der Weg wieder an. Und dann soll man plötzlich von der Landstraße ab, um ein Stück bergab zu gehen, wo wir doch eigentlich geradewegs auf den Alto de Poio, den höchsten Punkt des galicischen Jakobsweges mit 1337 hm zusteuern. Neenee, nix da! Wir bleiben bis zum Pass auf der sanft ansteigenden Straße, während wir rechts unter uns die armen Pilger den steilen und steinigen Geröllpfad hinaufkriechen sehen. Hm, selbst Schuld...

Vom Alto de Poio haben wir eine wundervolle Rundumsicht über die Berge Galiciens.

Sira kann den Ausblick mal wieder gar nicht genießen. Der Schäferhund der ortsansässigen Bar kommt auf sie zu und möchte sie begrüßen. So richtig kann sie das immer noch nicht gut haben. Nachdem sie ihn ein paar Mal angestänkert hat, sucht der alte Mann das Weite. Wieder einen Schäferhund überlebt!

Als wir hinabgestiegen sind nach Fonfria, steht auf einmal eine alte Bäuerin vor uns und redet auf Spanisch auf uns ein. In ihrer Hand balanciert sie einen Teller frisch gemachter heißer Crepes. Als sie sieht, dass wir nicht abgeneigt sind (wie könnten wir auch?!?), läuft sie rein und holt Zimtzucker, den sie hektisch über die Leckereien pudert. Schon hat sie wieder eine Hand frei, um wild gestikulierend um Spenden zu bitten. Soll sie haben, wir haben ja schließlich auch was bekommen... Auf dem Weg aus dem Dorf hinaus lassen wir uns die Pfannekuchen gut schmecken. So richtig bäuerlich. Der leicht saure Geschmack der frischen Kuhmilch kommt deutlich heraus. Mir gefällts!

Durch kleine Dörfer mit herrlichen Aussichten klettern wir hinab nach Triacastela. Außer einem kleinen Einkauf und einer kurzen Pause halten wir uns hier nicht lange auf. Unsere Unterkunft wartet!

Durch ein kleines Flusstal und mit plötzlich weitaus mehr Steigung als wir erwartet hatten, gelangen wir endlich nach A Balso, wo wir in unserer Herberge "El Beso" von den Betreibern Jessica, einer Italienerin, und Mareyn, einem Holländer, in Empfang genommen werden. Sira findet gleich Gefallen an der hochträchtigen Katze des Hauses, während Circo, der freundliche Haushund ihr völlig egal ist.

Die Katze rennt davon und wir sind völlig begeistert von der Gelassenheit und Herzlichkeit der Hospitaleros. Sie bieten uns die Möglichkeit, entweder in ihrem Garten oder in einem Zimmer im unrenovierten Teil ihres wunderschönen alten Hauses zu schlafen, selbstverständlich für lau. Die Faulheit und die Tatsache, dass man unter uralten riesigen Kastanien wegen der Pieksgefahr nur schlecht schlafen kann, lassen uns das Zimmer wählen. In diesem Haus ist alles, was bisher gebaut oder renoviert wurde, Marke Eigenbau. Mareyn hat viel Mühe hineingesteckt. Vor allem das Badezimmer mit gefliestem Treppenaufgang zu Klo und Ökodusche gefallen mir. Und auch das Plumpsklo im Garten hat was... Während die zwei uns herumführen und die weiteren Renovierungspläne preisgeben, wächst in mir der Wunsch, in drei oder vier Jahren noch einmal hier vorbei zu kommen, um zu sehen, wie die Pilger in dem bis dahin renovierten großzügigen Wohnraum mit offenem Kamin sitzen und die Gastfreundschaft genießen. 

Dass die beiden Gastgeber selbst ehemalige Pilger sind, merkt man gleich. Hier geht es nicht darum, sich an den Pilgern zu bereichern, sondern darum, dass man sich wohl fühlt.

Um meinen Geldbeutel zu schonen und mein Rucksackgewicht wieder ein bisschen schrumpfen zu lassen, koche ich für mich selbst, während Papa mit den anderen das Pilgermenü genießt. Aber langweilig wird mir nicht, denn schon bald gesellen sich Jessica und Mareyn zu mir, geben mir ein Weinchen aus und ich kann sogar noch ungefragt einen Nachtisch abgreifen. Wir unterhalten uns viel und bekommen sogar noch den einen oder anderen Tipp für die letzten paar Kilometer bis zum Ziel.

Am Abend ist wieder mal die Gelegenheit für Sira, ganz nah bei mir zu sein, ganz ohne Zelte, Betten oder sonstigen Schnickschnack. Sie legt sich fast auf mich. Alles ist gut!

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Di

11

Jun

2013

Annika: Immer weiter hinauf!

Von Trabadelo nach Laguna de Castilla, 18 km

Der Wecker steht auf halb sechs. Bis um sechs drücke ich ihn im Fünf-Minuten-Takt weiter. Es war spät, als ich abends das Licht ausgemacht habe, deswegen komme ich heute schlecht aus dem Bett.

Ich weigere mich, die Wolken am Himmel zu akzeptieren. Mit einer Handvoll Zuversicht creme ich mich mit Sonnencreme ein. An dieser Stelle sei gesagt, dass ich es auch nach vier Monaten Pilgern immer noch schaffe, mich morgens völlig falsch auf das Wetter des Tages vorzubereiten. Wenn es regnet oder zumindest wolkig ist, benutze ich Sonnencreme, bei strahlender Sonne liegt sie ganz unten im Rucksack und ich schwitze mich im Fleece und langer Hose kaputt. Wenn es kalt und windig ist, trage ich das kürzeste Höschen und erfriere fast. Das kann doch wohl nicht wahr sein!

Papa wundert sich, als ich frisch eingecremt und in Shorts vor ihm stehe (gestern war mir wirklich zu warm!), während er sich seine Hosenbeine anzippt. Bevor wir losgehen gebe ich auf und tausche kurze gegen lange Hose. Und tatsächlich wird mir nicht zu warm. Juhu, wenigstens einmal (wenn auch nur mit Verspätung) richtig gekleidet.

Die ersten zehn Kilometer des heutigen Tages steigen wir nun stetig leicht bergan, bevor es richtig zur Sache geht. Zweieinhalb Kilometer lang laufen wir auf einem Streifen neben der Landstraße, immer wieder den Fluss kreuzend und mit der Autobahn stets über unseren Köpfen.

Als wir die Landstraße verlassen können, kleckert es sich von da an von Dörfchen zu Dörfchen. Das ist gut, das ist wie kleine Teilziele, die man immer wieder abhaken kann, während man sich Meter für Meter hochschraubt.

Schon im ersten Dorf merken wir: Die Katzen sind heute besonders gut drauf. Sie sitzen da, räkeln sich auf der Straße, belecken sich und verschwenden keinen Gedanken daran, sich in Sicherheit zu bringen. Das geht den Rest des Tages so.

Gleich im ersten Dorf, in Portela, kommt es zu einer weiteren spannenden Begegnung: Ein Schäferhund kreuzt unseren Weg. Schon auf den ersten Blick sehe ich, dass dieses freilaufende, nicht besonders große und vermutlich junge Rüdenexemplar freundlich gesinnt ist. Als er allerdings schwanzwedelnd auf uns zugerannt kommt, schlägt mein Herz trotzdem bis zum Hals. Egal, das müssen wir jetzt aussitzen. Ich bitte Papa, stehenzubleiben, während Sira und ich unserer größten Angst ins Auge blicken. Immer wieder lobe ich sie, wenn sie ihn wieder einen Schritt näher an sich ran lässt. Nach guten fünf Minuten hat sie es geschafft. Sie dürfen sich beschnuppern, jetzt geht es nur noch ums  Spielen. Kurze Zeit später verlassen wir beflügelt den Ort des Geschehens. Wir haben es geschafft! Ich bin stolz auf uns!

Glücklich laufen wir weiter, immer im Pilgerstrom der Straße nach, durch Ambasmetas, Vega de Valcarce, Ruitelán und Herrerías, bevor es dann ab Hospital endgültig steil wird. Allerdings verläuft die Steigung die ersten zweieinhalb Kilometer noch auf der Teerstraße, sodass Papa nicht besonders viel Mühe hat. Als wir dann aber auf einen Feldweg nach links abzweigen, sind wir erstmal beleidigt. Wieso geht es denn hier jetzt auf einmal steil und steinig bergab? Nur um das dann nachher auch noch wieder alles raufklettern zu müssen? Aber wir haben keine Wahl.

  Bald wird der Pfad steinig, felsig und steil. Papa bekommt Sira umgeschnallt und den Stock in die Hand gedrückt und ich schiebe von hinten unser Vehikel. Gemeinsam sind wir stark! Zusammen schaffen wir es tatsächlich bis ins Dorf La Faba.

Zeit für eine Pause! Wir sparen uns das Café, suchen uns einfach nur eine Bank. Gleich neben der einzigen Sitzgelegenheit stehen vor einem urig aussehenden Haus auf einem Tisch Thermoskannen mit Kaffee und Tee. Ein junger Mann mit vereinzelten Dreadlocks und einer sonst sehr wilden Frisur ruft: "Hier könnt ihr Euch gerne was nehmen!" Der Tee hat einen eigenartig würzigen Geschmack. Sira hat die Hunde des Hauses schon längst abgecheckt und jeder liegt in seiner Ecke und schläft. Das Haus, vor dem wir hier sitzen, ist die nicht so ganz legale Donativo-Herberge vom deutschen Auswanderer Marcel. Er selbst ist gerade nicht da, aber die Jungs hier machen ihren Vertretungsjob gut. Schon der erste Blick in die urgemütliche Wohnstube macht klar: Auch das hier ist einer dieser unglaublich kraftvollen Plätze, wie wir sie in der letzten Woche schon öfter erleben durften. Es riecht nach den Kräutern aus ihrem Garten, mit denen sie den Tee aufbrühen, in der Mitte des Raumes thront ein riesiger Mühlstein, daneben ein Bett, es ist dunkel, irgendwie eng und körmelig, aber urgemütlich.

Der Schlafraum für die Pilger ist ähnlich rustikal. Uralter dunkler Holzboden, an einer Raumseite eine steinerne Sitzbank, auf der anderen Seite zwei einfache Betten, darüber vier weitere, an dicken Eisenketten an der Decke hängend. Über eine Leiter gelangt man am Ende des Raumes in das "Badezimmer", ein abgetrennter Bereich, der aussieht wie eine eingelegte Schachtel, mit einem dieser Klos, die man noch oft in Frankreich sieht: Loch im Boden, Trittsteine, das war's. Bo ey, hier ist schlafen eben echt noch Adventure. Aber eben auch alles auf Spendenbasis und mit ganz besonderer Atmosphäre. Und auf jeden Fall was anderes als die langweiligen Pilgerherbergen.

Nach der Besichtigung ziehen wir weiter. Die letzten zwei steilen Kilometer bis zu unserer Unterkunft in Laguna de Castilla stehen bevor.

  Nach einigem Kraxeln sehen wir auch schon unser Etappenziel am Berghang vor uns. Hier stehen kaum zehn Wohnhäuser, allesamt Bauernhöfe. Unserer Schätzung nach wird dieses Dorf einzig und allein von einer Familie bewohnt. Ein Großteil der Söhne oder Schwiegersöhne leben von der Landwirtschaft und ein einziger hat hier eine Herberge aufgemacht. Als wir die ersten revierschützenden Hofhunde heil überstanden haben, stehen wir vor ihr.

Heute wird uns eine Unterkunft der besonderen Art angeboten: Der Container. In dieser übergroßen Blechbox werden eigentlich die Außensitzgruppen der Herberge gelagert. Heute Nacht dürfen wir sie uns zur Seite schieben und unser Bett daneben aufbauen. Das geht auf jeden Fall schneller als Zelt auf- und abbauen. Ist außerdem mal was anderes, also warum nicht? Ich lege die Alumatten aus, darauf unsere Luftmatratzen, dann die Schlafsäcke, zwischen unsere Betten kommt Siras Decke. Ich stelle noch einen der Tische und zwei Stühle zurecht, daneben auf den Boden den Kocher und fertig ist unsere 3-in-1-Wohnung für eine Nacht! Immer wieder kommen Pilger, die in der Herberge schlafen, vorbei, um einen neugierigen Blick auf unsere abenteuerliche Behausung zu werfen. Sie sind beeindruckt: Alles da, was man braucht.

  Sira ist auch sehr zufrieden. Sie begutachtet ihren Schlafplatz, liegt Probe, untersucht Papas Schlafsack, liegt auch da Probe und befindet beides für gut, sodass sie sich für eine Halb-Halb-Lösung entscheidet.

Ihre Ruhe wird ab und an jäh gestört, entweder durch eine Kuh- oder Schafherde, die gemächlich durch den Ort getrieben wird oder durch die Dorfhunde, die immer mal gemächlich vorbei schauen. Der deutsche Schäferhund des Dorfes und einer, der aussieht wie eine Kreuzung aus Hund und Schaf, sind für sie nur kurzzeitig aufregend. Anders ist das bei einem niedlich aussehenden mittelgroßen Struppi, der immer wieder ganz verliebt zu ihr kommt, mit ihr spielt, ihr zart ins Bein beißt, ihr die Ohren leckt oder einfach nur lautlos mit ihr tobt. Es ist so süß, die zwei zu beobachten! Hach, muss Liebe in der Pubertät schön sein!!!

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Mo

10

Jun

2013

Reinhard: "Familien"-Bande

Von Pieros bis Trabadelo, 19 km

Die Nächte im Zelt gewinnen immer mehr an Gemütlichkeit. Die Zeit des Frierens im Schlafsack scheint vorbei zu sein. Ganz im Gegenteil! Manchmal wird es mir sogar zu warm und ich lege mich oben drauf. Ich brauche jetzt nur noch jemanden, der in der Zeit, wo Anni und ich frühstücken, das Zelt abbaut, trockenbläst und alles wieder verstaut.

Um 7 Uhr ist Frühstück. Wie schon gestern Abend beim Abendessen nehmen wir beide es draußen auf der Terrasse ein. Um uns tirilieren die Vögel und Sira und Ollie liegen zu unseren Füßen. Schon heute früh morgens haben die zwei Vierbeiner sich auf unserem kleinen Zeltplatz hinter der Herberge begeistert und schwanzwedelnd begrüßt. Pilgerhunde müssen eben zusammenhalten. Gemeinsam verscheuchen sie sogar während des Frühstücks herumstreunende Hunde und fühlen sich großartig.

Der Abschied von der netten Hospitalera ist herzlich, auch von den anderen Pilgern, die nach uns die schöne Herberge verlassen werden. Einige, unter ihnen Ricarda und die Japanerin Keiko, sind schon lange weg. Andere, u.a. Adriana und ihr Ollie lassen sich noch mehr Zeit als wir, und das will schon etwas heißen. Anni und sie verabreden sich aber in Villafranca del Bierzo, um sich dort in einem Supermarkt gemeinsam einen Vier-Kilo-Sack Hundefutter zu kaufen. Großer Sack ist in Relation gesehen billiger als kleiner Sack, also trifft man Vereinbarungen. Lebenspraktische Mädels!

Recht bald hinter Pieros, auf dem Weg durch die Weinberge, laufen Elli und Holger zu uns auf, ein deutsches Ehepaar, das erst in Ponferrada mit dem Weg begonnen hat. Als sie unsere Höhe erreicht haben, drosseln sie ihr Tempo. "Ist es schwer, mit dem Hund zu laufen? Gibt es Probleme? Wir haben unsere Hunde das erste Mal zu Hause gelassen". Schon einige Male haben wir mit Pilgern hierüber gesprochen. Ist es wirklich ein Riesenproblem, sich mit einem Hund auf den Camino zu begeben? Wir sagen ihnen immer, dass es nicht einfach ist.Dass es ein anderer Camino ist, wenn man ihn ohne einen Hund macht. Aber ein Camino mit Hund ist allemal ein schöner Camino und wir raten jedem, der sich mit dem Gedanken trägt, seinen Hund mit auf den Weg zu nehmen, dies auch zu tun. Gewisse Voraussetzungen sollten aber gegeben sein: Nicht zu alt sollte der Hund sein, gut vorbereitet, kein Beller, möglichst ein Allesfresser und ein Menschenfreund. Auch nicht gerade ein zu kleines Exemplar, denn je kürzer die Beine, umso mehr Leistung wird ihm abverlangt. Ein wirkliches Problem ist die Unterkunftsfrage, das sich aber lösen lässt. Kirchliche oder Gemeindeherbergen nehmen, bis auf sehr geringe Ausnahmen, keine Pilger mit Hund auf. Private Herbergen schon eher, Hostals, Pensionen oder kleine Hotels oft. Also muss man mit einem doch etwas erhöhten Reisebudget rechnen. Die Gerüchte, die mancherorts verbreitet werden, die Spanier seien Hundehasser - alles Quatsch! Es gibt nicht nur die angeketteten Hofbewacher, sondern auch die Streichelhunde, die durch den Park spazieren und abends und morgens Gassi geführt werden. Die Spanier treten Sira freundlicher entgegen als die meisten Deutschen. Die Horrorgeschichten der gefährlichen Straßenhunde sollten sowieso ins Reich der Legenden verbannt werden. Wir haben keine Unterschiede zu Deutschland erlebt. Wer also einen Hund hat und den Camino gehen möchte, sollte sich diese tolle Erfahrung gönnen.

Zusammen mit Elli und Holger, denen wir vielleicht etwas Mut machen konnten, selbst einmal ihre Hunde mit auf den Camino zu nehmen, kommen wir nach Villafranca del Bierzo, dem "kleinen Compostella". Schon hier wurde im Mittelalter den Pilgern der Ablass von ihren Sünden gewährt, wenn sie auf dem Weg erkrankt waren und die Pilgerreise nicht fortsetzen konnten. Die Santiagokirche, direkt am Ortsanfang, machte es seinerzeit möglich. Wer durch die große Seitenpforte schritt, dem war vergeben. Für viele wurde es wohl auch höchste Zeit. Neben der Kirche wurden bei Ausgrabungen die Überreste einer Menge Pilger gefunden.

Auf der Plaza von Villafranca rasten wir kurz in der Sonne, dann kommt auch schon Adriana mit Ollie sowie ihrem gesamten "Gefolge". Gefolge bedeutet, in ihrem Schlepptau befinden sich fünf weitere Pilger unterschiedlicher Nationalität, die zunächst jeder für sich alleine auf dem Weg waren, sich dann aber im Verlauf des Weges irgendwann irgendwo getroffen haben und zusammengeblieben sind. Grundsätzlich eine schöne Sache, aber manchmal ist mir sowas auch etwas suspekt. Wenn man gar nicht mehr aufhören kann, sich als "eine große Familie" zu bezeichnen, wenn man sich bei jeder Gelegenheit in den Armen liegt, ja abküsst, dann ... Bekommt man dann noch die Kurve, wenn man doch mal alleine für sich oder sogar mal einen ganzen Tag alleine gehen möchte? Fühlt man sich dann nicht als ein Verräter an dieser Art von "verschworener Gemeinschaft"? Will man diesen Gruppenzwang über Wochen wirklich?

Anni kauft mit Adriana wie vereinbart im nächsten geeigneten Laden einen 4-Kilo-Sack Futter und beide teilen schwesterlich. Dann ziehen Anni, Sira und ich weiter, die "Familie" zieht sich zum Kaffeetrinken in eine Bar zurück.

Als wir Villafranca verlassen, haben wir zwei sehr unterschiedliche Möglichkeiten, nach Trabadelo zu gelangen. Der reguläre Weg wurde schon vom Pilger der Nation, Hape Kerkeling, als nervig und gefährlich beschrieben, lief er doch eng an einer vielbefahrenen Straße vorbei. Auch wenn diese Strecke inzwischen entschärft ist, so hält sich unsere Begeisterung für diesen eher zumindest doch langweiligen Streckenabschnitt in Grenzen. Wir entscheiden uns für den Camino Duro, den harten Weg, der nur geübten "Caminonistas" empfohlen wird. Wenn WIR nicht unter die Rubrik "geübt" fallen, dann weiß ich es nicht.

Es geht steil bergauf. Es geht sehr steinig steil bergauf. Wir kommen ins Schwitzen, zumal die Sonne ihren guten Teil dazu beiträgt. Schatten ist eher selten, dafür die Aussicht auf die Bergwelt herrlich. Wenn einmal ein Baum etwas Schatten liefert, halten wir an, um Sira mit Wasser zu versorgen, uns auch. Die Wasservorräte schwinden dramatisch. Jetzt rächt es sich, dass wir versäumt haben, in Villafranca nachzutanken. Folge: Wir müssen einen Umweg über ein kleines Dorf etwas abseits des Camino Duro machen, um uns dort mit Wasser zu versorgen. Kein Beinbruch, wir verbinden es mit einer Rast bei der örtlichen kleinen Bar. Kleines Dorf bedeutet aber auch wiederholten Katzenalarm. Richtig erholsam wird für Anni die Rast nicht.

Den Rest des heutigen Weges geht es abwärts. Erst gemäßigt, dann äußerst knieunfreundlich. Aber unser mittlerweile fast viermonatiger Dauerbelastungsselbstversuch lässt uns das auch mit Gelassenheit ertragen.

In unserem preiswerten Wohlfühl-Appartment in einer Casa rural steht die Belohnung für uns bereit: eine große Schüssel frisch gepflückter Kirschen.

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So

09

Jun

2013

Annika: Siras Weggefährte

Von Molinaseca nach Trabadelo, 19 km

Es ist warm in unserem Gartenhäuschen! Die ganze Nacht über. Endlich! Als ich morgens den Gang ins Bad antreten will, stehe ich vor dem gleichen Problem wie so oft: Abgeschlossen! Keine Chance, in die Herberge zu kommen, bis jemand aufmacht. Toll, geh ich halt fürs kleine Geschäft in den Busch und zum Zähneputzen muss, zum zweiten Mal hintereinander, die Trinkflasche herhalten. Als ich kurz vor unserem Aufbruch das Herbergsgelände durchstreife, finde ich die Außen-Sanitäranlagen. Toll! Beim nächsten Mal sollte ich auf sowas wirklich eher achten!

 

Ricarda steht pünktlich zur vereinbarten Zeit vor unserem "Haus" und wir laufen raus aus der Stadt. Kurz nach uns laufen auch Adriana und Ollie los, das andere Hundepilgerteam. Wir haben quasi beide in der gleichen Herberge übernachtet. Ollie unterscheidet sich in einigen Punkten ganz gehörig von unserer Sira. Zum Einen trägt er zwar die gleiche Fellfarbe und Größe, ist aber doppelt so schwer wie Sira. Zum Anderen ist Adriana damit gesegnet, dass er in keinster Weise am Jagen interessiert ist. Außerdem hat er keine Probleme damit, alleine gelassen zu werden.

 

Also kann Adriana in den Schlafsaal, während Ollie einfach bei sperrangelweit offener Außentür am Kamin im Aufenthaltsraum schnarcht. Und trotz einiger Unterschiede und Revierzankereien verstehen sie sich blendend. Ein Glück! Denn wir wissen an dem Morgen schon, dass wir abends wieder die gleiche Herberge teilen werden. Hundefreundliche Herbergen sind auf diesem Weg eben doch abgezählt. Aber so lange wir alle immer noch einen Schlafplatz finden ist ja alles gut und die Hunde sind glücklich, weil sie endlich mal einen Gefährten haben, der ihnen länger erhalten bleibt als die kurzen Pausenbekanntschaften.

 

Der anfängliche Weg gestaltet sich nicht übermäßig aufregend. Immer an der Straße entlang. Naja, das Gute ist ja: Es ist Sonntagmorgen. Kaum ein Auto begegnet uns. Wie das immer so ist, wenn man mit "Fremden" wandert: Man hat viel zu quatschen und die Kilometer machen sich fast von allein. Wir laufen den Hügel hinunter und auf Ponferrada zu, durch den Vorort Campo und über die alte Steinbrücke über den Fluss Boeza, bis wir an der Templerburg ankommen, einem beeindruckenden mittelalterlichen Bauwerk. Sie diente seinerzeit dazu, den Weg der Pilger zu sichern. Außerdem waren die Templer so etwas wie die ersten Bankautomaten. Man konnte bei ihnen Geld abholen, führte dadurch natürlich immer nur kleinere Mengen Bares mit sich und war deshalb für Diebe weniger interessant.

 

Zur Pause setzen wir uns gemütlich vor eine Bar. Irgendwann registrieren wir von Weitem eine wild mit den Armen rudernde Pilgerin. Obwohl das Wetter schön ist, trägt sie ihren orangefarbenen Poncho über dem Rucksack. Moment mal, diesen Poncho kenn ich doch... Und tatsächlich: Es ist Ingrid, die Belgierin, mit der wir vor gefühlten Monaten, kurz vor Santo Domingo de la Calzada, ein Stück gelaufen sind und uns super verstanden haben. Damals hat sie spontan einen Ruhetag einlegen müssen, weil ihre Knie nicht mehr wollten. Wir dachten, wir sehen uns nicht mehr wieder und sie holt den Rückstand nicht mehr auf, aber jetzt ist sie tatsächlich hier! Die Wiedersehensfreude ist groß. Wir laufen spontan zusammen weiter und erzählen, wie es uns in den vergangenen Tagen ergangen ist. Gemeinsam mit Ricarda bringen wir außerdem das Thema "Endspurt" an den Tag.

 

Bald ist es soweit. In drei Wochen liege ich (hoffentlich schon) frisch geduscht und mit frisch gewaschener Wäsche vorm Fernsehen. Freuen wir uns auf das Heimkommen? Was erwarten wir? Was erwartet uns? Was haben wir mitgenommen, gelernt von dieser Reise? Was haben wir genossen? Also, ich muss sagen, ich freue mich auf zu Hause! Meine Tage hier sind um, es war schön und außergewöhnlich, ich bin daran gewachsen, aber so langsam muss ich sagen: Es reicht mir. Ich kann einen Haken dahinter machen. Denn ich freue mich auf zu Hause und alles, was dazugehört! Und das ist eine Menge wert!

 

Während wir so in die Gespräche vertieft sind, verfliegen weitere Kilometer, aus der Stadt heraus, an der Straße entlang, bis nach Fuentesnueva, wo die nächste Rast ansteht. Eine Katze foltert Sira mal wieder mit ihrer Anwesenheit. Gemeinsam sind wir stark! Schwupp!- stehen vier Stühle und ein Tisch hinter der Hausecke und wir verbringen doch noch eine erholsame Pause im toten Winkel vor der Bar. Als wir in Camponaraya auf einen Anstieg in der Sonne zusteuern, der uns heile über die Autobahn bringen soll, müssen wir halten: Zip-off-time! Die Mädels haben Hitze und müssen dringend etwas loswerden, zumindest die langen Hosenbeine! Ich gönne uns nur ein kurzes Verschnaufen und ein Wässerchen für Sira, dann gehts weiter.

 

Bei der letzten Pause war ich einigermaßen geschockt, dass wir noch so viele Kilometer vor uns haben für heute. Wir haben gerade mal die Hälfte geschafft! Ojeoje, das kann ja noch ein langer Nachmittag werden! Durch Weinhügel und Wäldchen laufen wir nach Cacabelos, wo wir Ingrid an der Gemeindeherberge abladen. Sie möchte in einer der originellen Zweibettboxen schlafen, die den runden Hof um die Kirche herum einrahmen. Ricarda, Papa und ich laufen das letzte Stück noch bis zum Dorf Pierzo, wo eine einzige kleine Herberge uns mit Hund bei der Telefonanfrage akzeptiert hat. Wir haben also zwei Betten reserviert und irgendwie würde man das mit dem Hund auch schon hinkriegen.

 

Als wir ankommen, sehen wir schon das drohende Schild an der Zufahrt: "completo!" Kein Problem, unsere Betten haben wir... Dann mal wieder die Ernüchterung: Kein Hund im Haus. Ok, gehe zumindest ich also ins Zelt... Kurz nach uns kommt eine abgekämpfte kleine Japanerin dazu und fragt, ob es wohl noch ein freies Bett gäbe. Glück gehabt, denn meines ist ja gerade frei geworden. Keiko ist so glücklich, dass sie nicht noch vier Kilometer weiter muss, dass sie uns ihre Tüte frisch gekaufter Kirschen schenkt. Bald laufen auch Adriana und Pilgerhund Ollie mit einem Pulk Pilgerfreunden ein. Kurz wird es stressig und laut. Zwanzig Leute, die durcheinanderschnattern und laufen, dazwischen zwei Hunde, die sich gerade nicht ganz klar sind, wer hier jetzt Hausrecht genießt. Es wird laut, die zwei stänkern sich an (vor allem Sira, denn sie war schließlich zuerst da), und alle Menschen haben gehörigen Respekt bis Angst. Jeder bezweifelt, dass wir heute Nacht auch nur ein Auge zutun. Blutige Auseinandersetzungen werden erwartet. Adriana und ich bleiben als einzige cool. Wir gehen hinters Haus mit unseren Krawallnudeln, kümmern uns um unsere Zelte und die Hunde werden sich schnell einig und landen im Spielmodus. Noch zwei oder dreimal im Laufe des Abends müssen die zwei mit kurzen Bell-, Knurr- oder Schnappattacken die Fronten klären.

 

Den Rest des Abends, beim Essen, vor den Zelten oder bei der gemütlichen Gitarrenrunde liegen die zwei gelassen einen Meter voneinander entfernt, schlafen und sind zufrieden. Hätte EIN MENSCH das vor einem halben Jahr für möglich gehalten?!?

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Sa

08

Jun

2013

Reinhard: Achtung Radpilger!

Von Manjarin bis Molinaseca, 18 km

Gestern Abend noch war es auf der Bettenetage in Lau-Buru lecker warm. Der Kamin aus der Wohnküche heizte Flavia, Carmen und mir, die oben schliefen, ordentlich ein. Bei Anni, die sich unten neben dem Esstisch auf meiner Luftmatratze lang gemacht hatte, um bei Sira sein zu können, waren die Temperaturen angenehmer. In der Nacht ändert sich das allerdings. Das Kaminfeuer geht aus und die Kälte von draußen kriecht durch die sehr wohl vorhandenen Ritzen des Hauses bis in die Schlafsäcke bzw. unter die Decken. Stichwort "Decke". Das Exemplar, mit dem ich mich zudecke, scheint aus Stacheldraht gewebt zu sein. Jedenfalls kratzt es fürchterlich. Auf die Idee, mir mit entsprechender Kleidung die Extremitäten zu bedecken, komme ich nicht. Leise Flüche verhelfen mir aber immer wieder in den Schlaf. Leider schlägt zusätzlich der gute Tee vom Abend doppelt und dreifach zu und ich halte mich während der Nacht dran, in Unterwäsche das Plumpsklo draußen um die Hausecke herum zu berennen. Ein Frischeerlebnis der besonderen Art. Auf einer Höhe von 1150 m ü.NN. und schlechtem Wetter kein Wunder.

Als ich etwas später als üblich morgens unter der Stacheldrahtdecke hervorkrieche, ist Paco gerade dabei, den Kamin wieder anzuheizen und das Frühstück zu bereiten. Zu allererst drückt er mir eine heiße Tasse Kaffee in die Hand und brabbelt dabei etwas auf Spanisch. Ich meine herauszuhören, dass das so gut sei wie eine heiße Dusche - und ich muss ihm Recht geben. Eine Dusche gibt es hier sowieso nicht. Rationiertes Trinkwasser wird aus einem Brunnen herbeigeschafft, Nutzwasser wird aus dem Regenwasserbehälter abgezapft. Beides ist eiskalt und nur für die ganz Harten. Zum Zähneputzen und Benetzen der Augenwinkel reicht mir heute Morgen der Rest aus meiner Trinkflasche - natürlich outdoor.

Als ich von draußen in die langsam wärmer werdende Stube zurückkehre, hat sich Anni gerade aus dem Schlafsack gepellt. Wenig später kommen auch Flavia und Carmen die Stiege runtergeklettert und setzen sich mit uns und Paco an den Frühstückstisch. In aller Ruhe greifen wir bei Toast und Marmelade zu, denn heute haben wir Zeit. Es sind nur 18 Kilometer, meist die Straße hinab, die Unterkunft ist reserviert, da hetzt uns keiner. Um kurz vor 10 Uhr ist es dann doch soweit. Wir müssen Abschied nehmen von diesem besonderen Haus und diesen netten Menschen. Von Flavia und Carmen bekommen wir beide jeder ein kleines Abschiedsgeschenk: einen kleinen Zettel mit einem Bibelvers. Beide sind gläubige Adventisten. Anni und ich sind gerührt und drücken beide herzlich. Paco schießt noch ein paar Fotos für seine Homepage, wir noch alle von uns gegenseitig für uns zur Erinnerung. Schließlich sind wir weg. Als wir etwas bergan nochmal auf das kleine Haus zurückblicken, wissen wir, dass wir hier einen besonderen Ort erlebt haben.

In Manjarin gibt es noch einen besonderen Ort: die Herberge von Tomás. Tomás wollte 1993 eigentlich nach Santiago, entschied sich dann aber, in der Einsamkeit des Bergdorfes Manjarin zu bleiben und, in der Tradition der Tempelritter, für die Pilger zu sorgen. Inzwischen war er selbst auch schon in Santiago, sorgt sich aber, mittlerweile mit einigen Gleichgesinnten, immer noch. Wie weit er sich um seine zahlreichen Hunde auch noch kümmert, weiß ich nicht, jedenfalls stromern diese in großer Zahl zwischen den Holzhütten und kaum noch bewohnten kleinen Steinhäusern herum und erschrecken die Pilger. Die bulligen Exemplare an den Ketten tun das nicht minder. Alle zusammen jagen jedenfalls den Pilgern, die sich gerade von Tomás' zweifellos uriger Herberge aus auf den Weg machen wollen, einen gehörigen Schrecken ein, als sie unsere tapfer vorbeiziehende Sira verbellen.

Das Wetter ist gewöhnungsbedürftig. Offensichtlich befinden wir uns hier oben in den tief hängenden Wolken, denn die Sicht beträgt kaum 50 Meter. Wir haben jetzt die Wahl zwischen der sich ins Tal windenden und wenig befahrenen Straße und einem zum Teil parallel verlaufenden, zum Teil auch mal steiler abfallenden steinigen Pfad. Schon Paco hat mir wegen des Wheelys die Straße empfohlen und (manchmal) lasse ich mir gerne was sagen.

Von den beschriebenen herrlichen Fernblicken über Teile der Montes de León erkennen wir natürlich überhaupt nichts. Wir durchdringen nur eine dicke Nebelsuppe. Während wir schweigend einhergehen und mein Wheely ruhig über die Straße rollt, vernehmen wir auf einmal ein störendes Klick - Klack - Klick - Klack ..., verbunden mit einem Flöten, das wohl ein Lied ergeben soll, aber mangels einer Melodie nur absolut nervtötend ist. Ein Mann spurtet auf dem Pfad neben der Straße an uns vorbei und sondert diese Geräusche ab. Ein wenig erinnert er mich daran, wie ich als Kind früher manchmal in den dunklen Keller musste, um Kohlen heraufzuholen. Vor Angst habe ich damals auch gepfiffen oder gesungen. Vielleicht hat der liebe Pilger ja Angst alleine im dichten Nebel?

Während dies zwar nervend, aber im Prinzip harmlos ist, bringt mich eine andere Situation in Wut. Ein junger Radpilger kommt plötzlich im dichtesten Nebel die abfallende Straße heruntergeschossen. Selbst bei gutem Wetter wird für diesen Streckenabschnitt in den Jakobsweg-Führern zur äußersten Vorsicht und umsichtigen Fahrweise gemahnt. Aber dieses Bürschchen setzt sich über alles hinweg und gefährdet damit sich und andere. Eine Stunde später berichtet uns eine Pilgerin von einem anderen Radpilger, der entgegen aller Warnungen auf einem sehr steil abfallenden Teilstück des Hauptpfades viel zu schnell unterwegs war. Fast wäre er auf eine Pilgergruppe aufgefahren, weil er nicht mehr bremsen konnte. Nur durch ihr geistesgegenwärtiges Beiseitespringen konnten die Fußpilger Schlimmes verhindern. Krankenwagen sind in diesem Abschnitt des Weges häufig wegen verletzter Radpilger im Einsatz, sogar einen Toten hat es schon gegeben. Er war Deutscher.

Ich will mich ja gar nicht grundsätzlich über die Radpilger beschweren, gar nicht mich einklinken in das Klagelied vieler Fußpilger, die das Pilgern per Rad in Frage stellen. Jeder soll es so tun, wie er möchte. Manchmal wünschte ich mir von einigen dieser Gattung nur etwas mehr Rücksichtnahme. Immer wieder kommt es vor, dass wir plötzlich von einem von ihnen überholt werden, ohne ihr Herannahen bemerkt zu haben. Ein unbedachter Schritt zur Seite im falschen Moment hätte schon das eine oder andere Mal fast zu unangenehmen Folgen geführt. Ist es verboten, eine Klingel mitzuführen und damit eine Überholabsicht anzukündigen? Es genügt doch sogar ein fröhliches "Halloohooo!" und man tritt gerne zur Seite. Einige tun das ja auch, viele grüßen mit einem verbindenden "Buen Camino!", aber lange nicht alle.

Schöner ist die Begegnung wenig später. Hinter uns taucht auf einmal ein schlankes junges Mädchen aus dem Nebel auf. Es ist Ricarda. Seit einigen Tagen haben wir sie nicht mehr gesehen, jetzt ist sie auf einmal wieder da. Das ist eben der Camino! Bis zur Unterkunft bleiben wir heute zusammen.

Und noch eine schöne Begegnung: Im schönen Örtchen El Acebo mit seinen in die Gassen vorstrebenden Holzbalkonen treffen wir auf die Spanierin Adriana mit ihrem Hund Olli, einem Labrador-Retriever. Noch ein Pilgerhund! Mit strahlendem Gesicht sagt sie, dass sie von uns unterwegs schon gehört habe. Sie sei sogar schon mit Anni verwechselt worden. Ob sie nicht auch mit ihrem Vater auf dem Camino sei. Herrlich, oder? Etwas später kommt uns die Überlegung, ob wir von nun an nicht mit Adriana und Olli in einen Unterkunftswettlauf eintreten werden. Aber ich denke, unter Hundefreunden werden sich Wege (und Betten) finden lassen.

Hinter Riego de Ambrós verlassen wir die Straße. Mein Wheely muss mal wieder Geländegängigkeit beweisen und ich die Fähigkeit, mit ihm umzugehen. Nach der Meseta und dem gestrigen leichten Aufstieg nach Manjarin, ist jetzt mal wieder Leistung gefragt. Und das nicht zu knapp! Der steile und sehr steinige weitere Abstieg nach Molinaseca hinab verlangt uns einiges ab. Wir beide werden ordentlich durchgeschüttelt. Ein weiteres Mal beweist sich die gute Qualität von Fritz Kleinerts Gefährt. Na ja, und mit meiner Qualität bin ich eigentlich auch ganz zufrieden. Langsam und bedächtig seile ich mich mit Wheely ab, während Anni, Ricarda und Sira munter den Pfad hinunter hüpfen.

Guter Dinge und unverletzt erreichen wir am frühen Nachmittag Molinaseca, kommen über die alte Römerbrücke in das Herz der kleinen Stadt hinein und durchqueren sie durch die Gasse, die die Pilger bereits im Mittelalter benutzt haben.

Am anderen Ende des Ortes steht die Albergue municipal. Gewöhnlich sind Gemeindeherbergen kein Ort, wo Pilger mit Hunden unterkommen. Hier ist das anders. Am Rande einer großen Wiese steht ein kleines Gartenhäuschen mit nicht mehr als zwei Betten drin. Genau das Richtige für uns Drei! Wir haben genug Platz, stören niemanden und haben unsere Ruhe.

Und jetzt bitte festhalten! In dieser Herberge hat im Jahre 2000 Kardinal Ratzinger, unser späterer Papst Benedikt, übernachtet. Vielleicht haben wir beide sogar dieselbe Dusche benutzt!? Im Gartenhäuschen hat er aber bestimmt nicht geschlafen.

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Fr

07

Jun

2013

Annika: No Peanutbutter, but paradise!

Von Santa Catalina nach Manjarin, 24 km

Wir haben sie überlebt! Auch hinter die gefährlichen Straßenhunde der Geisterstadt Foncebadón können wir einen Haken setzen. Wir sind einfach gut!

Am Morgen schaffe ich es tatsächlich mal, mich um sechs Uhr aufzuraffen. Geplant war Viertel vor sechs. Na, da sind wir doch schon nah dran...

Wir haben einen frühen Aufbruch geplant, denn schließlich steigen wir heute auf zum Cruz de Ferro, einem der bekanntesten Punkte des gesamten Jakobsweges. Wir starten auf 977 hm und steigen auf auf 1517 hm. Wir wollen früh los, um diesen harten Anstieg ruhig angehen zu können, zumal wir ja auch abends wieder das Zelt aufbauen wollen.

Überraschend früh kommen wir tatsächlich los. Um halb acht verlassen wir Santa Catalina. Die meisten anderen Pilger aus unserer Herberge sind noch nicht unterwegs. Sie gehen wahrscheinlich nur bis Rabanal und lassen es deshalb ruhig angehen. Auch mal was Neues, dass wir zu den frühen Pilgern gehören...

Zeitgleich verlassen mit uns zwei asiatische Männer und eine Frau die Herberge. Einer der Herren stürzt sich mit einem Kampfschrei in die Tagesetappe. So geht's natürlich auch...

Der Weg verläuft heute morgen auf einer Piste parallel zur Straße. Das ist mir zu albern. Außerdem nimmt Sira weniger Pilgerwitterung auf, ich hab keine Steinchen im Schuh, der Wheely fährt wie von selbst und hier fährt quasi eh kein Auto. Also ist es entschieden. Bis ins Dorf El Ganso laufen wir über die Landstraße. Der bedeckte Himmel kann die einsame Schönheit der buschig-trockenen Maragateria nicht trüben. Die Hügel, die uns umgeben, tragen das rauhe Grün der unbezwingbaren, ertraglosen Wildnis. Vereinzelte Bäume sind zu sehen, mal auch ein ganzes Wäldchen, aber größtenteils sieht man Gestrüpp und Buschwerk. Der Boden ist felsig und steinig. Einfach schön!

Nach El Ganso entscheiden wir uns mal für die Straße, mal für den parallelen Pfad, bis wir Rabanal del Camino erreichen. Als wir fast den Ortsausgang erklommen haben (es geht heute wohl doch eher seicht und stetig bergauf statt kurz und steil), gönnen wir uns eine Pause im letzten Café des Ortes. Papa trinkt Kaffee, ich Cola und brüderlich teilen wir drei den Frischkäse unter uns auf, Papa und ich auf Brot, Sira direkt aus der Packung.

Die Uhr schlägt elf, als wir uns an die letzten sechs Kilometer nach Foncebadón begeben. Mein Gott, was sollen wir denn mit dem Rest des Tages noch anfangen? Naja, laut Papas Aussage geht es von jetzt an ja auch erst richtig zur Sache. Jetzt kommen die ECHTEN Höhenmeter. Ich bin gespannt. Oder besser gesagt, ich habe Respekt. Meine merkwürdige Sommergrippe beeinflusst mich auch heute noch. Schon die kleinen Aufstiege bringen mich ans Hecheln. Also mache ich gaaaanz langsam. Papa nimmt mir heute mal wieder zur Entlastung Sira für eine ganze Weile ab. Als sich die beiden abwechselnd gegenseitig den Berg raufziehen, gebe ich auf. Sollen die ruhig mal machen. Ich gehe mein Tempo.

Der Pfad ist weitaus weniger steil ansteigend und geröllig als ich erwartet hatte. Im Gesamten fühle ich mich gut, als wir Foncebadón erreichen. Ich könnte glatt noch weitergehen nach Manjarin, in dem eine rudimentäre Templerunterkunft, von der ich im Reiseführer gelesen habe, doch sehr reizt. Als ich Papa noch vorm Ortseingang von meiner Idee erzähle, ist er nicht so richtig überzeugt, denn er traut meinem Gesundheitszustand, dem Wetter und der Unterkunft in Manjarin nicht über den Weg. Warten wir mal ab...

Zunächst gilt es sowieso erstmal Foncebadón zu überstehen. In vielen Foren liest man nichts Gutes über das Dorf. Man schrieb vor einiger Zeit, es sei eine verfallene Geisterstadt. Die einzigen Bewohner seien die wilden Hunde, vor denen sich der Pilger in Acht nehmen solle. Diese Zeit muss wohl schon länger vorbei sein. Den Einkünften des Jakobsweges sei Dank, inzwischen ist hier nichts mehr verlassen. Stattdessen lebt das Bergdorf von den Pilgern. Drei Herbergen gibt es hier, außerdem einen kleinen Supermarkt, indem man sich mit dem Nötigsten versorgen kann.

Drei Hunde begegnen uns gleich am Ortseingang, ein mittelgroßer schwarzer Mischling, eine Art zu kurz geratener Dalmatiner und ein riesiger 80kg-Koloss von einem ortstypischen Hütehund. Von wilden Straßenhunden kann allerdings keine Rede sein. Jeder trägt ein Halsband, ist top gepflegt und lammfromm zu jedem Vier- und Zweibeiner. Als Sira sich schließlich von der Friedfertigkeit des Giganten überzeugen lässt, spielen sie ausgelassen miteinander. Gott sei Dank! Nach unserer traumatischen Erfahrung mit dem Deutschen Schäferhund in Frankreich hatte ich ein solches Verhalten anderen Hunden gegenüber weder Sira noch mir zugetraut. Und wenn man den elefantengroßen Kopf dieses gutmütigen Zottels sieht, muss ich uns wirklich loben. Wir sind ganz schön mutig!

Die Hospitaleros der Albergue, bei der wir uns zum Zelten angemeldet haben, begrüßen Sira und uns freundlich, dann ist ihre erste Frage: "Rüde oder Hündin?" Als wir antworten, machen sich Zweifel in ihren Gesichtern bemerkbar. Sie zeigen uns trotzdem den Zeltplatz und wir verstehen. Ein anderer Gigantenhund schläft fünf Meter von unserer zukünftigen Schlafstätte. Allerdings handelt es sich hier um eine Hündin. Und, wie der Hospitalero sagt: "Laila is the boss. She's protecting, you know?" Yes, I know. Wir erzählen ihm von unserer Idee, eventuell weiter zu gehen nach Manjarin, um dort bei Tomás, dem Tempelritter zu schlafen. Er befürwortet die Idee, da er nicht für seine Hündin garantieren kann, rät uns aber zu einer anderen Unterkunft. Es gäbe eine neue Herberge, "like Tomás, but with better spirit, you know?" We don't know, aber wir wollen uns das Ganze vor Ort anschauen. Wir verabschieden uns und bedanken uns für den guten Rat, dann ziehen wir weiter. Sira ist inzwischen völlig verliebt und ins Spiel mit dem zu kurz geratenen Dalmatiner vertieft. Der Gute begleitet uns noch ein ganzes Stück aus dem Ort hinaus und Sira tut so, als würde sie nie etwas anderes machen als aus schmutzigen Pfützen zu trinken und kniehoch durchzuwaten . Einen Kilometer später verscheuche ich schweren Herzens den kleinen Kerl. Keine Findlinge mehr! Als wollte der liebe Gott mich bestrafen, setzt unmittelbar danach ein heftiger Regenschauer inklusive Hagel ein. Sira hat es inzwischen verstanden: Während ich Papa helfe, seinen Schirm aus dem Wheely zu fädeln, setzt sie sich in Wheelys Windschatten, um dem Gröbsten zu entkommen. Nachvollziehbar! Die nächsten zehn Minuten verharren wir drei also dicht zusammengekauert unterm Schirm. 

Als es sich beruhigt hat, ziehen wir durch wunderschöne Heidelandschaft hinauf zum höchsten Punkt unserer Reise, dem Cruz de Ferro, dem "Eisenkreuz". Hier befindet sich ein fünf Meter langer Eichenstamm, auf dessen Spitze ein eisernes Kreuz thront. Der Stamm ist eingebettet in einen gewaltigen Steinhaufen. Seit über tausend Jahren legt jeder Pilger dort einen Stein oder einen Gegenstand ab, den er auf der Reise mit sich getragen hat. Der Stein gilt als Symbol für die Lasten, die man auf der Pilgerreise mit sich getragen hat und hier ablegt, die anderen Gegenstände, Fotos und Briefchen sagen meist aus, wem der Pilger diesen Weg gewidmet hat. Eine Weile schweifen wir nachdenklich über den Hügel, bis uns der Regen in den Unterstand treibt.

Hier treffen wir mal wieder auf den jungen Österreicher, der uns jetzt auch schon öfter begegnet ist. Das ist ja mal ein ganz ein Gewitzter! Er hat sich in León ein Skateboard gekauft. Immer wenn es möglich ist, eine glatte Straße bergab zu fahren, kommt das Board unter die Füße und in Nullkommanix ist er unten. Cool! Ich würde mir zwar alle Gräten brechen und wäre auch nicht bereit, für die paar Gelegenheiten ständig ein solches Zusatzgewicht mit mir rumzuschleppen, aber die Idee hat was. So macht eben jeder seinen eigenen Camino...

Der Regen gibt bald wieder auf und wir erreichen Manjarin. Hier leben wohl nur Aussteiger. Ein paar alte abgewrackte Wohnwagen, Bretterbuden, kein Strom, kein fließendes Wasser, keine Toiletten. Sechs Menschen und sechzehn Hunde, wie wir später erfahren. Irgendein Gefühl sagt uns, dass wir gar nicht zu Tomás und seinen Rittern gehen sollen, sondern direkt zu dem Haus mit dem "better spirit".

Also folgen wir den Schildern Richtung "Casa Lau-Buru", immer weiter bergab, bis wir plötzlich, quasi im Gebüsch eine größere Bretterbude sehen. Auf der Bank davor sitzt ein Mann im Cowboy-Look und klimpert mit einem breiten Grinsen auf einer Gitarre. Papa fragt: "Albergue?", der Typ nickt nur grinsend und zeigt auf die Bretterbude. Merkwürdiger Typ....

Wir klingeln an der Glocke und hören jemanden aus der oberen Etage herunterkrabbeln. Die Tür geht auf und vor uns steht Paco, ein bärtiger Mittvierziger mit teilweise langen schwarzen Locken, und einer Mütze. Er trägt eine dunkelrote Pluderhose und einen schwarzweißen Schal, merkwürdig um die Schultern geschlagen. "Welcome peregrino!" Er bittet uns herein, bietet uns Tee und etwas zu Essen an. Sofort umfängt uns eine unheimlich beruhigende, fast einschläfernde Mischung aus gregorianischen Gesängen, Mandalas, Buddha-Figuren, Räucherstäbchen, Kaminwärme und Kerzen. Nach einigem Hin und Her ist auch Sira im Haus kein Problem. Auf einen Schlag fühlen wir uns leicht, frei und restlos entspannt. In diesem Haus gibt es ebenso wie im Rest des Ortes kaum Strom, nur Wasser aus dem Kanister und ein Plumpsklo hinterm Haus.

Das heißt also: Kein Handy aufladen! Ganz bewusst schalte ich mein Handy aus. Also kein Bloggen heute! Die nächsten anderthalb Stunden verbringen wir vor dem Kamin mit Paco, bei Tee, Kaffee, Salat, Brot und Hühnergeschnetzeltem. Der Regen prasselt auf's Dach und Blitz, Donner und Wind scheppern ums Haus. Danke, lieber Gott, dass ich nicht zelten muss!

Paco kann kein Englisch, wir kein Spanisch, aber wie er sagt, verstehen wir mit dem Herzen. Trotzdem wird es um Einiges einfacher, als am frühen Abend zwei weitere wundervolle Pilgerinnen unseren Kreis vergrößern. Sie sind in etwa in meinem Alter, in Rumänien geboren, aber schon seit neun und fünfzehn Jahren in Spanien lebend. Sie sind ganz verliebt in Sira und mir auf Anhieb sympathisch. Von jetzt an sind sie unsere Simultan-Übersetzer.

Paco erzählt ihnen, diese Herberge hier gehöre zur selben Organisation wie das "Paradise", der kleine Donativostand, den Papa gestern beschrieben und der uns so gut gefallen hat. Außerdem erzählt er, dass der Mann mit der Gitarre, der uns mittags den Weg hierher gewiesen hat und seitdem immer mal wieder hereingeschneit ist, ein Schweigegelübde abgelegt habe.

Während der Tag zum Abend wird, schaut auch immer wieder der Mann vorbei, der die beiden Mädels hergebracht hat. Er ist Franzose, trägt seine schwarzgrauen Haare ebenfalls stellenweise lang, stellenweise kurz und hat ein strahlendes Gesicht mit einer verblüffenden und urkomischen Ähnlichkeit zu Disneys Balou, dem Bären.

Zum Abendessen, das wir zusammen herrichten, gesellen sich noch eine Pilgerin aus Kolumbien und ein weiterer französischer Hospitalero zu uns.

In gemütlicher Runde mit außergewöhnlichen Gesprächen sitzen wir zusammen, bis es dunkel wird. Hier entscheidet der Tag selbst, wann er zu Ende ist. Da wir bald nichts mehr sehen, gehen wir zwangsläufig schlafen. Neben Sira lege ich mich auf die Isomatte vor den warmen Kamin. Die ganze Nacht über brennen drei rote Teelichter und verbreiten eine einzigartige Stimmung, wenn man wach wird.

Für Morgen habe ich keinen Wecker gestellt. Der Tag entscheidet auch selbst, wann er anfängt.

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Do

06

Jun

2013

Reinhard: Peanutbutter and paradise!

Von Villares de Orbigo nach Santa Catalina de Somoza, 25 km

Anni hat heute Nacht unter ihrer dünnen Decke etwas gefroren. Aber das war fast zu erwarten. Erstens ist sie eine Frostbeule und zweitens hatten wir die ganze Nacht über die Zimmertür zum Hof offenstehen. Schließlich lag Sira draußen vor der Tür auf der Fußmatte und hat dort die Nacht verbracht. Das war der Deal mit Pablo, unserem freundlichen Hospitalero. Aber sie sollte uns wenigstens sehen, hören, wittern können, wenn sie schon nicht ganz bei uns sein durfte. Bis auf ein kurzes Zwiegespräch, das Sira mit dem Hund von Pablo durch die Hauswand führte, hatte das liebe Hundemädchen eine erholsame Nacht. Nur, wie gesagt, Anni hat gefroren.

Als wir praktisch fertig sind zum Abmarsch, will uns Pablo dann doch noch seinen Hund zeigen - und steht auf einmal mit einem riesigen behaarten Muskelschwein im Hof. Sira macht vor Schreck einen Riesensatz und springt  Anni fast in die Arme. Auf der Straße vor der Herberge fangen sie dann aber bald ein lustiges Spiel zusammen an und rennen umeinander herum.

Fast tut es uns leid, das neckische Miteinander der beiden zu beenden, aber wir müssen los. Das heißt, für einen Moment bin ich mir nicht sicher, ob wir tatsächlich aufbrechen sollen, denn der Himmel ist in Laufrichtung tiefschwarz. Die hinter uns aufsteigende Sonne verursacht sogar einen halben Regenbogen, was nur bedeuten kann: Reichlich Regen voraus!

Doch so richtig will er gar nicht fallen. Womit wir natürlich kein Problem haben. Mein Problem ist eher die sehr geröllhaltige Piste, die ich so von der Meseta nicht mehr kenne. Zumal es jetzt auch wieder bergauf und bergab geht, zwar in Maßen, aber immerhin. Auf einer Anhöhe kommen wir an ein altes Wegekreuz mit einer kleinen Sitzbank dabei. Am Fuße des Kreuzes liegen viele von Pilgern dort abgelegte Steine. Felssplitter, abgeschliffene Feldsteine, Verse draufgeschrieben, kleine Kunstwerke eingeritzt. Jeder dieser Steine hat seine eigene Geschichte. Wer hat einen Stein hier hingelegt? Warum?

Ein wenig abseits vom Wegekreuz steht eine als Tempelritter verkleidete Modepuppe. Eine Bar des nächsten Dorfes nutzt sie als Werbeträger. Von weitem hat sie eher etwas von einer Vogelscheuche. Die meisten Pilger, die mit uns hier vorbeikommen und einen Moment verweilen, fotografieren. Nicht das schöne Stillleben von Wegekreuz, Ruhebank und Steinen, sondern die Modepuppe. Bescheuert!

Auf einer nächsten Anhöhe, sechs Kilometer vor Astorga, dann mal wieder ein Erlebnis der besonderen Art. Vor uns taucht am Weg neben einem abgewrackten Feldschuppen etwas auf, das wie ein kleiner Verkaufsstand aussieht. Bei näherem Hinkommen erkennen wir: Ist auch einer! Arbeitet hier gerade wieder jemand an seiner Geschäftsidee und verkauft dem vorbeiziehenden Pilger einen Fingerhut voll Kaffee für einen Euro?

"Welcome in paradise!" ruft uns ein smarter, braungebrannter Vierziger zu, der gerade dabei ist, seinen Außenofen mit Kleinholz zu befeuern. Auf dem Ofen steht ein alter Heißwasserkessel, der wohl für den Nachschub an heißem Wasser für die Kaffeekannen sorgt. Eifrig zeigt uns David - als solcher stellt er sich später vor - sein Warenangebot: Kaffee, verschiedenste Säfte aus ökologischem Anbau,- zig Tee-, ja sogar Milchsorten (!), Brot, Marmelade, Butter, eine Schale mit Haselnüssen, eine große Schale mit frischem Obst u.a. "Alles umsonst! Bedient euch! That's the spirit of the camino!", sagt David strahlend. Moment mal, Freundchen, denke ich, irgendwo ist doch hier ein Haken! Aber ich erkenne keinen. Zwar sehe ich eine dezent halb versteckte Donativo- (Spenden-) Box, aber da kann man etwas reinwerfen,es aber auch lassen. "Take what you want! It's for free! That's the spirit of the camino!" Irgendwelche Werbeflyer für spätere Unterkünfte oder Bars liegen auch nicht aus. Macht David das wirklich nur, um erschöpften Pilgern damit eine Freude zu machen? Es sieht tatsächlich so aus. Anni und ich überwinden unser anfängliches Misstrauen und bedienen uns. Mit Kaffee, Tee, Marmeladenbrot und Bananen lassen wir uns auf einer überdachten Polsterfläche nieder, die vor einer bemalten Wandfläche steht. Einer von uns hätte sich auch in die benachbarte Hängematte legen können, aber da kommt man manchmal ganz schön schwer rein bzw. wieder raus.

Weitere Pilger kommen. Viele von ihnen kennen wir. Auch sie schauen zunächst etwas irritiert, als ihnen das "Welcome in paradise!" entgegenschallt, mit dem David jeden begrüßt. Auch für die Vorbeiziehenden hat er ein freundliches Wort. Viele dann doch entspannt Rastende kommen ins Gespräch, die meisten über den Weg der Verwunderung über diesen besonderen Ort. Anni und ich z.B. unterhalten uns eine Weile mit Sarah und Jessica, zwei Amerikanerinnen, die zuvor in Verzückung ausgebrochen waren, als sie in Davids Warenangebot tatsächlich Peanutbutter entdeckten. Fast eine Stunde verweilen wir "in paradise", bevor wir uns wieder auf den Weg machen.

Über eine Hochfläche kommen wir bald darauf zum großen Wegekreuz von Santo Toribio, von wo wir einen herrlichen Blick auf die ehemalige Bischofsstadt Astorga und die dahinter liegenden Berge der Montes de León genießen können. Von hier aus geht es nur noch bergab nach Astorga hinein.

Inzwischen hat es angefangen zu regnen und unseretwegen könnte der Wandertag jetzt zu Ende sein. Anni ist heute nicht gut drauf, schleppt sich etwas dahin, aber wir haben noch neun Kilometer vor uns. Wir brauchen aber noch ein paar Lebensmittel. In der Nähe der Kathedrale finden wir einen Supermarkt. Anni geht rein und ich lasse mich draußen dort, wo der Regen mich nicht erwischen kann, mit Sira auf dem Boden nieder. Vorbeigehende Fußgänger mustern uns beide im ersten Augenblick skeptisch, dann aber taucht meist ein Lächeln um ihre Mundwinkel auf, zum einen weil wir als Jakobspilger erkannt werden, zum anderen bestimmt aber auch wegen der seelig schlummernden Sira. Als Anni aus dem Supermarkt wieder herauskommt, entschließen wir uns, eine weitere Rast zu machen und einfach hier sitzenzubleiben. Der Regen hat mittlerweile aufgehört und sogar die Sonne scheint wieder. Ältere Leute und Kinder kommen vorbei und nehmen sich manchmal die Zeit, Sira zu tätscheln. Und Sira erträgt das alles mit ihrer Seelenruhe und Liebenswürdigkeit.

Am Bischofspalast von Stararchitekt Gaudi und an der großen Kathedrale gehen wir nur noch vorbei. Viele Kathedralen haben wir nun schon gesehen, auch von Innen. Da können wir uns diese heute mal schenken. Wir bewundern beide noch einen Moment die kunstvolle Außenfassade, dann geht es schnell raus aus Astorga.

Annis Form sinkt immer tiefer. Die Luft wird auch immer erdrückender und ermüdender. In Murias de Rechivaldo braucht sie nochmal eine Pause. Ihr ist sogar nach einem kurzen Nickerchen. Sie legt sich vor unserer Ruhebank auf den Bürgersteig, legt ihre Beine auf deren Sitzfläche und ratzt tief und fest zehn Minuten ab. Danach hat sie Kraft genug für die letzten vier Kilometer bis Santa Catalina.

Diese ziehen sich nochmal auf einer schmalen Schotterpiste schnurgerade dahin. Dann endlich sehen wir den Kirchturm unseres Zielortes vor uns und stehen kurz darauf vor der Tür unserer Herberge.

Ein Mann, von dem wir annehmen, dass er der Hospitalero ist, spricht uns an, winkt uns durch den Innenhof hindurch und führt uns in den hinteren Bereich der Herberge. Mir schwant schon nichts Gutes. Und richtig! Als Schlafgelegenheit für Sira weist er uns einen Platz in einer Art Geräteschuppen zu. Wieder haben wir uns wohl bei der Reservierung am Telefon nicht so richtig verständlich machen können. Verdammter Dreck! (Entschuldige, Jakobus!) Wir lehnen das Angebot ab und fragen nach einer Zeltmöglichkeit. Zu unserer Überraschung reagiert der Mann nun sehr freundlich und hilfsbereit. Er sagt, dass wir im naheliegenden Park zelten könnten und führt uns sogar hin. Die kleine Grünfläche bei einem Spielplatz entspricht durchaus unseren Vorstellungen, hat sie doch sogar mit einem Brunnen aufzuwarten. Wir sind zufrieden, bedanken und verabschieden uns vom Hospitalero.

Wir schnaufen ein paar Minuten durch, und gerade wollen wir mit dem Zeltaufbau beginnen, kommt Herr Hospitalero wieder angesprintet. Aus dem, was er nun hervorsprudelt, entnehmen wir, dass es sich wohl um ein Missverständnis handelt, Chefin hätte gesagt, wir hätten doch mit Hund ein Zimmer gebucht und das bekämen wir jetzt auch. Also alles wieder retour und zurück zur Herberge.

Das Zimmer ist schön, mit Bad und großer Terrasse. Alles ist gut! - Das Abendessen auch.

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Mi

05

Jun

2013

Annika: Kleine Gesten

Von Villar de Mazarife nach Villares de Orbigo, 18 km

Siras aufgeregtes Gebell und ein gefährliches Rütteln am Zelt reißen mich aus dem Schlaf. Ich befürchte, es ist mal wieder die Katze... Außerdem bin ich mir sicher, dass der Hund in dem Fall nicht besonders viel Rücksicht nehmen wird auf das Zelt, das um ihn herum steht.

Das kann ich ja gebrauchen! Da fängt mein Tag gleich schön mit Kopfschmerzen an. Und die vergehen auch nicht so schnell.

Ich schieße aus dem Zelt und betreibe Schadensbegrenzung. Das Zelt ist zum Glück heil geblieben, der Hund ist aber völlig aus dem Häuschen. Ich bin schon wieder völlig angenervt und die blöde Katze sitzt exakt einen Meter von Siras Leinenreichweite entfernt, maunzt und guckt blöd bis provokativ. So langsam entwickle ich eine ernst zu nehmende Antipathie gegen diese zänkischen Kratzbürsten! Ich verscheuche den Störenfried, der Hund kommt langsam runter und leicht bis mittelschwer verstimmt starte ich in den Tag. Papa hält sich mit Kommentaren dezent und weise zurück. Dafür danke ich ihm im Stillen.

Besonders hilfreich sind an solchen Tagen Leute, die einem mit Rat und ohne Tat zur Seite stehen. Auf gut deutsch: Es werden kluge Sprüche und Ratschläge verteilt, die mir nicht im geringsten helfen. Als einer unserer Mitpilger, der sich schon gestern für keine Weisheit zu schade war, Papa rät, wir sollten uns doch auf sixx den amerikanischen Hundeflüsterer ansehen, da der doch wüsste, wie man mit "solchen Problemhunden" umginge und das bei ihm und seinem Hund auch so gut geklappt hätte, springe ich ihm fast durch das Zelt an den Hals. Da Gewalt und Kraftausdrücke keine Lösung sind, reagiere ich mich an der Luftmatratze ab, aus der ich gerade die Luft herauslasse.

Wir verlassen Villar de Mazarife spät, aber nicht als die Letzten. Die Luft hat sich schon gut aufgeheizt (oder besser gesagt: gar nicht richtig abgekühlt). In Top und Shorts friere ich selbst zu Beginn der Tagesetappe nicht.

Heute haben wir nicht das Glück der letzten Tage. Vor uns sehen wir quasi durchgehend Pilger. Richtig entspannt laufen wir also nicht, es gab aber auch schon weitaus unentspanntere Tage.

Auf einer Bank im Schatten vor Villavente legen wir unsere Pause ein und Papa organisiert uns für die nächsten Tage Schlafplätze.

Als wir über Schotterpisten weiterlaufen nach Hospital de Orbigo hängt Siras Zunge bereits bis zum Boden. Wenn allerdings ein paar Meter vor uns eine Eidechse oder irgendein anderes Lebewesen den Weg kreuzen, ist ihr jede Hitze egal. Sie sprintet voran, ich flieg hinterher, das Krabbeltier huscht ins Gebüsch und Sira schnuppert dem Ganzen noch eine Weile nach, bis sie schließlich aufgibt.

Als wir aber in Hospital de Orbigo die historische Duellbrücke überqueren, hab ich kaum einen Blick für ihre Historie oder ihre Schönheit. Schatten muss her!

Wir gönnen uns allen eine Pause in einer gemütlichen Bar. Sie liegt in einer Seitenstraße, deswegen verirren sich wohl nicht viele Pilger hierher. Außer uns sitzen hier nur Einwohner, größtenteils Rentnerinnen. Auch mal schön, eine Pause zu machen, in der nicht jeder das Pilgermaskottchen tätschelt oder uns auf englisch oder deutsch anquatscht. Hier sind wir einfach nur Sonderlinge, die man kritisch beäugt und ansonsten in Ruhe lässt.

Die letzten drei Kilometer über flache Schotterpiste sind schnell gelaufen und wir erreichen unser Etappenziel, die Albergue Villares de Orbigo. Bei der telefonischen Reservierung sagte man uns, dass der Hund zwar nicht ins Zimmer dürfe, sich aber mit Sicherheit eine Lösung finden ließe, zur Not auf der Dorfwiese hinterm Haus im Zelt. Wir sind zuversichtlich. Kein Wunder. Nach der letzten katzenverseuchten Nacht kann es nur besser werden.

Wir betreten den Eingangsbereich der privaten Herberge und werden gleich von Pablo und Belén, selbst ehemalige Pilger und auch noch Großhundehalter, per Handschlag begrüßt. Bevor irgendetwas anderes geregelt wird, stellt Pablo Sira einen Topf mit Wasser hin, das sie sich gut schmecken lässt. Die beiden stellen die Diagnose: "This is a good dog!" Ja, da sind wir uns einig! Sie zeigen uns das für uns vorgesehene Zimmer. Es liegt direkt am Innenhof, mit eigenem Bad, zehn Euro pro Person, und die kleine Gemeinschaftsküche liegt direkt nebenan. Sira darf zwar nicht ins Zimmer, sie darf aber direkt vor der Tür am Schirmständer festgemacht liegen, die Tür dürfen wir offen lassen - also fast wie im Zelt. Unser Zimmer ist mit Bedacht das Hundepilgerzimmer. Davor ist der meiste Schatten, außerdem liegt das Zimmer etwas ausgelagert. Damit stören wir die anderen nicht und Sira kann sich in die Ecke zurückziehen, bekommt aber trotzdem alles mit, was sie will. Sahnehäubchen: Pablo garantiert uns Katzenfreiheit. Er kennt das Problem mit den guten Samtpfoten von seinem Hund und versteht mich nur zu gut.

Sira hat wohl auch verstanden, dass man es gut mit ihr meint. Sie fügt sich problemlos und gibt keinen Mucks an ihrer kurzen Leine von sich. Sie legt sich auf die Fußmatte vor unsere Tür und freut sich einfach, dass sie schlafen kann, ohne alle zehn Minuten durch ein Maunzen aufzuschrecken.

Als wir alle die nachmittägliche Ruhe genießen, beginnt mein Kopf schmerzhaft zu pochen. Aus dem Pochen wird ein Hämmern und ein übles Hacken. Meine Augen brennen, meine Nase läuft, ich fange an zu frieren. Ich schmeiße zwei Aspirin ein, Papa kocht unsere allzeit bewährte Nudelsuppe. Wir sparen uns mal wieder das Pilgermenü, obwohl ich es hier, in dieser freundlichen, warmen Atmosphäre fast bereue. Als ich dem aufgetischten Nachtisch sehnsüchtig nachblicke, sagt Pablo: "Keine Sorge, ich hab Euch zwei in die Küche gestellt." Und zack! - hat er mir den Tag versüßt! Es gibt Gesten, die sind einfach unbezahlbar. Die Strapazen der letzten 24 Stunden werden dadurch ganz entscheidend abgemildert.

Vielleicht liegt es an der Suppe und der Aspirin, vielleicht aber auch ein bisschen an der herzlichen Umsorgung durch Belén und Pablo, aber der Kopfschmerz lässt nach und wärmer wird mir auch.

Und Sira, die freundlich und friedlich vor unserem Zimmer liegt, lässt es mir doch noch ein bisschen wärmer ums Herz werden. Manchmal kommt eben alles zur rechten Zeit.

Seit heute sind die Flachlandetappen vorbei. Ab morgen geht es ins Gebirge. Auf zum Cruz de Ferro. Die letzten dreihundert Kilometer bis nach Santiago stehen an. Auf zum letzten Zehntel!

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Di

04

Jun

2013

Reinhard: Wer mag schon Katzen?

Von Leon bis Villar de Mazarife, 22 km

Das Frühstück ist für spanische Verhältnisse reichlich. Natürlich gibt es auch in unserer Pension Blanca in Leon nicht Wurst und Käse, aber ein kleines Frühstücksbuffet verwöhnt hier mehr als in manch anderer Unterkunft. Wir können so viel "Brot" toasten und mit Marmelade beladen wie wir wollen, der Müsliautomat spuckt ordentlich und Kaffee, Tee, Kakao und Orangensaft stehen zum Nachschenken bereit. Also "All you can eat!".

Der Gang aus der Großstadt hinaus ist so nervend wie immer. Bürgersteig rauf, Bürgersteig runter mit dem Wheely, Slalom um die Fußgänger, Warten an roten Fußgängerampeln, Autolärm und Krankenwagen mit Martinshorn. Sira erträgt es äußerlich ruhig, wie genervt sie im Inneren ist, vermag ich nicht einzuschätzen.

Kurz bevor wir den städtischen Bereich verlassen, einige nette Begegnungen: Wir treffen einen sog. Rückkehrer. Rückkehrer sind Pilger, die offensichtlich auf dem Rückweg von Santiago sind. Es gibt sie, diejenigen, die meinen, dass ihre Pilgerschaft erst mit dem abgeschlossenen Rückweg beendet sein kann. Haben sie nicht Recht? Sind die Pilger des Mittelalters mit Bus und Bahn oder gar mit dem Flieger nach Hause zurückgekehrt? Ich könnte mich mit diesem Gedanken auch sehr anfreunden, vielleicht über eine andere Strecke. Jedenfalls kommt dieser Rückkehrer mit vorfreudigen Augen auf uns zugelaufen, fragt auf Spanisch und gestikulierend, ob er unseren Hund streicheln dürfe und stürzt sich nach unserer Erlaubnis mit Begeisterung auf Sira. Innerhalb von Sekunden kommt der Moment, der uns unterwegs nun schon öfter vorgekommen ist: Er streichelt Sira zunächst nahezu ekstatisch - dann beugt er sich nieder und bietet dem süßen Hund sein Gesicht zum Abküssen an. Sira, nicht faul, wählt sein Ohr und reinigt es intensiv mit ihrer Zunge. Unserem Rückkehrer steigen vor Rührung die Tränen in die Augen. Er bedankt sich für diesen schönen Augenblick und zieht weiter.

Bald darauf sitzt die holländische Pilgerin draußen am Tisch einer Bar, mit der ich auf dem Campingplatz in Castrojeriz die Blockhütte teilen durfte. Damals erzählte sie mir, dass sie an Alzheimer leide und auf dem Weg beschlossen habe, ein Buch über ihr Leben mit dieser Krankheit zu schreiben. Sie wollte damals einen Ruhetag einlegen, um damit anzufangen. Jetzt sitzt sie zufrieden lächelnd hier, erzählt, dass sie mit dem Zug "überbrückt" und gerade eine Massage hinter sich hat, jetzt noch einen weiteren Ruhetag einlegen will, um dann mit frischer Kraft und neuer Motivation weiterzugehen.

Die nächsten sind zwei Südafrikanerinnen, die wir an anderen Tagen bereits gesehen haben. Sie fragen, ob sie jetzt endlich ein Foto von Sira machen könnten. So oft hätten sie es schon vorgehabt, jetzt endlich soll es doch so weit sein. Wir bringen Sira in Position und es klickt mehrmals. Inzwischen kann man mit Fug und Recht behaupten, dass Siras Ablichtung bald auf allen Erdteilen vertreten sein wird.

Zum Schluss zwei Französinnen, Mutter und Tochter. Sie erzählen uns ("You are famous"!), dass sie seit Tagen schon von uns hören, sich jetzt freuen, uns endlich kennenzulernen. Schon oft haben wir unterwegs gehört, dass wir auf dem Camino Gesprächsstoff sind.

Die letzte Begegnung bezieht sich nicht auf Menschen. Schon oft fanden wir irgendwo abgelegt oder aufgehängt Kleidungs- oder Ausrüstungsstücke, die offensichtlich ein Pilger verloren hat: Pullover, Handschuhe, Schals, T-Shirts, Unterhosen (!!!). Ich glaube, auf die Dauer könnte man sich mit Fundsachen komplett neu einkleiden. Entlang einer Ortsdurchgangsstraße hängt zur Abwechslung jetzt mal ein Walkingstock mit Knauf an einem Verkehrsschild. Merkt man nicht, wenn man so etwas verliert?

Hinter La Virgen del Camino, praktisch einem letzten Vorort von Leon, teilt sich der Weg wieder in eine Haupt- und eine Nebenstrecke. Die Empfehlung von Raimund Joos im Gelben Führer ist eindeutig: "Sie ... erreichen ... die Weggabelung, wo sich Ihr Schicksal für die nächsten ein bis zwei Wandertage entscheidet." Er spricht sich vehement für die Alternativstrecke aus, die nicht hauptsächlich an der viel befahrenen Nationalstraße N 120 entlangführt. Zitat: "Diese Route ist nur ausgesprochenen Masochisten, eingefleischten Autoliebhabern und Menschen, die auf dem Jakobsweg besonders große Sünden abbüßen wollen, zu empfehlen."

Da wir (nahezu) sündenlos sind, wählen wir natürlich die Alternativroute. Über die Weite der kastilischen Felder führt sie uns auf einsamer Piste bis zu unserem Tagesziel Villar de Mazarife. Grillen zirpen um die Wette, der Kuckuck ruft lauthals aus den wenigen Bäumen und sogar ein Storch stolziert auf der Schotterpiste herum. Die Sonne knallt, aber es geht ein leichter angenehmer Wind. Genuss ist wieder angesagt.

Vier Kilometer vor dem Ziel, in Chozas de Abajo, nochmal eine Rast im Schatten der Veranda der örtlichen Bar. Ich hole von drinnen zwei Bocadillos, einen mit Schinken und Käse für Anni, den zweiten mit Thunfisch und Tomaten für mich. Dazu eine Cola und einen Café con leche und einen Tisch im Schatten - alles super! Gemütlichkeit greift um sich und ich beiße herzhaft in meinen üppigen Thunfisch-Bocadillo. Und kleckere mir das dabei herausquellende Thunfischöl quer über mein T-Shirt. Das kann ich leiden!

Anni hat ,noch während ich bestelle ,ihren Stress. Eine der Dorfkatzen stolziert arschwackelnd in Siras Blickfeld. Sira flippt natürlich wieder aus, aber Fräulein Katze ist keinesfalls beeindruckt. Sie legt sich gelangweilt hin und denkt im Traum nicht daran, sich zu trollen. Erst dem herbeigeeilten Wirt gelingt es, sie zu verscheuchen - mit dem Erfolg, dass sie ums Haus herumläuft, auf der anderen Seite wieder auftaucht und das Theater von vorne losgeht. Warum können eigentlich diese beiden Tierarten so schlecht miteinander? Ich weiß ja, dass es Ausnahmen gibt, aber davon merken wir im Moment so gar nichts.

Zum Schluss nochmal eine knappe Stunde Asphalttreten, kein Problem, die Straße ist kaum befahren. Am Ortseingang von Villar de Mazarife treffen wir sofort auf unsere Herberge. Davor sitzen auf einer großen Wiese, wie schon in Mansilla de las Mulas, eingetroffene Pilger an Plastik-Tischgruppen und teilweise unter Sonnenschirmen und genießen so ihren Feierabend. Das wollen wir auch.

Dürfen wir aber nicht! Zeltaufbauen auf der Wiese frühestens ab 19 Uhr erlaubt! Na bravo! Während ich uns anmelde, haben Anni und Sira die erste Katze entdeckt, die über das Grundstück schleicht. Mit den Folgen, die mittlerweile bekannt sein dürften. Nochmal bravo! Außerdem ist für Sira auf der vollkommen von der Sonne beschienenen Wiese kein schattiges Plätzchen zu finden. Gar nicht gut!

Anni ist hochgradig genervt und will hier weg, auch wenn wir schon bezahlt haben. Sie macht sich bei den anderen zwei Herbergen des Dorfes auf die Suche nach einer Alternative, findet aber dort nur ähnliche Verhältnisse oder keine Wiese zum Zeltaufbauen. Im Laufe des Abends entspannt sich die Lage und um 21 Uhr steht das Zelt.

Mal sehen, was die Nacht noch so für uns bereithält ...

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Mo

03

Jun

2013

Annika: Verliebter alter Mann!

Von Mansilla de las Mulas nach León, 18 km

Auch die zweite Nacht in der Apsis unseres Zeltes hat Sira super überstanden. Selbst die zwei kläffenden Hunde und die sehr gesprächigen Truthähne aus der Nachbarschaft konnten sie nicht aufregen. Sie wird zum Profi.

Mein Wecker steht heute auf "Extraspät". Wir haben nur 18 km bis Leon vor uns. Und auch die möchte ich mit Sira so entspannt wie möglich verbringen. Also wollen wir später los als alle anderen. Mein Wecker steht auf 6.45 Uhr. Dummerweise steht meine innere Uhr wie immer auf sechs. Eine Dreiviertelstunde liege ich wach und warte auf den Wecker. Papas Tag geht schon wieder gut los: man hat uns mal wieder ausgesperrt. Wir kommen also nicht zur Toilette. Das Wasser vom Außenbecken ist auch abgedreht. Wir müssen also warten, bis man so freundlich ist, uns aufzuschließen. Ja, wir sind wohl Pilger zweiter Klasse mit unserem Zelt...

Um halb sieben ist es dann aber soweit und wir dürfen rein. Die meisten Pilger sitzen gestiefelt und gespornt am Tisch und schieben sich das dürftige Frühstück in den Mund. Danach stürmen sie los, auf zur Herbergsbettenjagd!

Während wir noch in aller Ruhe unser Zelt einpacken, rückt schon die erste Pilgerstaffel aus Reliegos ein, die bereits ihre ersten sechs Kilometer hinter sich hat und jetzt zum Frühstück hier einkehrt. Papa fühlt sich fast schlecht. Ich mich nicht. Hier geht schließlich jeder seinen eigenen Camino.

Mansilla verlassen wir wieder mal allein. Die Rechnung ging auf, wir sind spät genug dran. Die nächsten sechs Kilometer laufen wir über eine Piste neben der stark befahrenen Landstraße.

Im Gegensatz zu den letzten zwei Tagen ist der heutige keine Erleuchtung. Autos, Autos, Autos. Man hört sie, man sieht sie, man riecht sie und kriegt eigentlich nichts anderes mehr mit. Heute würd ´ ich sagen: "Das Ziel ist der Weg!", nicht umgekehrt. Das Wissen um kommende schönere Tage und das Ziel León schicken uns voran. Der Automatikmodus wird eingeschaltet und alles ist erträglich.

Die Sonne brennt hier etwas unerbittlicher als auf den leichten Anhöhen gestern. Es ist wärmer, trotzdem kommt man aber nicht ins Schwitzen. Für Papa reicht es dann aber doch endlich auch mal zu einem Sonnenbrand an den Oberarmen. Er leugnet ihn zwar standhaft, aber da ist jeder Selbstbetrug zwecklos.

Sira kriegt weiterhin ihre Schatten- und Wässerungs-Zwangspausen verordnet.

Auf weiteren Schotterpisten, mal näher, mal entfernter der Bundesstraße N-601, erreichen wir Arcahueja, wo wir uns zur Pause in der Bar-Albergue "La Torre" niederlassen. Papa hat inzwischen Gefallen gefunden an Bocadillo con Tortilla, einem Baguette, in das ein Eier-Kartoffel-Omelette gebettet wird. Mehrere Pausen hat er sich damit jetzt schon versüßt. Ich bin nur froh, dass sein Magen das inzwischen wieder problemlos mitmacht.

Während wir dort so rasten, nähert sich uns ein Hund, der im Gesamten so hässlich ist, dass er fast schon Kultstatus verdient hat: Ich denke, er ist ein Bassett Hound, mit kurzen und irgendwie verwucherten Beinen, einem ungeheuer massigen Körper, und blutunterlaufenen Triefaugen. Man hat das Gefühl, der Arme ist ein extremes Opfer der Schwerkraft. Alles hängt! Die Ohren gehen bis zum Boden, sein Gemächt ist beachtlich für seine Größe und dem Boden auch immer gefährlich nahe, sein dickes Doppelkinn hängt runter und seine überdimensionalen Lefzen produzieren soviel Sabber, dass er gar nicht anders kann als alles zu besudeln. Wenn er sich schüttelt, wabert seine gesamte faltige Masse hin und her und sein Sabber legt sich in Fäden rund um seine ganze Schnauze. Sehr dekorativ. Ich höre fast die Begleitmusik und sehe die Zeitlupe, wie bei einer hübschen Frau im Shampoo-Werbespot. Nur dass "Otto" (kann ein Name passender sein?) leider so gar keine hübsche Frau ist! Dafür aber unsterblich in Sira verliebt. Er tänzelt mit seinen krummen Stampfern um sie herum. Wenn sie dann aber spielen will, gibt er gleich wieder auf. Dafür ist er nun wirklich zu alt! Wenn sie seinen Balztanz mal wieder mit einer Spielaufforderung zerschlagen hat, ist er so entrüstet, dass er mich verzweifelt ansieht und hohe Bell-Heul-Gesänge von sich gibt. Ich könnte mich totlachen über den liebeskranken kleinen Kerl. Tu ich auch. Mit Papa zusammen stelle ich mir vor, ob er wohl dialektfrei spricht oder zum Beispiel mit einem tiefen Bayrisch oder Sächsisch. Als wir ihm schon Worte in den Mund legen, reicht es ihm und er zieht davon.

Kurz darauf reicht es auch uns und wir beenden die Pause. Als wir den Ortsausgang von Arcahueja erreicht haben, biegt Siras Verehrer plötzlich erneut um die Ecke. Wo wir doch erst noch dachten, der alte Mann könne keine fünf Meter mehr schmerzfrei laufen, galloppiert er uns jetzt hinterher als wäre das seine letzte Chance auf Liebe im Alter.

Ich brauche keinen neuen Harley, der uns, wie unser damaliger Freund in Ormont in der Schneeeifel, die nächsten zwölf Kilometer hinterherläuft. Zumal unseren aktuellen Freund dann vermutlich irgendwann die Altersschwäche ereilen würde. Und das muss ich nun wirklich nicht mitansehen! Also verscheuche ich unseren Freund , er trollt sich und wir ziehen zu dritt von dannen.

Bald überqueren wir die Bundesstraße und können nach einem Hügel das beachtlich große León vor uns sehen. Durch wenig kleidsame Industriegebiete und Vorstadtorte gelangen wir ins Zentrum. 

Während ich hier schreibe, widmet sich Papa dem Sightseeing. Danach bin ich dran. Um Sira den Großstadttrubel zu ersparen, sitten wir abwechselnd.

Vielleicht gönne ich mir gleich in der Stadt noch eine Shorts, die mir wirklich passt. Irgendwie wachse ich langsam aus allem raus....

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So

02

Jun

2013

Reinhard: Einsamkeiten und ein Bums

Von Calzadilla de los Hermanillos bis Mansilla de las Mulas, 25 km

Die aufgehende Sonne scheint morgens in unser Zimmer und macht sofort gute Laune. Wir wissen, dass wir wieder bestes Wanderwetter haben werden und unsere Strecke einsam durch die Meseta geht. Also beste Startbedingungen.

Wir sind mal wieder die Letzten, die die Unterkunft verlassen. Und warum? Weil wir es uns leisten können! Für heute Abend ist telefonisch reserviert, daher brauchen wir keinen Stress aufkommen lassen. Außerdem, wenn die anderen Pilger alle weit vor uns sind, geht Sira nicht auf Pilgerjagd und Anni hat nicht so viel Arbeit. 25 abzuleistende Kilometer sind im Flachland auch kein Problem und selbst wenn wir drei erholsame Pausen machen, müssten wir gegen 16 Uhr in Mansilla de las Mulas sein. Wir brauchen also nicht zu hetzen.

Seit gestern sind wir schon auf einer Nebenstrecke des Haupt-Camino. Eigentlich müsste sie die Hauptstrecke sein. Man kann dem Autor des sog. Gelben Führers (Conrad Stein Verlag, OUTDOOR: Spanien - Jakobsweg Camino Francés, 15. Auflage 2012), Raimund Joos, nur dankbar sein, dass er diese Nebenstrecke so dringend empfiehlt. Unmittelbar hinter Calzadilla de los Hermanillos finden wir uns in der Einsamkeit wieder. Und wir sind tatsächlich einsam, vor und hinter uns sehen wir keine Pilger. Was wir sehen, sind endlose Felder, ab und zu ein paar Büsche, im Norden die schneebedeckten Gipfel des Küstengebirges, über uns einen azurblauen und wolkenlosen Himmel und vor uns der Weg, der sich erst am Horizont verliert. Wir hören nichts außer das intensive Zwitschern der Vögel, das laute Quaken von Fröschen, wenn wir mal an einem kleinen Teich vorbeikommen, und unsere eigenen Schritte. Blumen in Rot, Gelb und Blau wachsen am Wegesrand, Mai und Juni ist die bunteste Zeit auf dem Camino. Solange die Temperaturen nicht zu hoch sind oder Gewitterstürme über sie niedergehen, muss man die Meseta nicht "überstehen", sondern man muss sie genießen. Auf der gesamten Strecke von Köln an, habe ich kaum eine Landschaft so genossen wie diese. Vielleicht spielt dafür auch eine Rolle, dass die Sonne herrlich scheint, die Temperaturen im Moment aber sehr angenehm sind. Wir brauchen keinen Schatten. Bei 40°C, oft zu dieser Zeit nicht ungewöhnlich, sähe das anders aus.

Nur Sira braucht Schatten. Seitdem wir uns auf der "calzada romana" befinden, der Trasse einer alten Römerstraße, läuft sie wieder mal an der Schleppleine. Und sie läuft im wahrsten Sinne des Wortes. Nicht mehr an der kurzen Leine, entdeckt sie eine fast vergessene Freiheit neu. Sie rennt hin und zurück, nach links und rechts in die Felder, jagt querlaufenden grünen Eidechsen nach und springt in die Höhe, um tieffliegende Insekten zu fangen. Bei der ersten Rast an einem Unterstand ist sie aber noch nicht zu einer aufgezwungenen Pause zu überreden. Zu schön ist es, immer noch weiter an der langen Leine durch das hohe Gras zu springen oder dem von Frauchen geworfenen Spiel-Puschel hinterher zu jagen. Auch wir genießen es, unsere Pilgerfreundin so ausgelassen und verspielt zu sehen.

Als wir uns schließlich wieder auf den Weg machen wollen, hat Sira nicht eine Minute im Schatten verbracht. Das ist nicht gut, aber auch nicht schlimm. Schlimmer hätte etwas Anderes ausgehen können. Anni berechnet das tiefstehende Dach des Unterstandes falsch, muss aber drunter durch. Sie taucht ab, berücksichtigt die Dachziegel, nicht aber den etwa zehn Zentimeter tiefer querverlaufenden Holzbalken. Ein dumpfes Dröhnen, der ganze Unterstand wackelt, Anni schreit verwundert auf und sinkt danieder. Vaters Schrecksekunde. Besinnungslosigkeit? Fließt Blut? Dann die Erlösung: Anni hält sich die Stirn und lacht. Zwar gequält, aber sie lacht. Sie steht auch wieder auf, kann sich dabei aber zwei, drei Tränchen nicht verkneifen. Eine kleine Beule blüht.

Viel schlimmer sind andere Situationen. Immer wieder gibt es Pilger, die ihren Jakobsweg nicht überleben. Mindestens fünf Mal habe ich von Le Puy bis hierher Kreuze am Weg gesehen, deren Inschriften eindeutig darauf hinweisen, dass an dieser Stelle ein Pilger oder eine Pilgerin zu Tode gekommen ist. Was ist im Jahr 2003 an der Stelle, die wir kurz nach dem Unterstand passieren, mit Giselle geschehen? Herzversagen? Blitzschlag? War sie allein oder in Begleitung ihres verzweifelten Ehemannes? Ich will nicht weiter darüber nachdenken und sehe zu, dass ich weiterkomme.

Langsam aber sicher nähern wir uns in dieser verlassenen, schattenlosen Gegend der Bahnlinie Burgos - Leon an. An sich ist das für uns uninteressant, aber dort, wo der Camino kurz diese Bahnlinie berührt, steht jenseits der Schienen die im Verfall sich befindende Wartehalle eines ehemaligen Haltepunktes. Voraus auf dem Weg können wir in absehbarer Zeit keine Rastmöglichkeit im Schatten ausmachen. Für Anni und mich noch kein Drama, Sira hat ihn jetzt aber dringend nötig. Ich lasse mein Wheely auf dem Weg stehen und wir drei steigen über die Gleise. Böse, böse! Wir zwingen Sira in den Schatten der Wartehallenruine und sie lässt es geschehen. Anni sucht sich ein kleines sonniges Plätzchen in der Nähe ihres Hundes und ich lege mich auf den verlassenen Bahnsteig, mit meinem kleinen Rucksack als Kopfkissen. Die ganze Zeit kommt kein Zug vorbei.

Nachdem wir alle genug ausgeruht sind, springen wir wieder über die Gleise auf den Weg zurück. Weiter geht es durch die Meseta, Blicke bis Unendlich, weiterhin wunderschön. Die angenehmen Temperaturen steigern sich langsam zu einer (noch) ertragbaren Hitze. Als wir an einer großen Schautafel vorbeikommen, die auf die an dieser Stelle vorgenommenen Konservierungsmaßnahme der noch vorhandenen Reste der alten Römerstraße aufmerksam macht, wirft sich Sira plötzlich in deren breiten Schatten, legt ihren Kopf auf die Vorderpfoten und macht die Augen zu. Pilgerverweigerung? Nein, nur eine selbstverordnete weitere Pause. Nach fünf Minuten, die wir ihr gerne gönnen, läuft sie bereitwillig und bis zum Etappenziel wieder mit.

  Die "calzada romana" verlassen wir in Reliegos, gönnen uns dort in der "Bar Elvis" eine kleine Stärkung und machen uns dann an die letzten sechs Kilometer bis Mansilla de las Mulas. Die verlaufen allerdings etwas gewöhnungsbedürftig schnurgerade an der Landstraße entlang, begleitet durch junge, noch nur wenig Schatten spendende Bäume, die in exakt Zehn-Meter-Abständen gepflanzt sind. Man muss sich hüten, nicht irgendwann anzufangen, sie zu zählen.

  Als wir in Mansilla de las Mulas einmarschieren, ist es exakt 16 Uhr. Gut geschätzt!

In der Herberge herrscht ordentlich Betrieb. Draußen, in einer Art Biergartenbereich, sind nahezu alle Tische besetzt, Wäscheleinen hängen voll und erschöpfte Pilger liegen auf der Wiese und dämmern vor sich hin.

Ich verschaffe mir einen Platz im Himmel. Für Anni und Sira war bereits bei der Reservierung ein Platz zum Zelten auf der Wiese ausgemacht worden, für mich ein Bett im Schlafsaal. Bei der Anmeldung bekomme ich mit, dass eine erschöpfte Pilgerin abgewiesen wird, weil alles besetzt ist. Da schlägt meine großherzige Sekunde. Ich gebe mein Bett an sie ab und gebe an, mit im Zelt zu übernachten. Die Erschöpfte fällt mir fast um den Hals.

Manchmal bin ich ein Held!

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Sa

01

Jun

2013

Sira: Immer diese neuen Schlafplätze...

Von Sahagun nach Calzadilla de los Hermanillos, 15 km

Was soll denn das jetzt schon wieder?!? Ich mache ja eine Menge mit und beschwer mich nur ganz selten, aber jetzt reicht's mir langsam. Ich habe mich dran gewöhnt, jede Nacht woanders zu schlafen. Ich bin immer nett zu all den Leuten, die ich immer wieder treffe und auch zu allen, die neu sind. Ich belle nur, wenn mich etwas wirklich so doll aufregt, dass ich nicht mehr anders kann. Ich gehe fast jedem Streit mit anderen Hunden aus dem Weg, selbst wenn die noch so doof sind . Ich lege mich sogar mit Frauchen in diese große, raschelnde Knisterkiste. Am Anfang fand ich sie gruselig, aber Frauchen meinte, das ist nicht schlimm. Jetzt hab ich mich daran gewöhnt und weiß, dass das auch irgendwie schön ist, weil ich endlich mal wieder ganz nah bei Frauchen liegen kann. Das ist so schön, da rücke ich extra noch ein Stück näher und schlafe ganz schnell und tief ein, damit sie ja nicht mehr unter mir abhaut.

Als meine beiden Menschen dann gestern Abend das Zelt aufgebaut haben, hab ich mich schon auf die Kuschelnacht gefreut. Deswegen hab ich extra auch ein bisschen mitgeholfen. Dann laufe ich über die Plane, damit sie ordentlich verteilt ist und verteile schonmal die Heringe. Aber nicht so langweilig um das Zelt herum, sondern auf der ganzen Wiese, damit Frauchen auch mal ein Suchspiel machen kann. Wenn sie für mich Sachen versteckt, finde ich das spannend und lustig. Wenn ich das für sie mache, schimpft sie. Manchmal ist sie schon komisch.

Als ich mal wieder vorbeischneie, um zu sehen, wie die zwei vorankommen, merke ich, dass hier etwas nicht stimmt. Irgendwie ist in unserer Höhle weniger Platz als sonst. Da sind zwei Menschenbetten drin! Und wo ist meine Decke? Die liegt ja vor der Höhle! Zwar immer noch unterm Dach, aber nicht mehr so, dass ich mich auf Frauchen rollen kann. Das gefällt mir jetzt aber nicht. Frauchen sagt: "So, Fine, das probieren wir jetzt mal aus." Na toll.

Ich bin beleidigt. Die nächsten Stunden verbringe ich in meinem neuen Kurzzeitzuhause, an der Leine auf der Wiese vorm Zelt. Zugegeben, eigentlich ist das gar nicht sooooo schlecht. Ich habe jeden im Blick, der auf den Campingplatz kommt, guck den Nachbarn bei den Gartenarbeiten zu und beschimpfe jeden anderen Hund, der meinem neuen Zuhause zu nah kommt. Hierauf muss ich jetzt schließlich aufpassen.

Zum Schlafen lege ich mich vor die Höhle, in der meine Menschen liegen. Eigentlich ist das gar nicht so schlimm. Wenn ich viel Theater machen würde, dürfte ich zwar auch noch ins Zelt, aber da ist es mir wirklich zu eng. Also nehme ich es hin und fühle mich ein bisschen wie eine wilde Abenteurerin.

Die ganze Nacht schlafe ich eigentlich ganz gut. Nur wenn Papa zum Klo muss, werd ich wach und als mich nachts zweimal ein anderer Hund beschimpft, muss ich natürlich antworten.

Heute morgen sind meine Knochen ganz schön kalt und ich muss mich erstmal strecken, aber den andern beiden geht es, wie ich sehe, auch nicht besser. Na immerhin.

Zum Frühstück will Frauchen mich sogar reinholen, aber das kann sie sich jetzt auch sparen. Stattdessen arbeite ich lieber noch ein bisschen am Zelt. Ich glaube nämlich, dass da was falsch ist. Rundherum stehen rote Schnüre ab und gehen bis zum Boden. Die stören uns alle, denn wir stolpern andauernd drüber. Papa flucht dann immer und tritt dagegen. Also tu ich ihm und uns allen einen Gefallen und mache sie einfach ab. Gestern eine und heute wieder eine. Dann hab ich sie bald alle ab, sie stören keinen mehr und alle sind zufrieden. Denkste! Als meine Menschen meine Arbeit sehen, sind sie so gar nicht zufrieden. Und das Loch am Wiesenrand, wo ich nur kurz etwas Wichtiges gesucht hab, gefällt ihnen auch nicht. Naja, vielleicht ist die Erde ein bisschen weit geflogen und hat das Zelt beschmiert, aber das passiert schonmal bei wichtigen Ausgrabungen! Ich blicke mit Stolz und keinerlei Schuldgefühlen auf meine Arbeit, also kann mir keiner was.

Heute brauchen meine Menschen wieder verdammt lange mit allem. Das kann sich ja keiner mit ansehen. Hey, ich will los! Damit alles etwas schneller geht, feuere ich mit Jubelhüpfern und gelegentlichen Bell-Jaulgeräuschen munter an.

Irgendwann gehen wir dann endlich los. Ich genieße mein zweites Frühstück. Gestern habe ich eine riesige Wollherde hier vorbeilaufen sehen, die scheinbar überall hingeköttelt hat. Hmm, Schafsknödel schmecken mir richtig gut!

Danach wird es erstmal langweilig. Eine Stunde lang laufen wir an einer großen Straße. Hier fahren nicht viele Autos, aber wenn, dann sind sie schnell. Vor meiner Nase spielt Frauchen mit ihrem doofen Stöckchen. Ich dachte ja, es nervt sie irgendwann und sie wirft es weg, aber das ist leider noch nicht passiert. Hm, vielleicht muss ich da bei Gelegenheit mal nachhelfen...

An der Autobahnbrücke passiert etwas Komisches; Alle anderen Menschen laufen geradeaus, wir biegen aber ab. Alleine kommen wir in Calzada del Coto an, wo ich Katzen verscheuche, wir Pause machen und ich unser gewonnenes Revier gegen fremde Hunde verteidige.

Eigentlich bin ich gar nicht müde. Wir sind ja erst eine Stunde unterwegs. Aber in der Sonne ist es so schön, da tut es richtig gut, sich hinzulümmeln und den Pelz wärmen zu lassen.

Als wir irgendwann weitergehen, laufen wir neun Kilometer lang durch spanisches Buschland, über eine überbreite, braune Piste. Rechts und links größtenteils Acker, ein paar Getreidefelder, kleine Wälder und bunte Blumenwiesen.

Wir können sehr weit gucken, aber trotzdem kann ich keinen Pilger sehen, den ich erwischen muss. Also gehe ich nett bei Frauchen und das freut sich. Und ich mich auch. Es ist schön, mal nicht (im wahrsten Sinne des Wortes) die Nase voll zu haben mit Müffelpilgern. Endlich rieche ich mal wieder hier und da am Wegesrand eine Wildspur, ein Hundehäufchen oder eine Marke, die ein anderer Hund hinterlassen hat.

Es ist zwar sehr schön hier, aber so langsam wird mir zu warm. Schon seit dem letzte n Dorf gab es kaum noch Schatten und Wind ist da auch nicht mehr. Als Frauchen mir meinen Wassernapf hinhält, bin ich ganz schön dankbar.

Und als wir etwas später auf eine schattige, hohe Wiese mit Rastbänken und Brunnen abbiegen, bin ich noch dankbarer. Eigentlich möchte ich mich ins kühle Gras legen, aber die großen Stöcke, die hier herumliegen, fordern mich heraus, also ist Kämpfen und Zerstören angesagt.

Kurz darauf sind wir in Calzadilla de los Hermanillos. Frauchen und ich warten in der Sonne, bis Papa uns angemeldet hat. Dann sagen wieder alle, wie schön und lieb ich bin und ich werde getätschelt. Das könnte ruhig immer so weitergehen!

Und als ich unser Zimmer sehe, wo Frauchen mir meine Decke vorm Bett ausbreitet, weiß ich: Draußen schlafen ist Abenteuer, aber drinnen? - ist manchmal einfach nur gut!

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Fr

31

Mai

2013

Reinhard: Zelten: Nächster Versuch!

Von Ledigos nach Sahagun, 18 km

Ich habe in meinem (ungewollten) Einzelzimmer der Pilgerherberge von Ledigos gut geschlafen. Ich hoffe, dass Anni draußen im Zelt das auch sagen kann. Es MUSS kalt gewesen sein. Die Nacht war sternenklar, dazu der Wind ... Nach einer schnellen Katzenwäsche und einem hastigen Zusammenpacken meiner Sachen will ich zu ihr. Zu meinem Erstaunen (oder besser Entsetzen) ist die schwere Tür von der Herberge nach draußen auf die Wiese verriegelt. Ich kann sie zwar von Innen öffnen, Anni aber nicht von Außen. Wenn sie nun rein wollte, weil ihr zu kalt wurde? Oder wenn sie zur Toilette musste? Man kann sie doch nicht einfach aussperren! Sind zeltende Pilger Pilger zweiter Klasse? Nur weil man von ihnen nicht den vollen Übernachtungspreis verlangen kann?

Geschwitzt hat Anni im Zelt nicht, aber ganz gut überlebt. Sie wuselt schon im Zelt rum, ein gutes Zeichen. Der Zeltabbau geht jetzt schon zügiger, so langsam sitzen die Handgriffe. Trotzdem ist nicht zu vermeiden, dass die Morgenkälte so langsam die Knochen hochzieht. Zum Frühstücken und Aufwärmen verziehen wir uns in den Aufenthaltsraum, da soll mal einer was sagen.

Beim Abmarsch treffen wir vor dem Tor der Herberge Ricarda wieder, mit der wir uns in Hornillos del Camino ein Weilchen unterhalten hatten. Sie ist bereits um kurz vor 7 Uhr in Calzadilla de la Cueza losgegangen, dem Dorf vor Ledigos. In der Bar unserer Herberge hat sie gefrühstückt, denn dieses Angebot gibt es oft in den einfachen gemeindlichen oder kirchlichen Herbergen nicht. Satt wird von diesen Mahlzeiten sowieso niemand, aber man hat wenigstens etwas im Magen. Ohne ein zweites Frühstück spätestens in der Bar im übernächsten Dorf oder aus dem eigenen Rucksack kommt man nicht aus.

Ricarda fragt, ob sie mit uns gehen könne und wir stimmen gerne zu. Wir unterhalten uns angeregt - und rennen in Terradillos de los Templarius prompt am richtigen Wegeabzweig vorbei. Wir sind zwar auch nicht vollkommen falsch, müssen nur für die nächsten Kilometer an der N 120 entlang, der großen Schnellstraße, die uns auf dem Jakobsweg bereits seit Logroño in mal größerem, mal geringerem Abstand begleitet und dies auch noch bis Leon tun wird. Irgendwann ist uns diese Streckenführung dann doch zu blöd, sehen wir doch in gar nicht so weiter Entfernung einige Pilger auf einer anderen Strecke dahinziehen. Also biegen wir bei nächster Gelegenheit nach links in einen Feldweg ein in der Hoffnung, bald wieder auf den richtigen Weg zu gelangen. Die Hoffnung trügt! Wir landen auf einem Feld, auf dem gerade das gemähte Gras ins Heustadium übergeht. Zurück zur Straße oder durchschlagen? Durchschlagen! Als das Heufeld zu Ende ist, kommen wir an einen breiten Bachgraben. Zurück oder durchschlagen? Durchschlagen! Wir wenden uns nach links und queren den Rand eines frisch eingesäten Ackers. Gottseidank ist der Boden nicht regennass, sonst würden wir jetzt im Schlamm versinken. So haben wir Glück und stoßen tatsächlich auf den richtigen Weg.

Anders als gestern, wo wir schon um 9 Uhr sahen, wer uns um 11 Uhr entgegen kam, verläuft heute der Weg über die Meseta in einem leichten Auf und Ab. Die nächsten Dörfer folgen in Drei-Kilometer-Abständen: Moratinos, San Nicolás. Ruhige Dörfer sind es, kein Mensch ist auf der Straße. Die Kirche steht im Mittelpunkt, nicht weit davon entfernt die Bar und/oder die Pilgerherberge. Viele Mauern, sogar Häuser sind aus mit Stroh versetztem Lehm gebaut.

Vor der Albergue-Bar von San Nicolás neben der Kirche stehen Tische und Stühle draußen vor der Tür in der Sonne. Die letzten Pilger, die hier übernachtet haben, verlassen gerade das Haus, als Ricarda, Anni und ich uns zur Rast niederlassen. Sira bekommt ihr Plätzchen auf einer kleinen Grünfläche und verhält sich, wie gewohnt, vorbildlich. Die Hundejungs des Dorfes schauen unaufgeregt vorbei und werden genauso unaufgeregt von Sira begrüßt. Wenn das so weitergeht mit den "gefährlichen spanischen Straßenhunden", können wir sehr zufrieden sein.

Nach kurzer Zeit gesellt sich ein weiteres deutsches Mädel zu uns und der Austausch zwischen Landsleuten geht weiter. Zwischendurch ziehen weitere Pilger vorbei und oft hören wir wieder das gegenseitige "Buen Camino!" Sira wird von vielen wieder gestreichelt und geherzt, fotografiert sowieso.

Nach fast einer Stunde gehen wir weiter. Unsere Pausen sind lang, unser Schritt dafür aber schnell, so dass wir viele Vorbeigezogene immer wieder einholen. So sehen wir viele am Tag fünf, sechs Mal, prägen uns ihre Gesichter ein, sprechen irgendwann intensiver miteinander. So entstehen die Pilgerbekanntschaften, auch wenn wir nicht abends mit ihnen in Pilgerherbergen weiter kommunizieren können.

Von San Nicolás bis zum Ziel Sahagun geht es nun doch wieder auf einer breiten Schotterpiste direkt neben der N 120 her. Manchmal ertönt von dort ein anfeuerndes Hupkonzert, meist von LKW-Fahrern. Danke, Jungs! Hinter einem Hügel sehen wir dann die Häuser, Kirchen und vor allem den riesigen Getreidespeicher von Sahagun vor uns liegen. Der Weg zieht sich durch Sonne und Wind noch etwas hin, dann stehen wir mit Ricarda vor der städtischen Herberge, die im Dachgeschoss der Kirche Iglesia de la Trinidad untergebracht ist. Da es hier ebenfalls ein Touristenbüro gibt, nutzen wir die Gelegenheit und fragen nach, wo der örtliche Campingplatz ist. Noch mehr interessiert uns, ob er auch geöffnet ist. Da haben wir ja so unsere Erfahrungen machen müssen. Die Auskunft beruhigt: Er liegt direkt am Camino am Ortsausgang und wartet auf Gäste. Na bitte, endlich kann ich zelten! Und die Nachttemperaturen werden auch erträglicher: 4° C. Das ist doch nix!

Auf dem Weg dorthin noch ein Einkauf, ein Bummel durch die nicht gerade spektakulär schöne Stadt, dann stehen wir auf unserer kleinen Camping-Parzelle. Noch ist es ruhig, aber zwei Stunden später setzt hier der Wochenendbetrieb ein. Spanische Dauercamper fallen in Massen über den Platz her und belegen ihre angestammten
Hauszelte oder Caravans. Rasenflächen werden gemäht, Autos ausgeladen, Parzellennachbarn begrüßen sich lauthals und bald auch fahren schon Kinder mit klapprigen Fahrrädern und lauthals schreiend über die Wege.

Ich habe es ja schon gesagt: Ich freue mich, endlich mal wieder draußen in der Natur zelten zu dürfen!

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Do

30

Mai

2013

Annika: Der erste Straßenhund

Von Carrion de los Condes nach Ledigos, 24 km

Da hat er ja nochmal Glück gehabt! Die Nacht im Zelt ist Papa erspart geblieben. Manchmal setzt der liebe Gott einfach Zeichen. Vielleicht war es für Papa einfach noch nicht die richtige Zeit. Die kommt schon noch!

 

In unserem wunderschön eingerichteten Studio lassen wir es uns richtig gut gehen. Ich nutze alles an Elektrogeräten, was da ist. Die Waschmaschine wird angehauen, der Ofen wird mit Auflauf bestückt und die O-Saft-Presse wird uns am Morgen das Frühstück verfeinern. Außerdem gibt's zum Frühstück die Reste der Nudeln vom Abendessen und fünf Rühreier. Das letzte übrige Ei bekommt Sira roh in ihren Napf geklatscht. Soll schließlich für jeden ein toller Aufenthalt gewesen sein!

 

Trotz des Wahnsinnsfrühstücks komme ich nicht so recht auf die Beine. Irgendwie hatte ich das Gefühl, ich hab im Bett nur kurz die Augen zu und wieder auf gemacht, und schon klingelt der Wecker und die gesamte Nacht ist rum. Aber wie schon so oft: Es hilft ja nichts!

 

Wir machen uns also auf den härtesten Abschnitt der Meseta. Heute geht es 24 km lang immer geradeaus, ohne nennenswerte Steigung. Einfach immer weiter. Man hat also weeeeeeiite Sicht voraus. Der Wind hält sich in Grenzen, weg ist er aber nicht. Die erste Hälfte unseres Tages macht er angenehm. Die Sonne scheint, zu heiß ist es aber nicht.

 

Weniger angenehm ist mal wieder mein körperliches Befinden. Heute ist es zur Abwechslung mal die Leiste, die zankt. Unser Schritt ist seit der Meseta ein ganz anderer. Wir laufen einen noch strammeren Schritt als sonst. Durch die Kälte gestern sind wir sogar fast gerannt. Und da wir uns immer weiter auf Feldwegen ohne Steigung voranarbeiten, strecken wir die Beine viel mehr durch und das wirkt sich auf die Leiste aus. Es fühlt sich an wie eine Zerrung. Pff, wenn's weiter nichts ist... Das geht auch wieder vorbei.

 

Schritt für Schritt komme ich in Gang und die Wehwehchen lassen nach. Sira hat wieder mal Freunde gefunden. Irgendwie ist sie übermütig und beißt dem spanischen jungen Mann sanft und behutsam in den Arm. Er nimmt es gelassen. Als wir weitergehen, bin ich wieder fällig. Sie hat wohl noch nicht realisiert, an wessen Handgelenk sie hier hängt, also bekomme auch ich den zärtlichen und kaum spürbaren Mausebiss "geschenkt". Hach wie niedlich! Als sie dann aber wieder zu Sinnen kommt, kriege ich ihre spitzen Zähne wieder voll zu spüren. Na, herzlichen Dank!

 

Nach guten sieben Kilometern passieren wir einen Rastplatz mit Wasserbrunnen, an dem ein paar Pilger rasten. Ein dicker Terrier hüpft um sie herum, macht Männchen und bekommt Wursthappen zugeworfen. "Ach nee, ein Pilgerhund!", sage ich noch. Als wir näher kommen, gehen die Pilger weiter, der Terrier widmet sich Sira und bald wird ausgelassen gespielt. Ein freundliches kleines Männlein! Und als alle anderen Pilger weg sind, wird uns klar: Das ist kein Pilgerhund, das ist unser erster Herrenloser, ein Straßenhund. Kein Halsband, keine Wohnhäuser in einem Radius von sieben Kilometern und ein eitrig triefendes Auge. Aber der hier hat wohl verstanden, wie man auf sich allein gestellt am Besten überlebt: Such dir eine Pilgerraststelle und sei immer freundlich zu Mensch und Tier. Jeden Tag kommen bis zu 200 Pilger hier vorbei. Wenn nur jeder zweite einen Brocken Nahrung springen lässt, wird so ein kleiner Kerl schon satt. Wenn man dann noch süß aussieht und freundlich ist, lässt man auch schonmal ein halbes Baguette fallen. Der dicke kleine Terrierklops hat's verstanden. Und wir unseren ersten Straßenhund ÜBERstanden. Na, wenn das mit allen so einfach geht, bin ich zufrieden.

 

Nach weiteren zwei Kilometern hat wieder einmal einer verstanden, wie man Geld macht. Gute zwei Laufstunden nach dem Ausgangspunkt, weit und breit nichts anderes, wo man Essen oder Getränke kaufen kann und die einzigen Sitzgelegenheiten für Leute, die nicht einfach so in der Wiese liegend Pause machen können oder wollen. Schon von weitem riecht man den Grill und damit ist auch der letzte Boykottierer willenlos gemacht. In das Baguette für vier Euro werden lieblos zwei Mini-Würstchen gequetscht, der fingerhutgroße Kaffee kostet einen Euro und die Bananen sind so grün und unreif, dass ich die Schale noch nicht einmal abkriege. Hm, ausbaufähig, würd ich sagen... Man kann ja ruhig Geschäfte machen, aber dann muss man auch was ordentliches bieten. Ich bin nicht zufrieden. Sira allerdings sehr wohl. Die erste Frau gibt ihr ein Stück Grillwürstchen, die Nächste teilt mit ihr brüder- oder eben schwesterlich eine Banane (mein Hund hat im Leben noch keine Bananen gegessen) und sie bekommt Streicheleinheiten ohne Ende.

 

Aber auch diese Pause muss irgendwann enden und wir laufen weiter durch die Felder. Pinkeln will hier übrigens gelernt sein. Den richtigen weil uneinsehbaren Busch muss man erstmal finden, wenn es ihn denn überhaupt gibt...

 

Auf der Jagdliste meines Hundes stehen übrigens neuerdings nicht nur Katzen, Rehe, Eichhörnchen, Enten, Gänse, Hasen, Mäuse und Eidechsen, sondern neuerdings auch Vögel. Ganz gewöhnliche kleine Piepmätze, die hier täglich hundertfach um uns herumschwirren, müssen neuerdings auch immer ruckartig verfolgt werden, wenn sie sich auf einem Busch am Wegesrand oder der Straße absetzen. Hach ja, Jagen ist doch wundervoll!

 

Sira und ich haben an diesem Tag unsere ganz eigene Schlacht zu schlagen. Durch die Autobahnähnliche Strecke können wir jeden Pilger auf den nächsten vier Kilometern sehen. Für Sira natürlich ein Alptraum. Sie will die alle kriegen! Auf den anderen Wegabschnitten hatte man wenigstens mal eine Kuppe, ein Wäldchen, eine Kurve, in der man für sich war. Da konnte Sira dann für einen Moment entspannt laufen, bevor sie den nächsten Pilger gewittert oder gesehen hat und ihm nachhetzen musste. Hier ist es einfach ein durchgehendes Pilgerhetzen. Ich bin genervt, Sira ist gestresst, Papa ist hilflos, weil er mich gerne entlasten würde und nicht weiß, wie.

 

Als wir dann zur Pausenzeit in Calzadilla de los Condes einlaufen, werden wir zu allem Überfluss auch noch von drei Katzen begrüßt, die nicht im Traum daran denken, die Flucht zu ergreifen, nur weil irgend so ein dahergelaufener Pilgerhund bellt wie von der Tarantel gestochen und sich bald aufhängt an seiner eigenen Leine. Als wir uns vor die einzige Bar im Ort setzen, bin ich fix und fertig. Die dänische Buspilgertruppe, die kurz nach uns einläuft, sämtliche anderen Stühle einnimmt, auf meinen Hund trampelt und einfach nur laut schnattert, setzt dem Ganzen ein Krönchen auf. Ich bin müde!

 

Nach einer Cola und einer kurzen Regenerationsphase bin ich wieder fit genug und wir laufen weiter. Die letzten sechs Kilometer gestalten sich weitaus angenehmer als die letzten achtzehn. Gut, es geht immer an der Landstraße entlang, allerdings haben fast alle ihre Tagesetappe in Calzadilla beendet oder wollten noch weiter als wir und sind deswegen viel früher unterwegs gewesen und schon lange weg. Bis auf eine Handvoll Pilger, die man ab und an trifft, sind wir allein auf der Strecke. Außerdem hat Papa Sira übernommen, um mir wenigstens ein paar Kilometer lang eine Auszeit zu gönnen. Und es funktioniert!

 

Weitaus entspannter als zur letzten Pause erreichen wir unseren Zielpunkt Ledigos. Ich bin sogar so locker drauf, dass ich noch ein paar Kilometer gehen könnte. Bevor ich das aber laut sagen kann, hat Papa in der örtlichen Herberge eingecheckt. Wir wollen schließlich auch nicht übertreiben...

 

Mit Sira ist es das gleiche Spiel wie immer. In die Herberge dürfen wir nicht. Auch das sympathisch billige Doppelzimmer für 18 € bleibt uns verwehrt. Immerhin dürfen wir im Garten zelten, nachdem wir die Katzen verscheucht haben, die die im Garten sitzenden Pilger wohl als Nahrungsquelle zu schätzen gelernt haben. Sira ist mal wieder völlig aus dem Häuschen. Ich binde sie an den Baum, während wir das Zelt aufbauen. Bei dem Wind, der inzwischen schon wieder ganz schön beachtlich ist, ist das gar nicht so einfach. Ein anderer Pilger, der beobachtet, wie ich mich quietschend auf die wegfliegende Plane schmeiße, kommt uns zur Hilfe. Ruckzuck steht das Ding. Damit Siras Abend abwechslungsreich bleibt, kommt immer mal eine Katze bedrohlich nah und fröhlich maunzend an Sira vorbei getänzelt. Diese Mistviecher! Provokation auf ganzer Linie! Als Papa sich in sein Zimmer und Sira und ich uns ins Zelt zurückziehen, sind sie uns aber zumindest doch so gnädig, uns schlafen zu lassen und nicht noch singend um unser Zelt zu tanzen.

 

Der Wind hat wieder nachgelassen und auch die Kälte spüre ich in meinem Schlafsack nicht. Sira ist einfach nur zufrieden, weil sie sich ganz nah an mich ran, ja, sogar halb oder zumindest mit dem Kopf auf mich drauflegen darf.

 

Da können wir uns am Tag noch so sehr miteinander streiten; am Ende des Tages, wenn es kalt wird und wirklich darauf ankommt, dann rücken wir eng zusammen!

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Mi

29

Mai

2013

Reinhard: Lass uns mal zelten!

Von Frómista nach Carrión de los Condes, 22 km

"Heute ist Zelten angesagt, alter Mann!" Anni weist nochmal energisch darauf hin, was seit einigen Tagen so geplant ist. Mir war heute Nacht unter meiner Decke in unserem beheizten Zimmer nicht zu warm und ich freue mich auf die Erfahrung in der kommenden Nacht. Der Einblick in die Wettervorhersage von www.wetter.com sagt 0° C voraus und meine Vorfreude steigt. Ein Blick aus dem Fenster unserer Unterkunft lässt für heute sonniges Wetter erhoffen, denn der Himmel ist größtenteils blau. Also Hosenbeine abgezippt und den Anorak auf dem Wheely festgeschnallt, wenn wir gleich stramm gehen, wird uns bald warm!

 

Von wegen! Als wir leicht geschürzt nach draußen treten, können wir gar nicht so schnell zittern wie wir frieren. Wir gehen trotzdem los. Ich freue mich auf heute Nacht, endlich mal wieder zelten! Durch die Straßen von Frómista suche ich mir die sonnenbeschienene Seite aus, vielleicht kann ich ja für die Nacht Wärme vortanken. Dafür erweist sich aber meine heutige Bekleidung als absoluter Fehlgriff. Daran aber kurzfristig etwas zu ändern, kommt auch nicht in Frage. Vielleicht bei der ersten Pause.

 

Nach Frómista komme ich mir Ende Mai bald so vor wie Ende Februar in der Eifel. Was das Wetter anbetrifft. Der Wind ist biestig kalt und er bläst so kräftig, dass ich mir meinen Ohrenschutz aufsetze und den Hut noch darüber ziehe. Landschaftsmäßig ist es das Gegenteil: keine bewaldeten Berge, sondern absolut flaches Land, kein Wanderweg, der sich über Berg und Tal schlängelt, sondern eine Schotterpiste, die sich kilometerlang an einer viel befahrenen Straße entlangzieht. Der Wind kommt, wie immer, wenn man es nicht gebrauchen kann, voll von vorn, drückt einen fast zurück oder beutelt hin und her. Wir versuchen, dagegen anzurennen, überholen einen vor uns laufenden Pilger nach dem anderen - aber warm wird uns nicht. Aber heute Abend und heute Nacht können wir uns im Zelt ja ausruhen.

 

Was wir im Moment berennen, ist die sog. "Pilgerautobahn". Es handelt sich um einen speziell für Pilger angelegten Weg, der hier errichtet wurde, nachdem es früher zu einigen tödlichen Unfällen gekommen war. Der historische Jakobsweg wurde über die Jahrhunderte hinweg immer besser ausgebaut und endete dann schließlich als Straße. Seit dann später die Fußpilgerreise wiederbelebt wurde, stellt sich eben dieses Problem.

 

Auf der "Pilgerautobahn" laufen sie alle dahin: die Munteren, die Sich-Schleppenden, die Fußkranken, die Meditierenden und die Sich-Quälenden. Als wir vorbeiziehen, fängt heute kaum jemand ein Gespräch mit uns an. Jeder ist mit sich beschäftigt, stiert auf den Weg und schnauft.

 

Hinter Población de Campos biegen wir auf eine empfohlene Nebenstrecke ein, weg von der Straße und rein in die Felder. Eine grundsätzlich richtige Entscheidung, aber der starke, eisige Wind bleibt. Dafür sind hier nicht so viele Pilger unterwegs, sie datschen weiter an der Straße enlang. Links, rechts, links, rechts, links ...

 

In Villamentero machen wir erste Rast an einer etwas abgewrackten Bar an einem Sportfeld. Der Wirt holt gerade die Tische und Stühle raus, drinnen ist kein Platz zum Sitzen. Wir rücken uns alles selbst in die Sonne, denn wo es etwas windgeschützt ist und die Sonne hinreicht, kann man es, so gerade, aushalten. Und schließlich wollen wir uns ja nicht so anstellen, denn heute Nacht geht es ins Zelt.

 

Von der Bar an geht es auf der Nebenstrecke weiter bis Villalcázar de Sirga. Wir folgen einem kleinen Bach, der sich unterhalb des Weges schlängelt. Schilf steht an seinen Ufern, in dem sich offenbar viele Vögel und Frösche tummeln, denn ihre Begleitmusik zu unseren Schritten ist beträchtlich. Links und rechts vom Fluß stehen die Rapsfelder in vollem Gelb und die wogenden Getreidefelder erinnern an das plüschige Fell eines Bären, in das der Wind pustet. Mmh, es müsste dann wohl ein grüner Bär sein ..., aber ..., na ja.

 

In Villalcázar sehen wir wieder bekannte Gesichter. Die allermeisten sind die "Pilgerautobahn" entlang getigert. Viele wissen gar nicht , dass es die schönere Nebenstrecke gibt. Ja Kinder, wie bereitet ihr euch denn auf solch eine Unternehmung vor? Nochmal erholen wir Drei uns von dem permanenten Windangriff auf der windgeschützten Bank vor der Gemeindeherberge. Wir knabbern Kekse und Anni arbeitet sie direkt an einigen Trimmdich-Geräten wieder ab. Viele Pilger bleiben in den Herbergen des Ortes, Anni und ich gehen weiter. Schließlich wartet in Carrión de los Condes der Campingplatz auf uns. Und ich freu mich schon drauf! Ich bin doch sooo gespannt, wie ich eisige Kälte im Zelt noch so aushalte.

 

Bis nach Carrión de los Condes lässt sich die "Pilgerautobahn" nicht vermeiden. Wir stürmen sie entlang, überholen wieder und wieder, aber der Wind lässt nicht nach. Wir laufen nach Carrión hinein, sehen das Schild "Camping", folgen ihm und sehen bald einen kleinen Wald. Prima, dann sind wir mit unserem Zelt wenigstens windgeschützt. 0° C werden uns schon nicht umbringen! Als wir das Tor zum Campingplatz sehen, fallen mir dort die dicke Kette und das Schloss auf. Der Platz ist geschlossen!

 

Und jetzt? Campingplatz geschlossen und nichts anderes reserviert, das kann ja heiter werden ...! Eine alte Frau kommt auf uns zu, zeigt uns, wo wir eventuell wild campen könnten. Au ja, wild campen ist doch noch besser! Keine Toiletten, kein Wasser, eine "Grünfläche" mit Hundetretminen - genau das brauche ich jetzt. Aus dem Augenwinkel schaue ich zu Anni. Die ist von der ganzen Situation auch nicht sehr begeistert. Schließlich kommt ihr Griff zum Miam-Miam-Do-Do, unserer Unterkunftsbibel. Schnell wird sie fündig und telefoniert. Bitte, alter Mann dort oben, lass mich jetzt nicht im Stich! "Casa Tía Paula" hat tatsächlich noch ein Appartment für uns!

 

Schaaaade, jetzt wird es heute Nacht doch nichts mit dem Zelten. Ich hatte mich doch so darauf gefreut ...!

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Di

28

Mai

2013

Annika: Blutsauger!

Von Castrojeriz nach Frómista, 26 km

Die zweite Nacht im Zelt ist nicht weniger spannend als die erste. Sira braucht aber erstaunlicherweise viel länger als letztes Mal, um mit dem Zelt Freundschaft zu schließen. Sie will nicht reinkommen, und als sie dann drin ist, läuft sie unruhig herum (soweit das in einem Zelt eben möglich ist) und beschnüffelt alles.

 

Dieses Mal ist die Geräuschkulisse weitaus vielfältiger. Wir hören die Hunde in der Nachbarschaft bellen (Sira reagiert darauf mit souveräner Missachtung), Autos vorbeifahren, die Kirchenglocken läuten und Camper vorbeigehen. Den gesamten Rest der Nacht hören wir außerdem eines der Pilgerpferde, die gestern Nachmittag noch hier eingeritten sind, erbärmlich husten, den Wind pfeifen und den leichten Regen aufs Zeltdach tropfen.

 

Trotzdem gefällt mir die Nacht! Und kalt ist mir auch nicht, ich wage mich fast zu sagen, an den Beinen ist mir warm. Sira nimmt das Ganze letztendlich auch wieder ganz locker.

 

Obwohl ich heute Nacht oft wach war und ich mich viel hin und her gedreht habe, bin ich am Morgen erstaunlich ausgeruht. Da mein Handy-Akku sich im Zelt so schlecht laden lässt, hat sich morgens um drei also auch noch mein Wecker verabschiedet. Trotzdem werde ich um 6.02 Uhr wach. Das nenne ich mal ne innere Uhr!

 

Der Campingplatz ist noch totenstill, als wir beginnen, unser Zelt einzupacken. Ich stelle fest, dass das Ganze beim zweiten Mal viel schneller geht als beim ersten. Pah! Nach ein paar Mal Auf- und Abbauen geht das Ruckzuck! Heute noch nicht...

 

  Erst um neun Uhr ziehen wir los. Zuerst müssen wir durch Castrojeriz, einem Ort, der sich einmal komplett um den Fuß eines Berges herum zieht. Meine Güte, dieses Dorf nimmt ja kein Ende! Erst nach über einer halben Stunde laufen wir endlich wieder durch die wilde Meseta.

 

  Das Wetter hat sich nach heute Nacht inzwischen wieder eingekriegt. Rechtzeitig vor der ersten und quasi einzigen Anhöhe des Tages, strahlt die Sonne verlockend. In weiser Voraussicht schälen wir uns schnell aus unserer obersten Bekleidungsschicht. Eigentlich müsste auch Sonnencreme auf die freigelegte Haut, aber so kurz vor der Höhenanstrengung würde das nur zur Sauerei werden. Also wetze ich den Tafelberg rauf, um mich oben einzucremen. Papa braucht noch etwas länger, um sich komplett wieder "anzurödeln", also kommt er nach.

 

Huiuiui, dieser Berg ist nicht ohne! Als ich, oben angekommen, auf Papa warte, quatscht man uns mal wieder mehrfach an. Man gewöhnt sich dran...

 

Die nächste Stunde laufen wir durch die Felder der Meseta, bis zu einem (laut Wanderführer) "schattigen Rastplatz bei der Quelle". Naja, schattig will das aber erst noch werden. Es sind noch junge Bäume. Wie gut, dass wir bei dem starken Wind auch erstmal keinen Schatten brauchen!

 

Auch hier hat wieder, wie bei jeder anderen Rastgelegenheit, jemand ein Geschäft gewittert. Ein Mann verkauft Obst, Kalt- und Heißgetränke und Süßes. Aber wir sind noch zu früh, unsere Pausenzeit ist noch nicht gekommen.

 

Wir laufen noch gute drei Kilometer bis Itero de la Vega, und lassen uns dann im Innenhof der Albergue "La Mochila" nieder, wo die Belegschaft als erstes Mal Sira verhätschelt und mit Wasser versorgt und dann uns bedient.

 

Wir kommen mit einem spanischen Pilger ins Gespräch, der überraschend gut deutsch spricht. Nicht nur das... Irgendetwas an seiner Sprechweise klingt in unseren Ohren merkwürdig vertraut, obwohl er doch so einen starken spanischen Akzent hat. Irgendwann im Laufe der Unterhaltung wird es uns klar: Er habe 15 Jahre lang bei Opel gearbeitet und in Gelsenkirchen gewohnt. Ha! Das ist es also! Irgendwie ein Junge aus der alten Heimat! Lustig, dass man bei so viel Akzent auch noch so viel Dialekt raushören kann! Wir essen, wir trinken, wir holen Büroarbeit nach, und eh wir uns versehen, sind anderthalb Stunden um. Ach du je, jetzt aber weiter!

 

Wir bewandern die landwirtschaftlich geprägte Tierra de Campos, eine der charakteristischsten Landschaften des Jakobsweges, bevor wir Boadilla del Camino erreichen, wo wir noch einmal rasten und uns unser spanischer Ruhrgebietler die Unterkunft für Übermorgen klarmacht. Achtzehn Euro für das Doppelzimmer, da kann man nicht meckern. Zelten auf dem Campingplatz ist hierzulande auch nur einen Euro pro Person billiger... Man muss sehen, wo man bleibt...

 

  Die letzten sechs Kilometer bis Frómista laufen wir weiter durch die Felder, bis wir den Canal de Castilia  erreichen, der im 18. Jhdt. als Transportweg für die Erträge der Tierra de Campos geplant wurde und heutzutage zu deren Bewässerung dient. Irgendwie scheint der Boden hier etwas Besonderes an sich zu haben. In erster Linie Massen von Zecken. Als wir kurz vor Frómista innehalten, um uns mit einer Gruppe Amerikanern zu unterhalten, sehe ich, wie sie sich in Heerscharen von unten an Siras Beinen  hocharbeiten. Glücklicherweise ist ihr Fell so hell und kurz, dass sie kaum eine Chance haben, unbemerkt zu bleiben. Trotzdem staune ich nicht schlecht, als ich sie von insgesamt 23 Blutsaugern befreit habe, bevor sie zuschlagen konnten. Für Sira ist das ein Fest. Zecken scheinen für sie ein geschmacklicher Hochgenuss zu sein. Sobald sie merkt, dass ich auf Zeckenkurs bin, muss sie intensivst meine Hände untersuchen, bis sie das Mistvieh gefunden hat. Dabei tropft ihr der Sabber tatsächlich in Fäden vom Maul. Und das hab ich bei ihr noch nie gesehen, außer in Zusammenhang mit Zecken. Manchmal ist mein Hund eklig.

 

In unserer Motel-ähnlichen Unterkunft untersuche ich Sira nochmal sehr gründlich. Ich hoffe, ich habe keine übersehen!

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Mo

27

Mai

2013

Reinhard: Einsame, schöne Meseta

Von Hornillos del Camino bis Castrojeriz, 21 km

Zusammen mit einem deutschen Ehepaar sind Anni und ich die Ersten, die am Frühstückstisch sitzen. Das ist deutsche Pünktlichkeit! Wenn gesagt wird "Frühstück um 7 Uhr", dann sitzen wir um 7 Uhr am Tisch. Die Pilgerfreunde anderer Nationalitäten kommen erst so nach und nach. Uns soll es ja recht sein, dann sind wir auch zuerst mit dem Frühstück fertig und auch die Ersten, die wieder mit dem Kleinbus nach Hornillos und damit wieder an den Camino gebracht werden. Wir haben wirklich kaum unsere Rechnung bezahlt, mahnt der Fahrer auch schon zur Eile. Rucksäcke und Wheely werden wieder im Kofferraum verstaut, wir springen auf die Sitze und dann geht es in zügiger Fahrt gen Hornillos. Auf dem kleinen Platz vor Kirche und Bar muss ich das Wheely erst noch richtig zusammenbauen und mein Gepäck festzurren, bevor es weitergehen kann. Während dieser Zeit hat Sira eine neue Verehrerin gefunden. Eine Japanerin kommt aus der Gemeindeherberge neben der Kirche, geht freudig auf unsere Hundequeen zu, streichelt und herzt sie überschwenglich und füttert sie mit ihrem Trockenfleisch, das wohl eigentlich für sie als Notration gedacht war. Als ich mit dem Wheely fertig bin, ist Frau Mikohiko (oder so) auch mit Füttern fertig und wir verabschieden uns mit einem "Buen Camino". Wie oft wir diesen Gruß am Tag hören oder selbst aussprechen, lässt sich kaum nachhalten. Er gehört einfach zum Jakobsweg wie der Rucksack, der Pilgerstab oder der Pilgerpass. Selbst die Menschen in den Dörfern oder in den Bars rufen uns den Gruß zu und es ist immer wieder wie eine kleine Anfeuerung. Zu Hause hört man ähnliches eher nicht. Oder kann sich jemand an ein "Guten Rheinsteig" oder "Guten Eifelsteig" erinnern? Ich nicht. Von Hornillos zieht der Camino stetig hoch auf die Meseta. Meseta geht auf das spanische Wort "mesa" zurück, was so viel heißt wie Tisch, Platte oder Ebene. Kaum ein Baum wächst hier, ab und zu mal ein Busch entlang des Weges. Wozu diese dann genutzt werden, erkennt man an den Papiertaschentüchern, die man in ihrer Nähe vermehrt findet. Manche sprechen von einer eintönigen Landschaft, ich finde sie faszinierend. Zu dieser Zeit ist sie ein grünes Meer, so weit das Auge reicht. Am Horizont erheben sich vereinzelt einige Windparkanlagen, deren riesige, sich ständig drehenden Windräder Bewegung in die Szenerie bringen. Bewegung kommt in diese Landschaft auch, wenn Wolkenfelder über sie hinwegziehen, wie heute. Ein gleichmäßig blauer Himmel wäre fast langweilig, Hitze wäre für mich absolut störend. Da lobe ich mir die Wolkenberge, die vorüberjagen, den Wind, der Hitze gar nicht erst aufkommen lässt. Vielleicht muss man die Meseta bei 40°C erleben, um sie als Pilger zu verabscheuen, ich finde sie nur schön. Für mich ist das Hindurchwandern ungefähr so wie Mandalas ausmalen. Mitten in dieser Einsamkeit liegt die Herberge San Bol, die erst seit 2010 über Sanitäreinrichtungen und Strom verfügt. Jetzt liegt die kleine Herberge ruhig da, keine Menschenseele ist zu sehen. Morgens herrscht Betrieb, wenn sich die Pilger bereitmachen um weiterzuziehen. Mehrere solcher Herbergen, nur mit höherer Bettenzahl, gibt es im malerischen Dörfchen Hontanas, das in einem Bachtal liegt, welches die Hochfläche der Meseta durchschneidet. Neben der Kirche wieder die Herbergen, zwei Bars. Der Jakobsweg ist hier ein regionaler Wirtschaftsfaktor, die Infrastruktur für den Pilger stimmt. Besonders gut dran sind die Etappenorte, die in den Wanderführern als solche empfohlen werden. Hier schießen neue private Herbergen wie Pilze aus dem Boden. Das ist auch nötig, denn das Pilgeraufkommen steigt ständig an. Einen guten Verdienst haben auch die Bars am Weg, gerade auch die, die etwa in Zwei-Stunden-Abständen voneinander entfernt liegen. Hier macht man Rast, nimmt sein zweites Frühstück ein oder tankt nochmal Kraft für die letzten Kilometer bis zum Ziel. Wir machen auch Rast in Hontanas. Und wie immer, kommen wir mit anderen Pilgern ins Gespräch. Es gab Tage, da dachte ich, dass unser erzwungener Verzicht auf kommunale oder kirchliche Pilgerherbergen hier in Spanien (wegen Sira) den Kontakt zu anderen Pilgern erschweren würde. Aber dass hat sich absolut nicht bewahrheitet. Ständig werden wir angesprochen, nach unseren Erfahrungen auf dem Weg befragt, Sira wird bewundert. Kaum ein "normaler" Pilger steht oft so im Mittelpunkt des Interesses. Uns schmeichelt natürlich das Erstaunen über unsere bisher erbrachte Leistung, Sira genießt die vielen, vielen Streicheleinheiten, die sie mit größtem Wohlwollen über sich ergehen lässt. Besser kann man sich in der großen Pilgergemeinschaft gar nicht aufgehoben fühlen. Als wir in Hontanas gerade aufbrechen wollen, kommt ein Pilger der besonderen Art die Straße hinunter. Er ist höchstens 25, hat lange, blonde Haare, trägt stark verschlissene Kleidung und einen Gitarrenkoffer in der rechten Hand. Ich bekomme schon Krämpfe, wenn ich eine Plastiktüte mit gerade eingekauften Lebensmitteln mehr als eine Stunde durch die Gegend tragen muss. Und dieser Junge trägt einen Gitarrenkoffer über den Jakobsweg! Ich spreche ihn an und erfahre, dass er Tscheche und seit April vorigen Jahres von zu Hause aus unterwegs ist. In Städten packt er seine Klampfe aus und verdient sich mit seiner Musik Geld für sein weiteres Vorwärtskommen. Wenn das Geld auf diese Art und Weise nicht reicht, hält er sich mit Jobben über Wasser. Ich würde ihn gerne mal irgendwo spielen hören. Die Glocke der Kirche von Hontanas schlägt 11 Uhr, als wir uns wieder aufmachen. Dabei fällt uns ein weiteres Mal auf, dass die Glocken hier in Nordspanien jedem Eifeler Glockengießer die Fußnägel hochklappen ließen. Sie klingen nicht, sie ... schäppern! Aber vielleicht finden die Nordspanier die deutschen Glocken ebenfalls entsetzlich. Am Hang eines fruchtbaren Bachtals wandern wir weiter, mächtige Wolken begleiten uns, lange Zeit ist es aber sonnig. Es ist schön, auf dem Weg zu sein. Irgendwann wandern wir im Tal auf einer Alleestraße und sehen auf einmal die mächtigen Ruinen des ehemaligen Klosters San Antón vor uns. Es gehörte zum Orden von San Antón, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Pilger zu heilen, die an Lepra litten. Die Straße führt unter einem hoch aufstrebenden Bogen hindurch, der früher direkt durch die einstige Nordvorhalle führte. Rechts im Bogen sind zwei Einbuchtungen, durch die die früheren Pilger Essen bekamen. Wir gehen leer aus. Das ist auch besser so, denn über Castrojeriz, das nun vor uns liegt, türmen sich schwarze Wolken auf, aus denen sichtbar ergiebige Schauern niedergehen. Wir werden immer schneller, schaffen es aber nicht ganz. Einen Kilometer vor unserem Ziel knallt Hagel auf meinen Schirm, aber er hält glücklicherweise nicht lange an und der anschließende leichte Schauer reicht nicht, um uns wirklich nass zu machen. Um 13 Uhr bereits sind wir auf dem Campingplatz. Ich bekomme ein Bett in einer kleinen Blockhütte, Anni möchte unbedingt und endlich mal wieder das Zelt aufschlagen. Der zweite Aufbauversuch klappt auch schon viel besser als der erste in Puente la Reina. Dann ist Entspannung angesagt, so lange wie selten. Die Sonne scheint uns dabei auf den Pelz, so warm wie selten. Uns geht es gut!

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So

26

Mai

2013

Annika: Ausgebucht!

Von Burgos nach Hornillos del Camino, 24 km

Boah, war ich gestern kaputt! Sogar so kaputt, dass ich zu faul war, mir im Bad meine Ohropax zu holen, bevor ich schlafen ging. Das Ende vom Lied war, dass ich jedes Mal wach geworden bin, wenn Sira geseufzt oder Papa sich im Bett gedreht hat oder zum Klo gegangen ist..

Entsprechend schlecht komme ich heute aus dem Bett. Dreimal stelle ich den Wecker weiter und brauche danach seeeehr lange, um mich zu organisieren und die Einkäufe zu verstauen, die ich gestern einfach nur neben und unter mein Bett gekegelt hab.

Erst um neun Uhr verlassen wir Burgos. Das Treiben ist längst nicht mehr so emsig wie gestern. Nur eine Handvoll Menschen ist unterwegs und ein paar Straßenkehrer beseitigen die Überreste der gestrigen Sause.

  Das Verlassen von Burgos gefällt mir besser, als es mir hier je bei einer der anderen Städte gefallen hat. Vielleicht liegt es daran, dass Sonntag ist, dass wir einfach eine gute Straße erwischt haben oder dass alle noch verkatert im Bett liegen wegen der großen Party, aber es ist angenehm ruhig und friedlich, als wir uns ebenso ruhig und friedlich mit wenigen anderen Pilgern stadtauswärts begeben.

Als wir auf eine Kirche zulaufen, wird die Ruhe jäh gestört. Papa will die ruhenden Störche in ihren Nestern auf dem Kirchdach ablichten, als er davor eine kleine Person in Wanderdress den Hampelmann machen sieht. Sie klatscht in die Hände und ruft dabei "uähwäh!" Als wir uns gerade darüber amüsieren, bemerkt sie uns. "Sie" ist eine Asiatin mit Safarihut samt Nackenschutzvorhang und übergroßer Brille, Marke "Puck, die Stubenfliege". Mit leichtem Silberblick, Dauergrinsen und eine Spur zu überdreht steht sie bald direkt vor uns. Und mit "eine Spur" meine ich nicht die dezente, zarte eines Rennrads, sondern eher die Spur, die ein vollbremsender LKW auf der Autobahn macht. Auch wenn es gemein klingt, ich muss es mal sagen: Sie nervt! Ab der ersten Sekunde. Zu infantil, zu stürmisch, zu distanzlos, zu laut, zu hochfrequent.

Als sie auf uns zuläuft, wirkt sie wie eine Sechsjährige, die den Eiswagen stürmt. "Howaaaaard! Take a photooooo! Me and the doooog. Me and wheeeeelyyyyy!" Alles, was man den Asiaten an Selbstkontrolle und Beherrschung nachsagt, hebt sie grundlegend aus den Angeln. Howaaaaard nimmt es gelassen. Er kennt sein Herzchen wohl und tut, wie ihm geheißen. Boa, wie der das aushält! Ich könnte das nicht. Muss ich ja auch nicht. Jeder Jeck ist eben anders. Wir verabschieden uns schnell und suchen das Weite.

Noch völlig verwirrt von dieser Begegnung biegen wir kurz darauf falsch ab. An der Bar an der gerade passierten Kreuzung stehen drei Männer, unterhalten sich lautstark und pfeifen plötzlich. Wir drehen uns etwas entrüstet herum und sie zeigen nur in eine andere Straße. Ähem... da sind wir wohl falsch abgebogen... Und die Herrschaften schicken uns wieder auf den richtigen Weg. Wir danken und wandern weiter, diesmal auf der richtigen Straße und durch eine Parkanlage. Ich bete mal wieder, dass Sira ihr großes Geschäft nicht jetzt verrichten muss, sondern erst, wenn wir wieder draußen sind in der Wildnis. Klar, zum einen, weil Kacke aufsammeln nicht zu meinen liebsten Beschäftigungen zählt, zum anderen, weil ich ein großes Problem habe: Ich habe keine Kackbeutel mehr. In Deutschland oder Frankreich ist das nicht schlimm, denn man kann seine Vorräte an jedem Mülleimer in Parks auffüllen. Hier ist das anders. Nirgends finde ich taugliche Beutel! Nicht im Park, nicht beim Tierarzt, nicht im Supermarkt. Und ich möchte nun wirklich keine durchsichtigen Butterbrotbeutel oder Einkaufstüten nehmen! Interessanterweise findet man hier aber, obwohl es nirgendwo ordentliche Beutel gibt, erstaunlich wenig Tretminen.

Meine Gebete werden natürlich, wie soll es anders sein, nicht erhört. Sira entleert sich auf einer frisch gemähten, gehegten und gepflegten Grünfläche. Ihre Hinterlassenschaft landet in einer Tüte, die gestern noch Bananen verpackte.

Sira steht heute mal wieder hoch im Kurs und verdreht den Stadt-Jungs gehörig den Kopf. Erst einem Golden Retriever-Rüden, dem die Sabberfäden zäh aus den Lefzen hängen, dann einem älteren Dackelherrn. Sie sind immer gleich so verliebt, dass alle guten Vorsätze dahin sind und sie für keine fünf Pfennig mehr auf ihre Besitzer hören. Tja, so ist das, wenn die Liebe einen völlig in den Wahnsinn treibt. Sira nimmt es, wie es kommt und spielt mit den netten Kerlen, bis sie endgültig zurück gerufen werden.

Irgendwann haben wir die Stadt endgültig verlassen und laufen durch endlose Weizenfelder. Über uns sehen wir inzwischen nicht etwa EINEN Storch, nein, es ist gleich ein ganzer Schwarm von acht Störchen, der über unseren Köpfen kreist. Vielleicht geben die Mütter ihren Jungen, die wir jetzt schon so oft im Nest gesehen haben, erste Flugstunden. Vielleicht haben sie aber auch einfach nur Spaß am gemeinsamen Ausflug.

Mein Spaß hält sich im Moment in Grenzen. Was Papa gestern hatte, habe ich heute: Es fällt mir schwer! Meine Füße tun weh, die Knie auch. Ich komme nicht in Gang. Schon nach einer guten Stunde, bei Villabilla de Burgos, pausieren wir.

Als wir nach einer halben Stunde weitergehen, bin ich schon wieder weitaus besser im Tritt. Ruckzuck erreichen wir so Rabe de las Calzadas.

  In einer Bar genehmige ich mir eine Cola und Papa sich einen frisch gepressten O-Saft. Sira dagegen gönnt sich ein Nickerchen. Als sie gerade in der absoluten Tiefschlafphase ist, steht plötzlich ein extrem freundlich wedelnder Labrador-Mix-Rüde vor ihr und will unbedingt spielen. Als sie aus dem Schlaf hochschreckt und das Ungetüm vor ihr steht, ist sie erstmal so schockiert , dass sie ihn gehörig zusammenstaucht. Danach sind sie aber beste Freunde und spielen lange und ausgiebig miteinander.

Der Barbesitzer schenkt noch jedem von uns einen kleinen Madonnen-Anhänger als Talisman für unseren Weg, und wir verabschieden uns.

Vor der Albergue des Dorfes sitzen einige bekannte Gesichter. Und alle gehen sie nicht weiter! Sie wollen die heutige Etappe hier beenden. Fast alle, mit denen wir gestern gesprochen haben, wollen entweder heute einen Ruhetag in Burgos machen oder eben nur eine Baby-Etappe bis Rabe de las Calzadas. Was ist denn los mit euch, Leute? Hat euch die große Stadt so fertig gemacht? Oder habt ihr es gestern wegen der großen Festlichkeiten oder des Fußballspiels so sehr übertrieben?

So oder so, wir gehen weiter. Unmittelbar nach dem Ort steigen wir auf die erste Höhe der Meseta auf, jener gefürchteten end- und schattenlosen Felderwüste, in der schon so mancher Pilger verzweifelt ist. Ursprünglich hatten wir mal darüber nachgedacht, dieses Teilstück nachts zu laufen und tagsüber zu schlafen. Um der erwarteten Hitze zu entfliehen und da man ja eh nichts außer Feldern verpasst. Da das Wetter uns aber gnädig ist, laufen wir nun doch tagsüber. Die Sonne scheint, aber sie brennt nicht. Außerdem weht ein nettes Lüftchen.

Und ich muss sagen, ich kann die Vorurteile über die Meseta nicht bestätigen, zumindest bis jetzt nicht. Klar, wir sehen weeeeeeiite Felder, aber mit ihrem saftigen Grün vor dem blauen Himmel, auf ihren geschwungenen Hügeln, fühlen wir uns wirklich wohl! Ich kann mich mit Stolz outen: Ich mag die Meseta!

Nach einer Stunde können wir im Tal unser Etappenziel, Hornillos del Camino, sehen. Vor und hinter uns ist kaum ein Mensch, auch mal eine relativ neue und angenehme Erfahrung. Im Ort rufen wir in unserer reservierten, 6 km entfernten Unterkunft an, damit man uns abholt. In Hornillos hatten wir mal wieder keine Chance: No perro! Während wir auf unseren Transport warten, kommen wir mal wieder mit den Leuten ins Gespräch. Und bei den Neuankömmlingen macht sich Verzweiflung breit: Alle Herbergsbetten belegt! Oje, die nächste Herberge ist sechs Kilometer entfernt! Ein paar Mädels haben noch Glück, sie können spontan mitkommen zu unserer Unterkunft, der Rest hat Pech gehabt und muss weiter. Unser Fahrer lädt inzwischen mit großer Hektik unser Gepäck ein und fährt an den Massen einströmender Pilger vorbei. Sie wissen noch nichts von ihrem Unglück. Ich habe Mitleid, aber das ist eben das Pilgerleben, wenn man kein Zelt dabei hat...

Wir fahren weitaus mehr als sechs Kilometer mit einem Neunsitzer in die Pampa. Ich komme mir vor, wie im sambischen Minibus, nur ohne sambisches Gedudel aus dem Radio, ohne lebende Hühner unterm Vordersitz, mit intakten Fensterscheiben und mit höchstens der Hälfte an Personen beladen. Na gut, eigentlich ist es damit schon wieder gar nicht mehr mit Sambia zu vergleichen.

Als wir El Molino anfahren, staunen wir nicht schlecht. Wir fahren auf das Gelände eines alten Mühlen-Anwesens. Mehrere frei laufende Hühner, Gänse, Truthähne, Enten und anderes Federvieh flattern vorbei. Man empfängt uns in einem riesigen Salon, in dem gespeist wird und führt uns nach oben, am Billardzimmer mit Grammophon vorbei in unser Gemach, das mit altem, fast antikem Mobiliar bestückt ist. Meine Herren!

Als ich abends mit Sira rausgehe, stürmt plötzlich ein riesiges Kalb von Schäfer-Pyrenäenhund-Mischling auf uns zu und stößt dabei undefinierbare Grunzlaute aus, die wohl irgendeine Mischung aus Knurren und Bellen sein sollen. Sekundenbruchteile später steht er direkt vor mir und gräbt seine Nase in meine Kniekehle. Keine wirkliche Aggressivität, aber auch keine Freundlichkeit ist zu verspüren. Mein Herz rutscht mir in die Hose und ich packe mir die nächstbeste Waffe, die ich finden kann: Eine Mistgabel. Als ich die in die Hand nehme, zieht das Monster sich zurück und lässt Sira ihre Geschäfte verrichten.

Als wir kurz darauf wieder im Zimmer sind, muss ich mich erstmal setzen.

Mir zittern die Knie!

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Sa

25

Mai

2013

Reinhard: Platt in Burgos

Von Argés nach Burgos, 24 km

Heute Nacht ist nochmal alles gutgegangen. Die tief liegenden Balken bereiteten mir vorab schon leichte Probleme. Dass ich immer halb gebückt gehen musste und mein Kreuz dagegen protestierte, war das Eine. Meine Sorge, in der Nacht im Rahmen meines Klogangs gegen einen dieser Balken zu brettern, war das Andere. Licht wollte ich nicht machen, um Anni und Sira nicht zu wecken. Aber wie gesagt ...

Am Morgen will ich trotzdem kaum losgehen. Mich quält eine zünftige Verstopfung. Was bin ich eigentlich für ein Weichei? Erst spielt in der Nacht mein Kreislauf verrückt und jetzt das! Aber keine Panik zu Hause! Die meisten haben hier unterwegs mal mit einem Problemchen zu kämpfen, das gehört doch fast dazu. Aber wer schon mal eine Verstopfung hatte, weiß auch, wie lästig das ist. Ob er aber auch weiß, wie weh das tut, wenn man sich währenddessen den Bauchgurt von einem Wheely fest um das kränkelnde Organ binden muss? Und das über viele Stunden und viele Kilometer? - Ich will nicht los, weil ich weiß, was mich erwartet. So ist es auch: Es drückt und schmerzt, dass mir manchmal die Luft wegbleibt. Ich habe nur noch einen halben Blick für meine Umgebung und wünsche mir schon um 10 Uhr am Ziel zu sein. Ein Formtief also der schönsten Art.

Um 10 Uhr sind wir aber immerhin bei unserer ersten Raststation an der Bar von Cardeñuela de Ríopico. Bekannte Gesichter sitzen bereits draußen an den Tischen und wärmen sich ihre Hände an der heißen Tasse Kaffee, andere sitzen direkt drinnen. Wohlgemerkt: Wir sind in Spanien, Ende Mai, 10 Uhr morgens! Unser Bochumer Pilgerfreund kommt auch schweren Schrittes anmarschiert. Er fühlt sich besser, will heute unbedingt noch nach Burgos, um sich dort mit Freunden zu treffen und mit ihnen dort in irgendeiner Bar dass Champions-League-Endspiel zwischen Borussia Dortmund und Bayern München anzusehen, aber sein Körper spricht klar eine andere Sprache. Aber manchmal muss man auch unvernünftige Dinge tun. Wie heißt das magische Wort der Jakobspilger? Ultreia - Weiter geht's!

Nach heißem Kaffee und Tee sind wir gerade dabei, uns wieder auf den Weg zu machen, da findet Sira einen Freund. Und das bedeutet spielen, und spielen bedeutet toben. Sie rennen und purzeln umeinander, dass es eine Freude ist. Nur das Frauchen vom Freund, eine kleine Spanierin, wohl aus dem Dorf, bekommt immer wieder Schnappatmung, wenn Sira ihr Hündchen aushebelt und auf den Rücken wirft.

Je näher wir Burgos kommen, umso mehr wird die Landschaft eher unattraktiv. Die Frage ist: Wie kommen wir am angenehmsten in die Großstadt Burgos hinein? Der klassische Weg ist der unangenehmste. Er führt kilomerterlang durch ein Industrie- und Gewerbegebiet, dann langgezogen weiter durch die Vororte. Ist man dann im Zentrum, hat man vielleicht von dieser Stadt schon die Nase voll. Die Alternative ist glücklicherweise in meinem Wanderführer auch beschrieben und sogar sehr gut markiert. Sie führt zwar zunächst zeitweise am Zaun des Flughafens von Burgos entlang, aber solange wir dort unterwegs sind, hören und sehen wir kein einziges Flugzeug. Der weitere Weg entlang des Flusses Alanzón ist direkt als idyllisch zu bezeichnen. Erst auf Naturwegen, anschließend durch eine Art Park, bringt uns diese Wegalternative immer mehr auf nette Weise Burgos entgegen.

Trotzdem bin ich platt! Obwohl es gar nicht mehr so weit bis ins Zentrum ist, brauche ich nochmal eine Pause. Auf einer Wiese am Fluss, in der Nähe eines kleinen Strandes, lasse ich mich ins Gras fallen, nehme meinen kleinen Tagesrucksack als Kopfkissen und mache mich lang. Als ich die Augen wieder öffne, ist das Wetter mittlerweile viel schöner geworden. Nur noch vereinzelte Schäfchenwolken ziehen über einen ansonsten blauen Himmel. Ich muss tatsächlich etwas geschlafen haben.

Etwas besser auf den Beinen (aber nur etwas), strebe ich mit meiner Tochter nun der Kathedrale von Burgos entgegen, immer weiter am Fluss entlang. Gegen 16 Uhr sind wir dann endlich da! In den Straßen, auf den Plätzen und erst recht um die Kathedrale herum pulsiert das Leben. Kein Wunder, es ist Samstag und das Wetter ist endlich auch mal schön. Uns fällt auf, dass auf allen Plätzen, über die wir gehen, riesige Lautsprecheranlagen aufgebaut sind und gerade Soundchecks durchgeführt werden. Überall erklingt Musik, von Klassik bis Rock. Wie ich herausfinde, soll heute Abend hier bis in die Nacht hinein ein großes Musikevent steigen. Aber heute Abend ist doch auch das Fußballspiel ...! Und auf unserem reservierten Zimmer im Hostal gibt es bestimmt, nach unseren bisherigen Erfahrungen, einen Fernseher. Außerdem ist auch der Plan noch nicht vom Tisch, mich mit dem Bochumer in einer Bar zu treffen, um dort das Spiel anzusehen, mit Kneipenatmosphäre also. Aber mir geht es immer noch nicht gut, verdammt!

Ein weiterer Punkt stört uns: Unser Hostal, auf der anderen Seite des Flusses, aber trotzdem noch zentral gelegen, ist erst ab 19 Uhr für uns geöffnet. Der Betreiber ist noch mit einer Familienfeier befasst und erst um diese Zeit zurück. Blöd, müssen wir unser Gepäck eben die ganze Zeit mit uns herumschleppen!

Die Kathedrale ist gewaltig. Auf mich wirkt sie durch ihre verschiedenen Elemente aber auch irgendwie verspielt. Durch ihre Helligkeit, von der Sonne angestrahlt, im Kontrast mit dem dunkelblauen Himmel, macht sie einen tiefen Eindruck auf mich. Als dann auch noch aus den Lautsprechern auf dem großen Platz vor ihr der "Gefangenenchor" aus der Oper Nabucco ertönt, habe ich einen dicken Kloß im Hals.

Anni hat die gute Idee, in der Touri-Info nachzufragen, ob wir für die Zeit unserer Kathedralen-Besichtigung unser Gepäck dort lagern können. Gesagt, getan. Der jungen Dame hinter dem Schalter versuche ich also klarzumachen, dass es "with our Wheely" etwas problematisch ist, sich in und um die Kathedrale herum zu bewegen und frage, ob wir ihn und Annis Rucksack für vielleicht zwei Stunden hierlassen könnten. Dabei zeige ich nach draußen, wo Anni und Sira hinter meinem Gepäcktransporter stehen und auf mich warten. Señora blickt hinüber und mich dann fassungslos an. Sie könne meine Probleme zwar verstehen, aber schließlich seien sie keine "dogsitter". Hää??? Wat is?
Schließlich dämmert es mir. Als ich den "Wheely" erwähne, denkt die Touri-Dame, Sira sei damit gemeint. Als wenn wir das Tier hier für zwei Stunden parken würden! Als ich den Irrtum aufkläre, kann sie uns aber trotzdem nicht helfen, empfiehlt uns aber die Schließfächer am Busbahnhof. Jau, und da passt diese ganze Karre rein ...! Schwachsinn! Angesäuert verlasse ich den Laden.

Beim Ticketschalter der Kathedrale ist dann alles wirklich kein Problem. Wheely darf ich in einem toten Winkel parken, die Rucksäcke kommen in Schließfächer. Zack, geht doch!

Die Innenbesichtigung müssen wir wieder getrennt vornehmen, wegen Sira. Aber das kennen wir ja schon. Während der eine durch das riesige Gotteshaus streift, sitzt der andere draußen in der Sonne, passt auf Sira auf und hört sich dabei den Singsang einer Bettlerin an, die jeden Vorbeikommenden auf den Treppenstufen der Kathedrale, wie im Mittelalter, um ein Almosen bittet.

Um kurz nach 19 Uhr sind wir endlich auf unserem Hostal-Zimmer. Mein einziger Gedanke ist - das Bett. Während Anni nochmal rausgeht, um ein paar Lebensmittel zu kaufen, knacke ich weg und werde erst wieder wach, als sie u.a. mit zwei Pizzas wieder zurückkommt. "Herzlichen Glückwunsch, Papa, zum 100. Wandertag! Das Festessen!" Meine Tochter! Ich bin begeistert!

Im Fernsehen vor uns läuft das Fußballspiel und wir verspeisen dabei die leckersten Pizzas der letzten Monate. Wer das Spiel gewinnt, ist eigentlich egal.

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Fr

24

Mai

2013

Annika: Endlich wieder Sonne!

Von Belorado nach Arges, 28 km

Bah! 5:30 Uhr! Das ist mir echt zu früh! Heute klingelt der Wecker eine halbe Stunde früher als sonst. Wir haben einen langen Tag vor uns, deshalb wollen wir zeitig los.

Als wir Belorado und unsere freundlichen Herbergseltern verlassen, ist es saukalt. Da mag ich mal wieder ans Zelt gar nicht denken!

Wieder mal reihen wir uns in den Wanderstrom ein. Inzwischen kennt man die Gesichter. Die Namen hat man meistens noch nicht herausgefunden, außer einen, den kennt jeder: Den Namen "Sira". Jeder grüßt und tätschelt, man kommt immer wieder mit den Leuten ins Gespräch. Das Thema ist auch fast immer gleich: Sira und das Pilgern. Ich wüsste gerne mal, über was wir reden würden, wenn Fiffi nicht dabei wäre. Vielleicht hätten wir dann gar nichts zu reden.

Die Zeit bis zu dem Dorf Tosantos vergeht schnell. Es ist Zeit für eine Pause. Ich wäre ja für eine Parkbank, aber Papa gelüstet es nach einem Käffchen und ich könnte eigentlich auch ein Klöchen vertragen. Also suchen wir die einzige Bar im Ort auf. Hunde: Bitte draußen bleiben! Gut, das ist machbar. Ich binde sie am Pfahl fest und gehe zügig hinein. Und schon geht das herzzerreißende Gejammer los. Aber da müssen wir durch. Jeder neu ankommende oder fortgehende Pilger tätschelt sie wieder oder macht irgendein "Tutschitutschi!" mit ihr. Naja, damit hat sich das Geheule scheinbar gelohnt und sie setzt wieder ein, sobald man ihr den Rücken kehrt. Alle in der Bar zerfließen. Scheinbar klingt sie so verzweifelt, dass sogar ein niedlicher, mittelgroßer Hund vorbeikommt, um sie zu trösten. Mit dem will sie sofort spielen. Sie zieht ihm ein paar Mal herausfordernd ihre Pfote durchs Gesicht und damit reicht es dem alten Herrn. Er zieht von dannen und Sira jammert weiter, bis wir die Bar verlassen.

  Über weite Feldwege laufen wir immer weiter in einen wirklich schönen Tag. Die Sonne scheint und der Himmel ist nur von ein paar Schäfchenwolken überzogen. Da aber trotzdem immer mal ein Windchen pfeift und es auch im Allgemeinen nicht übermäßig warm ist, bleibt zumindest die lange Hose auch den restlichen Tag über an, aber wenigstens die Jacke wird phasenweise abgeschmissen.

Nach Villambistia und Espinosa del Camino erreichen wir Villafranca Montes de Oca. Und schon ist wieder Pausenzeit! Schön, wenn man sich so von Dörfchen zu Dörfchen hangelt, vergeht die Zeit ganz schön schnell!

Wir begeben uns an den Plastiktisch vor der nächstmöglichen Bar in der Sonne und Sira versucht sich vergeblich mit dem motzigen kleinen Fiffi des Hauses anzufreunden, als ein deutscher Reisebus vorfährt. In ihm einige ältere Damen, wenige Männer und ein vielleicht zwanzig Jahre alter Kerl, der den Altersdurchschnitt schwer in den Keller haut. Der Busfahrer ist ein unangenehm lauter und aufgesetzter Typ, der uns noch allerhand schlaue Tipps mit auf den Weg gibt. Na, herzlichen Dank, du musst es ja wissen!

  Kurz bevor wir gehen wollen, gesellt sich, wie auch schon heute morgen und auch nochmal am Nachmittag, ein junger Mann aus Bochum zu uns. Wir treffen ihn seit Tagen immer mal wieder. Er hat Probleme mit seinem Knie, will aber trotzdem heute und morgen die gleichen langen Etappen laufen wie wir, um am Samstag, rechtzeitig zum Champions-League-Finale, in Burgos zu sein. Also auch nix mit Schonen oder so... Kann ja jeder machen, wie er meint.

  Von jetzt an steigen wir steil hinauf  in die Oberstadt, in der ein alter Mann mit blutunterlaufenen Augen uns noch einen Tipp für eine Variante mit dem Wheely gibt. Dankbar verabschieden wir uns. Er sagt uns: "Ages: 20 km!" Naja, das wollen wir aber noch sehen. Wir nicken freundlich und klettern weiter den Berg hinauf durch die Montes de Oca, die Gänseberge.

Bald treffen wir die Buswandergruppe, die uns anlächelt. "Wir haben gehört, ihr seid von Köln losgelaufen!" Meine Güte, jetzt zieht unsere Prominenz aber langsam Kreise... Die sind doch erst seit heute hier unterwegs, wer hat denen das denn schon erzählt?!? Wir reden zwei, drei Sätze und ziehen dann an ihnen vorbei.

  Auf den folgenden acht Kilometern laufen wir über eine  blendend helle Piste ohne nennenswerte Steigung oder Gefälle. Mein einziger Lichtblick ist San Juan de Ortega. Das Dorf besteht aus nicht viel mehr als einer Kirche, einer Pilgerherberge und einer Bar, also aus allem, was das Pilgerherz begehrt. Darum ist hier auch alles voll.  Auf den Bänken sitzen vereinzelte Pilger allein, ebenso wie an   den Tischen der Bar. Wir gesellen uns zu einer interessant-geselligen Truppe, die in lockerer Runde auf dem Boden im Kreis ist.

Nach einem Bierchen in der Sonne, laufen wir die letzten vier Kilometer und ich erreiche mit hochgradig verbrannten Wangenknochen die Unterkunft.

Endlich mal wieder eine Albergue! Wir sind positiv über den Preis überrascht und freuen uns, als der Hospitalero uns ohne Komplikationen unser kleines Zimmer zeigt. Rustikal und Dachgeschoss, in dem man nicht richtig stehen kann, aber wir sind zufrieden. Es könnte uns schlechter gehen!

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Do

23

Mai

2013

Reinhard: Nöte mit der Notdurft

Von Santo Domingo de la Calzada nach Belorado, 24 km

In der noch recht menschenleeren Calle Mayor von Santo Domingo de la Calzada treffen wir den Bochumer Jungen wieder, dem wir schon einige Tage zuvor begegnet waren. Seinerzeit klagte er über starke Schmerzen im Knie und wollte an dem Tag nur noch wenige Kilometer gehen. Jetzt geht gar nichts mehr, heute will er mit dem Bus fahren. Zehn Minuten später überholen wir einen anderen jungen Mann, dessen Körper ihn zwingt, ganz langsam zu gehen. Als ich mich nach seinem Befinden erkundige, deutet er nur mit schmerzverzerrtem Gesicht auf sein rechtes Fußgelenk. Diese beiden sind nur die ersten, die mir heute wegen ihrer ungeschmeidigen Gehweise auffallen. Und mir fällt auch auf, dass es gerade die jungen Menschen sind, die nicht gut dran sind. Sind das die jungen Stürmer, die am Anfang ihrer Pilgerschaft losrennen, weil sie sich so stark fühlen? Die meinen, sie würden nur dann als echte Pilger anerkannt, wenn sie möglichst viele Kilometer "abreißen"? Sowas rächt sich meistens.

Bei mir rächt sich allerdings auch seit drei Tagen irgendwas, in der Magengegend. Ich habe nachts damit Probleme, es versaut mir die Relaxphasen nach den Tagesetappen und auf der Strecke brauche ich, das bilde ich mir jedenfalls ein, doppelt so viel Kraft. Heute drückt mir der Bauchgurt des Wheelys so sehr auf die kränkelnde Körpergegend, dass ich die erste Pause doch sehr herbeisehne. In Redecilla del Camino geht diese uns an der Nase vorbei, weil Sira nicht mit in die Bar darf, im Dorf zwei Kilometer später liegt keine Bar am Weg, in Castildelgado auch nicht, aber jetzt ist Schluss. Wir setzen uns auf eine windgeschützte Bank am Rande des Kirchplatzes und Anni kocht uns einen Tee auf ihrem Kocher. Eigentlich hätte ich ja lieber einen Kaffee, aber ich muss meinen Magen schonen. Eine Tafel Nuss-Schokolade muss aber dran glauben, es muss ja nicht direkt Zwieback oder trockener Toast sein.

Wenn man sich Tee zuführt, kommt recht bald der Moment, jedenfalls bei Anni und mir, dass Tee auch wieder raus will. Und zwar mit Macht! Wer aber diesen Abschnitt des Jakobsweges kennt, weiß, dass das gar nicht so einfach ist. Anni hat sich ja bereits über den Mangel an öffentlichen Toilettenanlagen beschwert, aber jetzt mangelt es sogar an geeignetem Buschwerk. Nur noch Getreidefelder soweit das Auge reicht, durchzogen von Straßen und Schotterpisten, und eine dieser Schotterpisten ist der Jakobsweg. Und auf dem Jakobsweg gehen im Durchschnitt alle 100 Meter ein Pilger oder eine kleine Pilgergruppe. Und wir mit randvoller Blase mittendrin. Eine Zeit lang

 versucht man, sich auf Autopilot zu setzen und den Gedanken an die Erleichterung einfach wegzuschwitzen, aber irgendwann hörst du nur noch deine innere Stimme: "Du musst pinkeln! Du musst pinkeln!" Aber hinter dir kommen andere Pilger, neben dir auf der Schnellstraße brausen die Autos und LKWs dahin. Dann ... , ja dann kommt vielleicht der Moment, dass eine kleine Anhöhe zwischen dir und dem nächst folgenden Pilger auftaucht und dich für den kurzen notwendigen Moment erlöst. Für Anni muss es dann doch schon ein größerer, dichterer Busch sein, und wenn dann ein LKW-Fahrer in rasender Vorbeifahrt einmal kurz hupt, weiß Anni, dass der Busch doch nicht dicht genug war.

  Ja, ja, es gibt schon peinliche Situationen. Da sich eine angebrochene Tüte Milch schlecht im Rucksack oder im Wheely transportieren lässt, bekam ich heute morgen von meiner Tochter den Auftrag, meine PET-Trinkflasche anstatt mit Wasser lieber mit dem Rest (genau einem halben Liter) Milch aufzufüllen, um sie bis morgen früh zum Frühstück sicher zu verwahren. Jetzt laufe ich heute ganz offen mit einer weiß-leuchtenden Milchflasche im Bauchgurt über den Jakobsweg. Wie bitteschön sieht das denn aus?! Dezent hänge ich meinen Hut drüber.

In Villamayor machen wir unsere nächste Pause, diesmal aber in einer Bar. Wir müssen uns einfach mal etwas aufwärmen. Man stelle sich das mal vor! Ende Mai, in Spanien! Anni ist nochmal so mutig und leint Sira an einer Laterne an. Was zunächst auch kein Problem ist. Aber nach uns betreten weitere Pilger die Bar, andere verlassen sie. Und nahezu alle gehen zu Sira, bedauern sie, streicheln sie. Sira findet das mordsmäßig gut, genießt ihre Streicheleinheiten und heult allen nach, die sie dann doch verlassen. Wir merken immer wieder, Siras Fangemeinde wird immer größer. Wie sagte doch vor kurzem eine junge spanische Pilgerin: "La mascotta del Camino!"

  Wir verlassen gerade wieder Villamayor auf dem Randstreifen der N 120, als Anni sich mit ihrem Handy strahlend zu mir umdreht. "Ich hab's gewusst! Ich haaab's gewusst!" Mein fragender Blick lässt sie herausplatzen: "Nanni und Johan waren das ... mit 'Sira' ... und der Hundepfote ...!!" Jetzt dämmert es mir. Vor Logroño..., der mit Kieseln in den getrockneten Schlamm eingedrückte Schriftzug mit Siras Namen und ihrem Pfotenabdruck. Wir konnten uns das nicht erklären. Dann haben diese beiden Weltenbummler doch tatsächlich auf ihrem Weg von Pamplona zum Camino del Norte diese Erinnerung hinterlassen. Schöne Idee, ihr Beiden!

  Die letzten fünf Kilometer bis Belorado geht es stur auf einer breiten Piste neben der Schnellstraße her. Alle Pilger gehen inzwischen langsamer, viele leidender. Nur wir drei hauen nochmal alles raus. Wir überholen einen nach dem anderen und gegen 16 Uhr sind wir in unserer schönen kleinen Pension Waslala und werden herzlich aufgenommen. Ganz große Sahne: der Herr des Hauses reserviert für uns die nächsten drei Unterkünfte.

Abends stehe ich beim Kochen am Küchenfenster und sehe draußen auf dem Giebel der nahegelegenen Kirche vier Storchennester, zwei davon mit Jungen. Idylle drinnen und draußen.

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Mi

22

Mai

2013

Annika: Oh, what a night!

Von Najera nach Santo Domingo de la Calzada, 20 km

"Anni! ... Anni! ..." Es dauert eine Weile, bis mir klar wird, dass ich nicht mehr schlafe und ich die Stimme nicht nur im Traum höre. "Anni! ..." Der verschlafene, irgendwie schwächliche, aber doch panische Ton in Papas Stimme macht mir Angst, schon bevor ich überhaupt richtig wach bin. Ich schalte das Licht ein. Papa sitzt auf dem Bett und der Schweiß strömt seinen Körper hinunter und tropft von seiner Nase. "Papa, was ist los?" " Mir isses nicht gut..." Er schließt die Augen und kippt in Zeitlupe zur Seite. "Papa, was ist? Was hast du??" Er antwortet nicht mehr. Die Augen bleiben geschlossen und er kippt langsam weiter. "Papa!" rufe ich jetzt lauter und haue ihm leicht aufs Bein. Kurz gehen die Augen auf. "Ist dir schwindelig?" Keine Antwort. "Musst du kotzen?" Keine Antwort. "Papa, rede mit mir!" Wieder öffnet er kurz die Augen und setzt sich grader hin. "Ich glaub, ich werd ohnmächtig." Dann sind die Augen wieder zu und er beginnt, am ganzen Körper zu zittern wie Espenlaub. Ich fühle seine Körpertemperatur. Fühlt sich normal an. Aber er schwitzt wie in der Sauna und zittert. Im Kopf gehe ich die verschiedenen Möglichkeiten durch. Natürlich auch sämtliche Horrorszenarien. Mag hysterisch sein, aber in dem Moment kann ich das nicht verhindern.

Ok, konzentrier dich! Was kannst du tun? Was musst du tun?

Ich gehe ins Bad und tauche ein Handtuch ins kalte Wasser und gebe es ihm, damit sein Kreislauf wieder zurückkommt. Dann stelle ich seine Hausschuhe vor seine Füße und bitte ihn, seine nackten Füße vom kalten Boden zu nehmen, damit er nicht von unten rauf auskühlt. Er reagiert nur mit Nicken, also übernehme ich und platziere seine Füße. Kurz schießt mir durch den Kopf, dass ich die spanischen Notrufnummern gar nicht kenne. Und ich frage mich, wie ich denen mit meinem Nicht-Spanisch die Sachlage erklären sollte.


Inzwischen öffnet Papa wieder öfter die Augen. Nach circa zehn Minuten ist er ansprechbar. Den Gedanken mit dem Notruf brauch ich wohl vorerst nicht weiterzuspinnen. Laut eigener Aussage geht es wohl wieder und es war eine reine Kreislaufgeschichte. Ich stelle ihm trotzdem den Mülleimer als Kotztüte ans Bett und schlafe ohne Ohropax weiter. Es ist halb zwei.

Den Rest der Nacht schlafe ich nicht besonders gut. Ich bin in ständiger Alarmbereitschaft. Meinen Wecker drücke ich scheinbar weg, denn um sieben Uhr werde ich von allein wach. Mein Kopf fühlt sich an, als hätte ich gestern eine wilde Party gefeiert. Und der Rest auch!

Als erste Amtshandlung wecke ich Papa, um den Ist-Zustand zu klären. Wie geht's ihm und wie ist der weitere Tagesplan? Ruhetag? Arzt? Bus? Und wie der Herr Vater dann ja ist: "NIX! Wir gehen wie geplant weiter!" Wäre die ganze Sache umgekehrt gelaufen, hätte er mich gar nicht wählen lassen, sondern mich gleich zum Doc geschleppt. Naja, aber es ist eben, wie es ist, also gibt es zum Frühstück heute Schonkost (wenigstens das konnte ich durchsetzen), bestehend aus einer Tasse Tee, und dann ziehen wir los.

  Wir sind bloß eine halbe Stunde später als sonst, aber das merken wir gleich: Wir sehen anfangs keinen einzigen sonstigen Pilger. Ist mir auch gar nicht so unlieb. Da heute morgen alles irgendwie anders war als sonst, war ich auch noch gar nicht mit Sira draußen. Inzwischen ist sie in größter Not. Aber in der Stadt, einfach auf den Bürgersteig oder in irgendwelche Rabatten, das kann sie ja nicht! Kaum haben wir aber das letzte Haus des Ortes passiert, ist die Not so groß, dass sie sogar über eine 1,20 m hohe Mauer hüpft, um dahinter im hohen Gras ihr beachtliches Morgengeschäft zu verrichten. Jungejunge, das sind Düfte, und dann noch nach so einer durchzechten Nacht! Zu meinen ordentlichen Kopfschmerzen kommt so auch noch eine gehörige Portion Morgenübelkeit dazu. Na bravo!

Der Weg vor Azofra über die braunen, vor Felsen liegenden Ackerflächen kommt mir endlos vor. Und wenn man irgendwie unpässlich ist, kommt ja lustigerweise auch immer gleich alles dazu. Die Füße haben sich immer noch nicht an die blöden neuen Schuhe gewöhnt und Knie und Rücken mosern heute auch.

Als ich in Azofra die Pilgerbar sehe, fühle ich mich erleichtert und steuere darauf zu. Es ist nicht sooooo kalt und trocken, also können wir uns mit Sira gut auf den Außenbänken der Bar niederlassen. Gleich empfängt uns Ingrid, die heute früher losgelaufen ist und hier auf uns gewartet hat. Für sie ist Azofra auch unerwartetes Etappenziel: Ihr Knie macht ihr zu schaffen und sie hat sich für einen Ruhetag entschieden. Manche Leute können es also doch!

Aus der Bar ertönt wieder ein Lied von Il divo. Sagt mal, ist das Zufall oder irgendwie ein Camino-Soundtrack?

Als wir quasi aufbrechen wollen, kommen drei Deutsche, Vater, Sohn und Freund an. Der Freund fragt mich, ob es schwer sei mit Hund auf dem Camino, denn er habe seinen auf Anraten aller zu Hause gelassen. Ojeoje, damit tritt man ja ein Thema los, über das ich mich wochenlang auslassen könnte. Nach einer Weile reiße ich mich aber doch los, wir verabschieden uns von Ingrid und hoffen auf ein baldiges Wiedersehen.

Auf dem Weg nach Ciriñuela hält mich mein missgünstiger Körper weiterhin in der Null-Bock-Stimmung. Der einzige Lichtblick sind die Kilometerschilder, an denen wir vorbeilaufen. Angefangen hat es mit "Santiago de Compostela: 586 km". Von da an sehen wir sie den Rest des Tages immer wieder, in Abständen von je einem oder zwei Kilometern. Und so fängt man an schweren Tagen an, sich den Weg in kleine Stücke aufzuteilen. Erst zählt man jeden einzelnen Schritt, dann jede Kurve, dann jeden Hügel, bis man sich von Schild zu Schild durchschlägt und damit von Dorf zu Dorf.

  Da wir inzwischen auch schon wieder fünf/sechs Kilometer geschafft haben, pausieren wir an einem Picknickplatz mit ziemlich stylischen, aber unbequemen und kalten Steinliegen und dem aussagekräftigen Schild: "Don't shit". Die Angst vor einer tüchtigen Blasenentzündung treibt uns wieder hoch, nur um zwei Kilometer später wieder zu pausieren. Wir gönnen uns gerade ein Eis, als ein leinenloser Schäferhund interessiert in unsere Richtung stürmt. Boa, die Viecher können noch so freundlich sein, wenn so einer auf mich zurennt, bin ich wie erstarrt und Sira flippt völlig aus. So auch bei diesem Exemplar. Andere Gäste und die Wirtsleute versuchen erfolgreich das Ungetüm einzufangen und wegzuschaffen. Sira und ich atmen auf und begeben uns an die letzte Teilstrecke nach Santo Domingo de la Calzada.

Verzweifelt suchen wir die Toutisteninformation. Danach besuchen wir die furchtbar kommerzielle Kathedrale, auf deren Glockenturm sich ebenfalls Störche in ihren Nestern räkeln. In der Kirche das gleiche unsprirituelle Getue, was ich in anderen Ausstellungskirchen schon nicht mochte. Der Geist ist eben irgendwie dahin. Und der berühmte Gockel, der in der Kirche von Santo Domingo verweilt, zeigt mir auch nur seinen Hintern. Vielleicht fragt sich der eine oder andere jetzt: "Wie, Gockel in der Kirche?" Hierzu ein Auszug aus unserem Reiseführer: "Santo Domingo de La Calzada ist für folgende Legende berühmt: Ein Ehepaar war mit seinem Sohn auf Pilgerfahrt nach Santiago und übernachtete in einem Wirtshaus in Santo Domingo. Die Wirtstochter verliebte sich in den Sohn, aber der wollte nichts von ihr wissen und zog am nächsten Tag mit seinen Eltern weiter. Das beleidigte Mädchen hatte aber einen silbernen Becher in das Gepäck des Jungen gesteckt und zeigte ihn des Diebstahls an. Der Becher wurde entdeckt und der Junge zum Tode durch Erhängen verurteilt. Als die Eltern nach Vollstreckung der Todesstrafe noch einmal zu dem Baum gingen, an dem ihr Sohn hing, stellten sie überrascht fest, dass der Junge lebend am Galgen hing, denn Santo Domingo stützte ihn an den Beinen. Das Ehepaar begab sich also zum Richter, um ihm von dem Wunder zu berichten, das ja die Unschuld ihres Sohnes bewies. Der Richter saß gerade am Mittagstisch und sagte, dass der Junge so lebendig sei wie die zwei Hühnchen, die er gerade verspeisen wollte. Daraufhin flogen die beiden Tiere davon. Seitdem werden in der Kathedrale von Santo Domingo in einem Käfig ein weißer Hahn und weiße Hennen gehalten, die wöchentlich ausgewechselt werden. Dies ist die bekannteste Legende des Jakobsweges und in vielen Ländern findet man in Kirchen Darstellungen dazu." (Outdoor-Reiseführer Spanien: Camino Francés, Raimund Joos & Michael Kasper, S. 108).

Zu der Geschichte vom Hühnerwunder gibt es sogar eine Darstellung bei uns in der Gemeinde, in der katholischen Kirche in Herchen.

Zu guter Letzt erreichen wir am Ende auch unsere Unterkunft, die von außen fast schäbig und vergammelt aussieht, von innen aber überraschend frisch renoviert und mit tollen alten Möbeln eingerichtet ist. Unser Zimmer sieht auch aus wie frisch renoviert und außerdem riecht es überall nach teuren Pflegeprodukten. Die zugehörigen Pröbchen stehen im Bad bereit. So macht das Duschen Spaß! Und es entschädigt für die vergangenen harten sechzehn Stunden!

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Di

21

Mai

2013

Reinhard: Ein Gedicht

Von Navarrete nach Najera,19 km

Als wir aufstehen, ist der Himmel blau, als wir von Navarette losgehen, zieht er sich wieder zu, und nach der ersten Rast setzt leichter Regen ein. Soweit die kurze Tageszusammenfassung. Aber etwas mehr ist schon passiert.

Für Veronika steht um 8.30 Uhr das Taxi vor der Hostal-Tür. Sie tritt wieder die Heimreise an. Und die gestaltet sich etwas kompliziert. Da es tatsächlich von Navarette nach Burgos keine Bus- oder Zugverbindung gibt, bleibt nur das Taxi. Von Burgos aus geht ein Bus nach Madrid zum Flugplatz, von da ein Flieger endlich Richtung Heimat. Ganz schön umständlich!

Als das Taxi die Gasse hinunter verschwindet, setzen auch wir uns in Bewegung. Am Ortsausgang treffen wir auf "die Belgierin" Ingrid, der wir in den letzten Tagen fast täglich begegnet sind und die eine große Verehrerin von Sira ist. Sie ist in Begleitung von einem Amerikaner, John, in meinem Alter, mit dem sie schon seit Pamplona zusammen läuft. Weil es sich sehr angenehm und unterhaltsam mit ihnen reden lässt, bleiben wir wie selbstverständlich aneinander hängen und den ganzen Tag über zusammen. Während Anni naturgemäß intensiver mit der wohl etwa gleichaltrigen Brüsselerin redet, sind John aus Detroit und ich aus der Siegmetropole Helpenstell, ebenfalls gleichaltrig, hauptsächlich mit uns beschäftigt. Wir alle sprechen über Gott und die Welt und merken dabei kaum, wie die Zeit und die Kilometer vergehen.

In einer Bar in Ventosa legen wir nach knapp zwei Stunden eine Rast ein. Noch vor einiger Zeit hätte ich nicht gedacht, dass es mir gegen Ende des Monats Mai in Spanien nach einem Heißgetränk gelüsten würde. Auf den Gipfeln mancher Berge in der Umgebung liegt wieder Schnee !Trotz Fleecejacke und Anorak und strammem Pilgerschritt fröstel ich. Vielleicht liegt es aber auch an meiner störenden Formkrise, hervorgerufen durch eine leichte Magenunpässlichkeit. Drinnen in der Bar haben sich wieder viele Pilger eingefunden, davon einige bekannte Gesichter. Der ein oder andere sieht schon jetzt ganz schön fertig aus. Das kann ja wohl nicht sein, Freunde, der Tag hat doch gerade erst angefangen! Mit dem treuesten Augenaufschlag, der mir im Moment zur Verfügung steht, kann ich die Wirtin dazu bringen, dass Sira mit rein darf. Diese weiß das auch zu schätzen und strebt mit ihrem Frauchen der äußersten Ecke zu, mit dem besten Vorsatz, sich vorbildlich zu benehmen. Das gelingt ihr auch - bis zu dem Moment, wo draußen ein anderer Hund bellt. Das kann Sira so natürlich nicht unwidersprochen stehenlassen. Sie bellt auch. Anni fürchtet um ihren warmen Platz in der Bar und hält Sira kurzerhand das Maul zu und unsere Hundedame verstummt augenblicklich. Das sieht so urkomisch aus, dass nicht nur ich lachen muss, sondern auch andere Gäste.

Nach etwa einer halben Stunde gehen wir als Vierergespann mit Hund weiter. Wir sind nun wetterfest gekleidet, hoffen aber, dass es mit dem Regen nicht so schlimm wird. Wir hoffen nicht vergebens und ich brauche noch nicht mal meinen Schirm aufzuspannen. So vergeht auch der zweite Teil des Tages durch die Weinfelder der Rioja mit dem Dreiklang von Gehen, Reden und Schauen und wir erreichen unser Tagesziel Najera eher als erwartet.

Kurz vor den ersten Häusern der Stadt wird der Jakobsweg von einer hohen Mauer zu einer Fabrik hin begrenzt. Auf die glatte Wand dieser Mauer hat jemand ein Gedicht über diesen Weg geschrieben. Es wurde ursprünglich verfasst von Garibay Daños, einem Priester, der in Najera lebte und dort die Pilger tatkräftig unterstützte. Neben dem spanischen Originaltext steht die deutsche Übersetzung, die ich diesem Tagesbericht mal hinzufügen möchte.

 

Staub, Schlamm, Sonne und Regen,

das ist der Weg nach Santiago.

Tausende von Pilgern

und mehr als tausend Jahre.

 

Wer ruft dich, Pilger?

Welch geheime Macht lockt dich an?

Weder ist es der Sternenhimmel

noch sind es die großen Kathedralen,

 

weder die Tapferkeit Navarras

noch der Rioja-Wein,

nicht die Meeresfrüchte Galiziens

und auch nicht die Felder Kastiliens.

 

Pilger, wer ruft dich?

Welch geheime Macht lockt dich an?

Weder sind es die Leute unterwegs

noch sind es die alten Traditionen,

 

weder Kultur und Geschichte

noch der Hahn Santo Domingos,

nicht der Palast von Gaudi

und auch nicht das Schloss Ponferradas.

 

All dies sehe ich im Vorbeigehen

und dies zu sehen ist ein Genuss.

Doch die Stimme, die mich ruft,

fühle ich viel tiefer in mir.

 

Die Kraft, die mich vorantreibt,

die Macht, die mich anlockt,

auch ich kann sie mir nicht erklären.

Dies kann allein nur Er dort oben!

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Mo

20

Mai

2013

Annika: Autobahn in Sicht!

Von Viana nach Navarrete, 22 km

  Schweren Herzens verlassen wir unser Pilger-Traumappartement am Morgen. Papa ist nicht ganz auf der Höhe. Zitat: "Aua Bauch!" Hm. Das  finde ich aber nicht gut. Wird das heute "How to shit in the woods - Part 2"? Ich wünsche Papa, dass er verschont bleibt. Meine Gebete werden erhört. Der Durchfall bleibt ihm erspart und das komische Grummeln im Bauch wird scheinbar auch weniger, komisch, denn an Schonkost denkt Papa nicht im Traum. Morgens lecker Brot mit Butter und Camembert, in der Pause lecker Kaffee und Baguette mit Rührei, abends Baguette mit lecker Salami. Sooooo schlimm kann es also nicht sein.

  Veronika verabschiedet sich unweit "unserer" Haustür von uns. Da die heutige Etappe nicht kurz ist, entscheidet  sie aus Rücksicht auf ihren Fuß die erste Hälfte, bis Logroño, mit dem Bus zu fahren.

Papa, Sira und ich reihen uns wie jeden Morgen in den Pilgerstrom ein. Ich glaube, es ist egal, wann man losgeht, irgendwer ist immer kurz vor oder nach uns.

Das erste Teilstück überrascht mich fast. Wir verlassen Viana durch ein Gewirr aus schmuddeligen, vermüllten Hinterhöfen. Ich hatte nicht erwartet, dass so ein nettes Örtchen so viele und so vernachlässigte Gartengrundstücke hat, und das kurz nach der brandneu angelegten Neubausiedlung mit Golferrasen, in der sich unsere Unterkunft befand.

Den weiteren Weg nach Logroño würde ich auch nicht unbedingt als eines der Sahneschnittchen des Jakobsweges bezeichnen. Wir halten uns quasi durchgehend in der Nähe der Autobahn oder Schnellstraßen auf, gehen daran entlang, darunter her oder darüber. Das Dröhnen der vorbeirauschenden Autos begleitet uns stets.

  Plötzlich entdecken wir etwas gleichzeitig Schönes und Überraschendes wie auch Mysteriöses und Beängstigendes. Am Wegesrand haben Pilger Steine zu Buchstaben gelegt. Erst können wir das Ganze nicht entziffern. Als wir weitergehen wollen, schaue ich genauer hin. Da liegt ein "S". Gleich darauf folgt ein "I". Jetzt werde ich doch langsam neugierig. Der nächste Buchstabe ist ein "R" und als Letztes folgt ein "A". "Papa, guck mal, hier hat einer "Sira" geschrieben." Als ich dann noch interessierter hinsehe, finde ich neben dem Wort eine aus Steinen gelegte Pfote. Kann das ein Zufall sein? Gibt es hier mehrere Siras unterwegs? Ist das auch ein Name für Menschen? Ich dachte, ich hätte mir diesen Namen selbst ausgedacht... Aber wenn es hier um einen Menschen geht, was soll dann der Pfotenabdruck daneben? Und wenn der Gruß wirklich für uns bestimmt war, wer hat ihn uns dann hinterlassen? Alle, die in  Sira vernarrt sind, müssten eigentlich irgendwo hinter uns laufen. Es ist schon wirklich merkwürdig...

Sira findet das wohl auch. Sie wird vom Übermut gepackt, springt an mir hoch, beißt mich, schleudert Stöcke durch die Gegend... Naja, überlastet ist sie mit unseren täglichen Wandertouren also nicht!

Bei der letzten Häuseransammlung vor Logroño wird mir schon im Voraus ganz anders; drei Hunde an der Kette, die sich schon ganz aufgeregt und wild bellend im Kreis drehen. Außerdem stehen hier mehrere Gruppen von Pilgern, die sich hier bei Maria Felisa einen Stempel und Getränke besorgen wollen, so wie man es auch schon früher bei ihrer verstorbenen Mutter tun konnte.

Sira passiert die Menschen- und Hundemeute, ohne die Beller eines Blickes zu würdigen. Die anderen Pilger sind überrascht und tief beeindruckt. Ich auch. Anmerken lasse ich mir das natürlich nicht!

  Auch die nächste Hürde mit einem Labrador an der Kette rechts, einem Husky an der Kette links, einem Yorkshire Terrier an der Kette quasi unmittelbar rechts, mehr oder weniger auf der Straße, der nächste Yorki frei laufend und distanzlos, dann gleich wieder links ein Schäferhund hinterm Zaun, ein weiterer im Auto und sehr aggressiv im Verhalten und noch ein Pointer im Zwinger rechts. All diese Hunde wild bellend und sich in ihre Ketten oder Zwingerwände werfend. Das ganze Spiel findet auf einem Straßenstück von ca. 50 m statt.

Sira passiert das Theater todesmutig und mit hoch erhobenem Haupt. Yes! Ich bin stolz auf dich, Maus!

Am Ortseingang von Logroño sehen wir einen Storch, der sein Nest auf einen Hochpfeiler gebaut hat. Er/sie versorgt das Jungtier, das bereits eine beachtliche Größe vorzuweisen hat. Das sind nicht die ersten Störche, die wir heute sehen, und auch nicht die letzten. Oha, wenn das mal kein Omen ist...

Wir laufen zur Santiago-Kirche, an der sich über dem Hauptportal die berühmte und beachtliche Steinstatue von Jakobus als dem Maurentöter befindet. Ich mache es mir davor mit Sira gemütlich und warte auf Veronika, während Papa die Kirche besichtigt. Mein Blick fällt auf zwei Plastiktüten und ein paar Blätter, die scheinbar in einem Luftstrudel gefangen sind. Immer weiter fliegen sie vor der Kirchentür im Kreis und werden dabei mal höher und mal tiefer geschleudert. Das ist schon irgendwie schön. Und ein bisschen unwirklich.

Als wir bald darauf wieder alle vereint sind, suchen wir uns ein Café. Sira darf sogar mit hinein, wenn sie ganz lieb und ruhig in der allervordersten Ecke liegt. Das kriegt sie natürlich meisterhaft hin. Was tut man nicht alles für ein warmes trockenes Plätzchen beim Rudel?!?

  Nachdem wir zu einem Spottpreis gegessen und getrunken haben, packen wir die zweite Hälfte des Tages an. Als die lauten und getriebigen Vororte Logroños endlich hinter uns liegen, erreichen wir bald den riesigen Stausee Pantano de la Grajera, an dem eine Menge Angler ihrem Hobby nachgehen, um hoffentlich einen der 50 cm-Oschis, die wir von einer Brücke aus sehen konnten, aus dem Wasser zu fischen. An einer Bank mit herrlicher Aussicht rasten wir ein weiteres Mal. In dem hohen Schilfgras des  Sees  tummeln sich einige große schwarzweiße Vögel. Sind das jetzt auch alles Störche? Aber die leben doch nicht am Wasser, oder? Wahrscheinlich sind es einfach nur Reiher. Wissen tun wird das nicht... Aber was soll's?

Zum Abschluss des Tages dürfen wir noch eine Weile unter, über und an den Autobahnen und Hauptstraßen entlanglaufen.

Bald sehen wir Navarrete vor uns, unser Ziel des heutigen Tages. Abends gibt es lecker Baguette mit Käse, Tomate und Gurke, am letzten Abend mit Veronika. Hach, du wirst uns fehlen!

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So

19

Mai

2013

Annika: Die Seele des Pilgerns

Von Los Arcos nach Viana, 20 km

"Sch*e, so ein Mist! Dreck, verdammter! Kacke da!"

Es ist abends, fast elf Uhr. Papa kommt in mein Zimmer, nachdem er drei Stunden lang an seinem Blogartikel geschrieben hat. "Ich war fast fertig und ich glaub, jetzt hab ich alles gelöscht! Hol das wieder! Mach, dass das wieder da ist." Vor einiger Zeit standen wir schonmal vor der selben Situation und ich konnte das Dokument retten. Dieses Mal klappt das nicht. Die Arbeit der letzten drei Stunden war umsonst. Und ihr bekommt nichts zu lesen. Papa schlurft enttäuscht in sein Zimmer. Seine Nacht ist quasi gelaufen.

  Siras Nacht genauso. Vor unserem Zimmerfenster ist Katzenkonzert. Es klingt nach Läufigkeit, Testosteron und Schlägerei. Zwischendrin schreit ein junges Kätzchen. Noch am Nachmittag habe ich seine Mutter dabei beobachtet, wie sie das Junge am Genick gepackt hat und oben auf einem 5 cm breiten Gatter entlang balanciert hat. Dann ist sie über den Zaun gehüpft, mit Jungtier im Maul, und hat sich zu der Ansammlung von Katzen gesellt, die dort rumstreunerten. Auf den ersten Blick hab ich sieben gezählt. Ist bestimmt ne Katzen-Hippie-Kommune. Man kann sich vorstellen, dass da auch oder vor allem nachts keine Ruhe einkehrt. Außerdem stinkt es sowohl in den Pflanzkübeln im Hotel, als auch im Kellerzugang des Hotels  als auch in jeder Straße und jedem Pflanzkübel der Stadt Los Arcos nach Katzenpipi. Na, dann kann sich hier ja über Hunde keiner beschweren.

Zu dem Katzenjammer vorm Fenster gesellt sich immer mal wieder Hundegebell. Der Arme verbringt seine Nacht wohl im Zimmer und beschwert sich, wenn eine der provokativen Samtpfoten vor seinem Reich den Catwalk macht.

Sira meistert das Vierbeinerkonzert mal wieder grandios. Sie bellt nicht ein einziges Mal. Trotzdem steht sie immer wieder entrüstet auf und marschiert zum Fenster, wenn die Gesänge losgehen. Zum Glück habe ich in weiser Voraussicht die Rollläden (ja, schon wieder Rollläden! Die Zeit der hässlichen französischen Blechklappläden ist wohl endgültig vorbei...) herunter gelassen. Wenn sie die Katzen auch noch sehen könnte, wäre das Gebell groß. So ist sie wie immer lieb und ruhig, schläft aber in der Nacht nicht besonders viel. Vielleicht hätte ich ihr welche von meinen Oropax anbieten sollen...

Am Morgen ist Papa immer noch nah am Rande des Nervenzusammenbruchs. Mein Gott, es ist doch nur ein Schriftstück! Es waren doch nur drei Stunden! Klar ist das ärgerlich, aber muss uns das den Rest des Tages versauen?!?

Die nächste Katastrophe lässt nicht lange auf sich warten: Der Schirm ist weg! Papas heiß geliebter, riesiger und weit gewanderter Regenschirm ist weg!!! Er hat ihn gestern mit zum Kuhrennen genommen und dort bei einem Café abgestellt und vergessen. Veronika erkennt den Super-GAU sofort und eilt in die Stadt, um zu sehen, ob das gute Stück noch irgendwo bei dem Café ist. Erfolgreich kehrt sie mit Papas Baby zurück. Sie ist die Heldin des Tages. Trotzdem ist Papa immer noch knatschig. Ich werde energisch und sage ihm, er solle sich jetzt über seinen Schirm freuen und den blöden Blogartikel vergessen. "Weine nicht um Dinge, die selbst nicht weinen können!", sagt Mama immer. "Und wenn du jetzt nicht lieb bist, lassen wir dich hier und holen dich auf dem Rückweg wieder ab!" So lange will er dann wohl auch wieder nicht warten. Von jetzt an bessert sich seine Laune.

Zeitgleich mit uns verlässt Claudia das Hotel. Sie hat heute noch ein paar Kilometer mehr vor sich als wir, deswegen verabschieden wir uns bald und gehen unserer Wege. Veronika trennt sich auch bald von uns. Ihr Knöchel bereitet wieder starke Probleme. Sie hat sich für einen Ruhetag entschieden und fährt mit dem Bus nach Viana zu unserer Unterkunft.

  Als wir durch den Ortskern laufen, sieht man noch deutlich die Spuren des gestrigen Spektakels. Vereinzelte Kuhfladenspritzer auf den Straßen. Absperrgatter, die gerade abgebaut werden. Barbesitzer, die die letzten Spuren der großen Aftershow-Party zusammenkehren Und nicht zu vergessen die Alkoholleichen, die mit roten Augen kurz einnicken oder noch wild grölend mit reichlich Restalkohol über den Kirchplatz tanzen und sich von Pilgern fotografieren lassen in ihrer rotweißen Torrerokleidung von gestern Abend.

Bald haben wir den Ortsausgang erreicht und laufen zwischen hüfthohen Haferfeldern Richtung Sansol, das wir bereits in sieben Kilometern vor uns sehen können. Hach ja, es geht doch nichts über Fernsicht! Wenn Mann jetzt schon sieht, wo wir in eineinhalb Stunden sein werden.

Das Wetter ist ausbaufähig. Die Sonne scheint und ein paar Wölkchen ziehen vorüber. Aber der Wind hat es in sich. Gänsehaut überzieht immer wieder meinen Körper, trotz dicker Fleecejacke. Scheinbar geht es den Pilgermassen vor und hinter uns ähnlich. Der eine oder andere streift sich seine Kapuze über.

Nach Sansol geht es bergab und wieder bergauf und schon sind wir in Torres del Rio. Im Abstand von jeweils 50 m befinden sich hier gleich drei Bars, in denen die Pilger einkehren. Wir laufen auch an der dritten vorbei, aus deren Innenhof laute und sehr schöne Musik dringt. Der gut gelaunte, aber scheinbar schwer unterbeschäftigte Wirt winkt uns zu und schnalzt Sira zu. Er hätte uns gern als seine Gäste, glaube ich. Weil wir so nett aussehen? Oder weil Sira so süß ist? Oder weil seine als die letzte der drei Bars viel weniger Zulauf hat als die anderen und er zwingend zahlende Kundschaft braucht? Der Grund ist egal, wir wollen heute kein Geld für's Einkehren ausgeben! Wir winken freundlich zurück und lassen uns auf einer naheliegenden Bank nieder, bei Doppelkeks und Erdnüssen.

Pilger aus aller Welt ziehen an uns vorbei. Amerikaner, Australier, Franzosen, Spanier, Italiener, Deutsche, zu Fuß oder auf dem Rad, mit leichtem Tagesrucksack oder schweren Gepäck, mit ultraleichten Hightech-Walkingsticks oder traditionellem Pilgerstab, leidend oder glücklich, manchmal auch beides gleichzeitig. Einige sieht man zum ersten Mal, andere kennt man inzwischen vom Sehen, mit wieder anderen hat man schon, mal mehr, mal weniger gesprochen, andere quatschen uns jetzt zum ersten Mal an. Die Gespräche verlaufen meist ähnlich: Von wo, nach wo, insgesamt oder nur die Tagesetappe, wo lebt man, wie fährt der Wheely, wie klappt das mit dem Hund, wer hat wo Schmerzen, gute Ratschläge, Buen Camino und bis bald. Oder auch nicht. Jeder hat auch für Sira ein Tätscheln, ein Zungenschnalzen oder zumindest ein Lächeln übrig.

Die meisten, die uns unsere Geschichte aus der Nase ziehen, bewundern uns und sind begeistert. Das ist ehrlich gesagt schon ein gutes Gefühl...

Als sich unsere Pause dem Ende nähert, vermisse ich mal wieder ganz entschieden etwas, was ich in Frankreich lieben gelernt habe: Public Toilets! In Frankreich konnte man sich darauf verlassen, dass man nur zur nächsten Kirche gehen muss. Irgendwo dort in der Nähe befindet sich mit Sicherheit eine - meist überraschend saubere - öffentliche Toilette und ein Trinkwasserhahn. Außerdem in der Regel überdachte Sitzgelegenheiten. Hier ist das anders. Es gibt kaum noch Plätze, an denen man sich selbst behelfen kann. Es gibt keine Honor Boxen mehr. Hier wird man in die Bar gelotst, in der man meist mehr Geld lässt als man eigentlich wollte. Die Urigkeit und eingeschworene Gemeinschaft der Pilger ist hier irgendwie nicht mehr so intensiv, da die Frequenz der Begegnungen einfach viel höher ist. Hier liegt in den Herbergen und kleinen Kirchen kein Gästebuch mehr aus, in dem man sich persönlich bedankt oder Landsmänner grüßt. Hier ist alles etwas anders. Aber deshalb keinesfalls weniger schön. Ebenso wie die Frequenz der Begegnungen erhöht ist, so ist auch die Energie hier viel stärker. Zweimal war ich auf dem Camino Frances schon so ergriffen, dass mir fast die Tränen gekommen wären. Das ist mir auf den 2000 km davor nicht passiert. Und so hat eben alles sein Für und Wider.

Nach Torres el Rio laufen wir weiter durch die weit geschwungenen Felder, umrandet von Bergen. Die Sonne kämpft inzwischen erfolgreicher gegen den Wind. Ich entledigen mich auf patentierwürdige Art und Weise meiner Jacke, ohne den Rucksack auszuziehen. Ich mustere meine Kleidung. Toll! Inzwischen ist nicht nur das ursprünglich strahlende Gelb meiner Fleecejacke zu einem schmutzigen Ocker geworden. Nein, auch mein zartrosafarbenes Top ist inzwischen schmuddelgrau verfärbt. Wunderschön!

Unsere nächste Pause versüßt uns Veronika mit einer SMS: "Paradies gefunden, riesig, Sira kann sich austoben, alles für uns allein, jeder kann sich ein Zimmer aussuchen, sogar Sira."

  Damit laufen sich die letzten Kilometer bis Viana wie von selbst. Und wir staunen nicht schlecht. Veronika hat nicht zuviel versprochen. Die Appartementwohnung ist riesig. Es gibt vier schöne Schlafzimmer mit jeweils zwei Betten, zwei Bäder (eins sogar mit Wanne und Badeschaum!) und eine Küche, die mit allem ausgestattet ist, was man sich wünschen kann, inklusive Waschmaschine und Frühstück. Der Hausherr hat Veronika nur schnell hereingelassen und alles gezeigt, dann hat er sich zurückgezogen. Er hat uns diese ganze Superbude einfach vertrauensvoll überlassen. Im Schrank stehen Kaffee, Tee und Kakao sowie Nudeln und Kekse zur Verfügung. Den ganzen Spaß gibt es für zwanzig Euro pro Person, egal, ob man allein hier residiert oder zu acht. So langsam kommt uns das Spanisch vor: Wo ist der Haken?

Als wir die Bedienungsanleitung der Waschmaschine in einer Schublade suchen, finden wir darauf eine Antwort: Es gibt keinen! Zwischen diversen Gebrauchsanweisungen liegt eine Compostela. Ohne es zu ahnen haben wir eine Unterkunft bei einem ehemaligen Pilger gebucht!

Ich lege die bereitgestellte Bruce Springsteen-CD in den vorhandenen Player und lasse mir Badewasser ein. Sira scharrt an der Tür und scheucht mich nach einer Stunde aus der Wanne, als meine Haut schon schrumpelt. Ich steige in meine duftende, frisch gewaschene Wäsche und schmeiße Siras Hundespielzeug durch den Flur.

Und da erzähle ich vorher noch, dass die Seele des Pilgerns hier nicht so sehr vorhanden ist wie in Frankreich!

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Sa

18

Mai

2013

Reinhard: Stierlauf in Los Arcos!

Von Irache nach Los Arcos, 22 km

Ein schönes Hotelzimmer macht noch lange kein schönes Wetter. - Diese Erfahrung müssen wir machen, als wir morgens aus dem Fenster schauen. Der Himmel ist tiefgrau und beständiger Regen pladdert auf die Terrasse. Es wäre doch mal was gewesen, sich hier draußen, unter den ersten wärmenden Sonnenstrahlen, das Frühstück zu richten. Stattdessen Einheitsgrau und Nässe. Aber wir haben ja etwas, worauf wir uns freuen können: Wein! Kostenlosen Wein!

Gestern, am frühen Abend, hätten wir ihn eigentlich schon trinken können. Da wollten wir aber nur noch Sturzregen und Gewitter entfliehen und ankommen, deshalb hatten wir die Abkürzung über die Landstraße genommen. Aber jetzt ist er fällig! Unter Poncho und Regenschirm tapern wir durch die Nässe und freuen uns auf leckere Tropfen.

Nach einem Kilometer geistiger Vorbereitung, stehen wir vor dem Weinbrunnen von Irache. Genau! Richtig gelesen! Hier fließt der Wein aus einem Brunnen und erfreut des Pilgers Herz und Gaumen. Die benachbarte Weinkellerei "Bodegas Irache" hat ihn angelegt, um uns damit zu erfrischen, mit Sicherheit aber auch als kleinen Werbegag. Seitdem hier also Rotwein und Wasser zum Abzapfen zur Verfügung steht, stellen sich die Pilger brav in die Reihe und warten, bis sie endlich DRAN sind. Die wenigsten lassen es damit genug sein, den geöffneten Mund zum Trinken in Position zu bringen. Der größte Teil zapft sich im eigenen Trinkbecher zwei bis drei Schlucke ab, einige Gierhälse gleich die ganze Flasche als Tagesration. Eigentlich bei dem Wetter keine schlechte Idee! Mit unserem Kocher könnten wir ihn bei einer Rast erhitzen und hätten unseren Glühwein. Wir belassen es aber bei einer kleinen Ration für jeden, fotografieren nochmal eine der besonderen Kultstätten des Camino Francés, die selbst das benachbarte Kloster Irache, eines der ältesten Klöster Navarras, in der Gunst der vorbeiziehenden Pilger überholt hat, und ziehen weiter.

Claudia, eine Mittvierzigerin aus Eisenach, schließt sich uns an. In der Warteschlange vor dem Weinbrunnen sind wir ins Gespräch gekommen, obwohl wir uns auch vorher schon mal ab und zu über den Weg gelaufen sind. So ist das auf dem Jakobsweg: Man merkt, dass man sich nett unterhalten kann, fragt, ob etwas dagegen spräche, ein Stück gemeinsam zu gehen, und tut es dann eben - oder eben nicht. Mit Claudia lässt es sich gut reden und gut wandern, so ziehen die Kilometer schnell an uns vorbei. Der Regen hört sogar auf und die von uns eingeschlagene Wegalternative über Louqui hat zwar, als Folge der gestrigen Sturzfluten, mit einigen schlammigen Untergründen zu kämpfen, bietet aber schöne Ausblicke in die Täler.

In Louqui, dem einzigen Dorf zwischen Irache und unserem heutigen Ziel Los Arcos, gibt es netterweise eine kleine Bar. Pausen auf Picknickbänken, auf Wiesen oder auch einfach am Wegesrand haben ihre Romantik, Pausen in einer Bar haben ihren Eistee oder ihren heißen Kakao. Bei dem feucht-kalten Wetter heute steht uns der Sinn nach Kakao. Ein Besuch einer spanischen Bar bedeutet aber: Der Hund muss draußen bleiben! Hätten wir jetzt schönes Wetter, könnten wir im Garten sitzen. Die Wirtin hätte nichts dagegen. Sira mit reinnehmen geht aber nicht, aus Rücksicht auf die anderen Gäste. Sorry! Anni macht den Versuch, bindet Sira an einen Baum an und verschwindet mit uns anderen in die Bar. Und siehe da: Durch ein Fenster beobachten wir, wie Sira sich in die Wiese legt und zufrieden vor sich hinblickt. Damit ist Anni dann auch zufrieden und trinkt in Ruhe ihren Kakao. Diese Ruhe umgibt mich so ganz noch nicht. Wir haben für heute abend noch kein Quartier festgemacht. Wenn wir ohne Hund wären, würde ich es ja drauf ankommen lassen. In irgendeiner Herberge würde sich schon ein Bett finden. Aber die Unterkünfte, wo Sira die Nacht über mit bei uns sein darf, sind äußerst rar gesät. Man muss sich also früh genug "kümmern", um letztendlich auch die letzten Kilometer eines Tages entspannt wandern zu können. Also kümmere ich mich. Ich gehe an die Theke zur freundlichen Wirtin und bitte sie um Hilfe. In meinem "Miam Miam Do Do" zeige ich ihr zwei Telefonnummern, die für uns wohlmöglich interessant sind und sie greift bereitwillig zum Hörer. Ich meine herauszuhören, dass sie uns dabei als sehr sympathische Menschen und Sira als liebes Tier schildert und eine Minute später ist unser Hostal-Zimmer gebucht. Aus Dankbarkeit schleudere ich der Wirtin meinen liebenswürdigsten Augenaufschlag zu und bestelle noch einen zweiten Kakao.

An dieser Stelle muss ich jetzt mal ein Loblied auf unseren Miam Miam Do Do singen. Nichts gegen unseren Wanderführer, in ihm finden wir zu jedem Ort, den wir durchqueren, einige Übernachtungsadressen. Da aber hier entlang des Jakobsweges neue Quartiere wie Pilze aus dem Boden schießen, können die gängigen Wanderführer gar nicht aktuell sein, erscheinen die neuen Auflagen ja nicht jährlich neu. Aber genau das macht unser Miam Miam Do Do. Er ist also immer auf dem neuesten Stand und kann eine umfassendere Quartierauswahl anbieten. Nicht nur das: Zusätzlich informiert er über Einkaufsmöglichkeiten, Bars, Restaurants, medizinische Versorgung, Campingplätze, Bus- und Taxidienste. Sogar ausreichendes Kartenmaterial mit Kilometerangaben ist dabei - also irgendwie ein Rundum-Sorglos-Paket. Die Investition lohnt sich auf jeden Fall und ist hiermit jedem zukünftigen Pilger wärmstens ans Herz gelegt. Wer seinen Informationsstand noch auf die Spitze treiben will, schafft sich noch zusätzlich von den Jakobsfreunden Paderborn den "Schmidtke" an, eine hauseigene Publikation, die sogar mehrmals im Jahr neu aufgelegt wird und viele Herbergen noch kommentiert. So, das war mein Werbeblock!

Mit einem guten Gefühl, was unseren gesicherten und geruhsamen Nachtschlaf anbetrifft, und der Erkenntnis, dass wir Sira, wenn nötig, ruhig einmal draußen vor einer Bar an einem Baum festmachen können, verlassen wir die Bar in Louqui und gehen weiter. Weite, wogende Getreidefelder begleiten uns, dazu Mohnblumen, wie ich sie in dieser Menge noch nie gesehen habe. Überhaupt die Blumen hier am Wegesrand zu dieser Jahreszeit - ein Traum! Wenn es mit meinen Flora-Kenntnissen etwas besser stände, könnte ich jetzt mächtig vom Leder ziehen. Dazu kommen die Weinfelder und teilweise schon gemähten Wiesen, wo es nach Heu duftet ... schön hier!

Der Weg bis Los Arcos ist eine "Pilgerrennbahn": breit, über lange Strecken meist geradeaus und Wheely-freundlich befestigt. Nur Rastmöglichkeitem bieten sich nicht mehr so recht an. Also machen wir es uns, als die Füße mal wieder eine Pause verlangen, am Rand der Piste auf dem Boden gemütlich. Erneut ziehen Pilger aller Nationalitäten vorbei, lächeln, grüßen, sprechen uns an. Als einige sogar wieder ihre Kameras zücken, rücke ich zaghaft meinen offenen Pilgerhut in Position, warte aber vergeblich auf ein Almosen.

Auf dem Weg durch die Calle Major in Los Arcos fallen uns frisch installierte Bretterwände vor den Haustüren und tiefliegenden Fenstern auf. Seitengassen sind durch schwere Holztore abgeriegelt. Was geht hier ab? In Abständen kleben kleine Zettel an den Hauswänden: "Vorsicht! Gefährliche Tiere auf der Straße!" Streunende Killerhunde? Tollwütige Füchse? Irgendwann hören wir von anderen Pilgern, die schon etwas länger im Ort sind , dass heute abend hier ein "Stierlauf" stattfinden wird, Marke Pamplona, aber wohl im bescheideneren Umfang. Uns soll es doch recht sein! Als wir am Hauptplatz neben der großen Kirche ankommen, sind die großen Arkaden der umgebenden Häuser auch zum großen Teil verbarrikadiert. Perfekte Zuschauerplätze! Bei uns steigt die Vorfreude auf das, was uns heute abend hier erwartet.

Unser Hostal ist schnell gefunden, wir essen etwas auf dem Zimmer und dann gehen Veronika und ich zum folkloristischen Abendprogramm. Anni verzichtet. Sie will Sira nicht alleine auf dem Zimmer zurücklassen und sie in die Enge und Lautstärke der zu erwartenden Zuschauermassen mitzunehmen, geht für sie gar nicht. Eine richtige Entscheidung für ein verantwortungsvolles Hundefrauchen, schade für eine Pilgerin, die etwas vom Brauchtum der Gegend miterleben möchte.

Die Arkaden am Hauptplatz sind inzwischen mit Menschen gefüllt, lautstark herumpalavernd und fröhlich dem Alkohol zugewandt. Die Tische und Stühle der Bar, die vorhin noch auf dem Platz standen, sind weggeräumt und die besten Plätze ringsum auf den kleinen Balkonen hauptsächlich mit Frauen besetzt. Auf der Straße, also in der gefährlichen Zone, sieht man zum größten Teil Männer, Jungspunde wie auch ältere Señores. Sie warten auf die Stiere. Die Jungspunde ganz hibbelig, gestikulierend und einige offensichtlich alkoholisiert und dadurch besonders mutig. Unter ihnen auch einige junge Pilger, die wir unterwegs schon öfter getroffen haben und die wohl hier etwas Abwechslung vom Pilgerdasein suchen. Die Señores geben sich gelassen, mit Händen in den Hosentaschen und Zigarillos in den Mundwinkeln, sich noch ruhig miteinander unterhaltend. Dann bläst jemand auf etwas Ähnlichem wie einem Dudelsack, ein lauter Knall hallt durch die Gassen - und die ersten vier Stiere kommen angerannt. Die Menge johlt, Männer hampeln vor den Stieren herum, bringen sich letztendlich hinter Säulen oder Barrikaden in Sicherheit. Es stinkt vor ausgeschüttetem Adrenalin. Die Stiere galoppieren einmal über den Platz, in die Calle Major hinein und durch sie hindurch und auf dem gleichen Weg wieder zurück. Wieder Gejohle und Gehampel, alle haben ihre Freude, nur die Stiere nicht. Mittlerweile beginnt es leicht zu regnen. Die Steinplatten auf dem Platz werden glatt und immer wieder rutschen einige Tiere aus, schlagen hin, berappeln sich aber wieder und rennen weiter, zurück in ihren Verschlag am Ende der "Laufbahn". Dann kommen die nächsten Tiere angerannt. Bei einer Gruppe sehe ich bei ihnen etwas zwischen den Beinen hängen, was nicht unbedingt einen Stier auszeichnet. Es sind Euter! Da laufen doch auch glatt Kühe rum!

Fünf, sechs "Stierläufe" schauen Veronika und ich uns an, dann ist es genug und wir wollen nach Hause. Das ist aber gar nicht so einfach. Unser Weg zum Hostal ist identisch mit der "Stierlauf"-Strecke. Wir warten den Moment ab, an dem gerade mal wieder Stiere (oder Kühe?) an uns vorbeigerannt sind, klettern dann über die Barrikade vor umserem Zuschauerplatz und durchqueren, heldenhaften Mut beweisend, die "gefährliche Zone", in der Hoffnung, dass die Tiere sich nicht soooo schnell auf ihren Heimweg machen. Jedenfalls schneller als erwartet hören wir wieder Gejohle hinter uns, ein sicheres Zeichen, dass die Torros nahen. Wir werden schneller. Die Torros anscheinend auch. Sie sind vielleicht noch zwanzig Meter von uns entfernt, da erreichen wir die rettende Barrikade. Ich schwinge mich sportlich als erster hinüber, damit ich Veronika von der sicheren Seite aus bei ihrem Jump fotografieren kann. Was mir auch gelingt! Auch in diesem Moment stinkt es etwas nach Adrenalin.

Das war doch mal eine ganz andere Art der Abendgestaltung!

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Fr

17

Mai

2013

Annika: Wie begossene Pudel

Puente la Reina nach Irache, 19 km

Gerade, bevor die ersten Regentropfen fallen, steht dank vereinter Kräfte unser Zelt. Ich entlasse Papa und Veronika in ihren Bungalow und bin von jetzt an auf mich allein gestellt.

Endlich Abenteuer! So lange es noch hell ist, versuche ich abends, mir mein Mobilheim herzurichten und gemütlich zu machen. Sira ist mitsamt Schleppleine angepflockt, damit sie mir aus den Füßen bleibt. Sie genießt das! Ich darf sogar immer mal wieder in die Herberge, um zum Klo zu gehen, mein Handy zu laden etc. Als die Unterlage und Isomatte platziert sind, hole ich Sira dazu. Noch ist sie nicht sooooo nass und das Gemüffel hält sich in Grenzen. Über meinen kompletten eilig ausgekippten Rucksackinhalt in der Apsis klettert sie ins Zelt. Der Knisterboden und die Enge sind ihr nicht geheuer und - flutsch! ist sie wieder draußen. Beim zweiten Anlauf klappts. Sie legt sich neben meine Matratze, immer mit dem "Hoffentlich weißt du, was du tust!"-Blick. Bald schläft sie und ich kann sogar meine Sachen aus der Apsis über sie drüber in die hintere Zeltecke befördern. Es ist erstaunlicherweise gar nicht mal so kalt.

So, fertig! Gemütlich ist es geworden. Sira liegt auf ihrem Deckchen und ist zufrieden. Wo hier aber bei Bedarf auch noch Papa schlafen soll, ist mir ein Rätsel. Sira ohne Leine in der Apsis ist keine Option. Sie kommt überall unter der Plane durch, wenn sie will. Vielleicht kann sie ja bei schönem Wetter und Wildcampen mit der Schleppleine ganz außerhalb des Zeltes bleiben. Aber das schauen wir, wenn es soweit ist.

Nachts hülle ich mich mit Fleeceschlafsack und all meinen Klamotten in meinen Daunenschlafsack und schlafe, genau wie Sira, fast gut. Kein Problem mit Kälte, mit dem Regen, der aufs Dach pladdert oder mit der ungewohnten Luftmatratze. Der einzige Störfaktor ist, dass ich mich in dem Schlafsack gefangen fühle. Daran gewöhne ich mich auch noch!

Früher als sonst, um halb sechs, klingelt der Wecker. Als erstes kuschel ich mit dem Hund, der mir so nahe ist wie schon lange nicht mehr. Dann gehen wir Gassi und Sira kommt an die Schleppleine, damit ich in Ruhe das nasse Zelt einpacken kann. Im Zelt ist zum Glück alles trocken geblieben. Schön! Wasserdicht!

Puh, das ist ganz schön Arbeit, bis man sich da dann mal organisiert hat. Bald kommt Veronika mir mit belegten Broten und Papa mit Rat und Pack-an zur Hilfe.

Später als sonst, erst kurz vor neun, verlassen wir unsere Herberge. Noch schnell haben wir die verpönte Chance genutzt, wenigstens Veronikas Rucksack und das Zelt per Gepäcktransport nach Ayegui bringen zu lassen.

Der Himmel ist bedeckt. Wo morgens noch einige Flecken blauer Himmel zu sehen waren, zieht es sich schon langsam, aber stetig zu.

Beim Anstieg vor Mañeru ist es soweit. Die ersten von vielen, vielen Regentropfen fallen. Sämtliche Pilger, die jetzt vor und hinter uns laufen, bleiben stehen, werfen Ponchos über oder klappen Regenschirme auf, dann gehts weiter.

Im Ort halten wir kurz, am alten aber irgendwie auch neuen Waschhaus. Wie auch in vielen anderen Orten, die wir auf dem Camino Frances passiert haben, haben wir das Gefühl, in einem auf neu getrimmten Dorf zu sein. Hat man die Dörfer auf dem Camino für das Pilgervolk renoviert? Wie sähe es hier aus, wenn nicht jährlich tausende Pilger vorbeischauen würden? Wie sehen die Siedlungen aus, die nicht ein direkter Teil des Camino, sondern zwei Kilometer entfernt sind? Kriegen die auch ein Stück vom Kuchen ab?
Und ist das noch echtes Pilgern, wenn inzwischen alles für's Pilgerauge und Leib und Seele verschönert wird?

Den Rest des Vormittags laufen wir durch hügeliges Auf und Ab durch die letzten Ausläufer der Pyrenäen, immer wieder begleitet von mal stärkeren, mal schwächeren Regenschauern. Wir erreichen Lorca kurz vor dem ersten richtig starken Regenguss inklusive Gewitter. In der Bar einer richtig netten Herberge mit richtig netten Hospitaleros dürfen wir sogar mitsamt Sira unterschlüpfen. Noch bevor wir unsere hausmannsköstlichen Snacks bestellen, bekommt Sira von der Hospitalera, selbst ehemalige Pilgerin, Schinkenscheiben und Streicheleinheiten. Der Hospitalero gesellt sich dazu, Sira bekommt Käse und noch mehr Streicheleinheiten. Ja, wo sind sie denn, die hundehassenden Spanier? Irgendwie scheinen die sich vor uns zu verstecken! Klar, wir kommen nicht in Pilgerherbergen und oft nicht in Cafés oder ähnliches, aber fast jeder Spanier hat für Sira ein Tätscheln, einen freundlichen Blick oder ein Knutschgeräusch übrig. Und ich mach mich vorher noch verrückt!

Die Atmosphäre in der Bar ist allgemein total schön. Aus der Stereoanlage tönt erst so etwas wie Hollywood-Blockbuster-Filmmusik, danach, etwas lauter, melodramatischste Songs von "Il divo", immer lauthals mitgesungen vom Hausherrn und einer älteren amerikanischen Pilgerin, die einfach nur süß ist. Begleitet wird sie von einer anderen, nicht weniger alten, amerikanischen, süßen und melodramatischen Dame. Diese erzählt, sie habe gerade im Gewitter vor Angst geweint. Dann streichelt sie Sira und sagt, sie könne schon wieder weinen. Als wir schweren Herzens nach einer ohnehin viel zu langen Pause aus der Bar in den Regen treten, winkt sie uns mit dutzenden Kusshänden nach. Irgendwie könnten wir alle weinen. Veronika und ich, weil uns da drinnen eine ganz besondere Stimmung gefangen hat. Papa und Sira, weil sie wieder in den Regen müssen.

Als wir eine Weile der Hauptstraße gefolgt sind, erreichen wir Villatuerta. Der Regen hat deutlich nachgelassen. Immerhin!

Als wir bald darauf Estella anlaufen, steht der nächste Wolkenbruch bevor. Eine Frau mit drei kleinen bellenden Fiffis erzählt uns gleich viermal auf Spanisch, dass der Jakobsweg mit einem Hund sehr schwierig zu bestreiten sei und erklärt uns den Weg zu Unterkünften, wo der Hund wenigstens draußen schlafen darf. Wir danken herzlich und suchen als nächstes die Touri-Info auf. Mein Hund schläft nicht alleine draußen! Schon gar nicht bei Gewitter. Aber bei dem Wetter mag ich auch nicht zelten. Ein billiges Hotel muss her! Die Dame an der Information besorgt uns einen Schlafplatz in Irache und gibt uns eine wertvolle Liste mit Unterkünften innerhalb von 40 km, in denen Hunde erlaubt sind. Nützlich, da das Wetter so furchtbar bleiben soll die nächste Woche.

Bis nach Irache sind es noch mindestens drei Kilometer. Veronika fährt auf unser Drängen hin mit dem Bus, da ihr Knöchel ihr immer wieder schwere Probleme bereitet. Meinen Rucksack nimmt sie mit, damit ich mir wiederum ihren in Ayegui abholen kann, wo der Gepäcktransport ihn ja abgeladen hat. Neeneenee, ist das alles kompliziert!

Im immer stärker werdenden Regen stoppen wir kurz bei LIDL und suchen dann in Ayegui verzweifelt nach der Albergue, in der unser Gepäck schmoren soll. Da die Herberge in unserem Unterkunftsverzeichnis einen anderen Namen trägt als auf dem Straßenschild, und wieder einen anderen an der Herbergsaufschrift selbst, suchen wir verdammt lange. Wir laufen den Berg hoch, durch knöcheltiefe Sturzbäche, zu denen der Regen sich inzwischen auf den Straßen entwickelt hat. Hagelkörner von 5 mm Durchmesser knallen auf Siras Fell und sie streikt kurzzeitig, indem sie sich mit aller Kraft unter ein Vordach schmeißt und nicht mehr zu bewegen ist. Wir warten den Hagelschauer ab. Dann ist sie bereit, weiter zu gehen. Wieder mal leide ich fürchterlich mit meinem Hund mit. Aber es hilft nichts. Erbarmungslos ziehe ich ihn hinter mir her durch die Flüsse auf den Straßen, denn nur so landen wir irgendwann im Warmen. Aufhören wird das hier so schnell nicht! Er presst sich an den Hauswänden entlang, um so geschützt wie möglich zu sein. Darauf kann ich mich einlassen.

Den Berg wieder runter laufen wir durch ohrenbetäubenden knallenden Donner und verdammt nahe Blitze. Mich beruhigt der Gedanke ungemein, heute nicht ins Zelt zu müssen!

Nach einem riesigen Umweg erreichen wir die Herberge, an der wir eine halbe Stunde vorher vorbeigelaufen sind. Mich empfängt der deutsche Hospitalero und leidenschaftliche Pilger Peter, der uns gerne als Gäste gehabt und uns, da wir "Zuhausestarter" sind, die Unterkunft sogar spendiert hätte. Er gibt uns wertvolle Tipps für den nächsten Tag und verabschiedet uns. Hmmm, so richtig wollen wir alle nicht weiter. Aber Veronika und mein Rucksack sind in Irache. Veronikas Rucksack ist hier. Sira müsste draußen in der Hundehütte bleiben. Und wir im überfüllten Schlafsaal. Und auf uns alle warten in Irache Veronika und ein schönes, warmes und privates Zimmer. Also weiter.

Der Regen ist weniger geworden, das Gewitter ist vorbei. Nach zwei Kilometern an der Hauptstraße sehen wir auf dem Hügel endlich unser Hotel. Irgendwie hatte ich mir das anders vorgestellt. Der Schuppen sieht von außen aus wie ein billiges, schmuddeliges, klebriges Stundenhotel. Na super! Da schwindet meine Hoffnung von warm, weich und gemütlich! Auch egal, Hauptsache trocken! Als wir das Foyer betreten, sind wir mehr als überrascht. Nix schmuddelig, nix billig, alles neu, funkelnd und sauber. Die nette Empfangsdame schickt uns zu unserem Zimmer, wo Veronika schon halb krank vor Sorge auf uns wartet.

Als erste Amtshandlung wird Siras Decke vorm brodelnden elektrischen Heizkörper ausgebreitet. Die Leine ist kaum ab, da rollt sie sich grunzend zusammen und schläft ein.

Geschafft, meine Süße, geschafft!

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Do

16

Mai

2013

Reinhard: Kurz mal fehlgeleitet

Von Pamplona nach Puente la Reina, 30 km

Seit heute herrschen geänderte Bedingungen: Wir sind mit einer Zeltausrüstung unterwegs! Wie oft wir das Zelt wirklich einsetzen werden, steht auf einem anderen Blatt, aber es beruhigt, es dabei zu haben. Zunächst sollte annehmbares Wetter sein, bei Regen und Kälte brauche ich alter Sack das nicht mehr und ich glaube, Anni auch nicht. Und sollte es für mich brauchbare finanzielle Alternativen geben, gönne ich meiner Tochter auch gerne das Mehr an Bewegungsfreiheit für sich und ihren Hund. Sollte es aber wirklich nötig sein, für Anni und Sira gibt es wirklich kein Dach über dem Kopf, dann kann ich es mir sehr gut vorstellen, mit den Beiden irgendwo am Busen der Natur zu zelten.

Voraussetzung ist natürlich, dass wir alles transportiert bekommen. Eine gute Grundlage dafür ist natürlich der von Fritz Kleinert aus der Gite in Lamothe an mich ausgeliehene Wheely. Fritz, nochmals meinen herzlichen Dank für deine Großzügigkeit und dein Vertrauen!

Bereits um 5.30 Uhr, eine halbe Stunde früher als mittlerweile üblich, geht der Handywecker. Noch vor dem Frühstück sortieren Anni und ich ihre Siebensachen neu und verpassen meinem Wheely und Annis Rucksack eine andere inhaltliche Struktur. Wir werden uns umgewöhnen müssen. Bisher hatte alles seinen Platz, wir wussten, wo alles war. Ab heute wird es jetzt erst mal wieder etwas dauern, bis wir z.B. wissen, wo die Bordapotheke oder das Handy-Ladegerät zu finden sind .

Als ich zwei Stunden später meinen zweirädrigen Packesel aus dem zweiten Stockwerk unserer Unterkunft bis ins Erdgeschoss gewuchtet habe, bin ich für heute das erste Mal etwas erschöpft. Wheely hat doch einiges an Gewicht zugelegt, Annis Rucksack ebenfalls. Veronika schläft noch, als wir zwei neu ausgestatteten Pilger die gestern abend noch betriebsame Gasse betreten. Die Interimspilgerin ist fußlahm und möchte heute von Pamplona bis Puente la Reina mit dem Bus fahren. Vernünftige Entscheidung!

Das Hinausfinden aus Pamplona stellt an uns eigentlich keine großen Herausforderungen. Große Muschelsymbole zieren die Fußwege und dick aufgemalte gelbe Pfeile an Hausecken, Ampeln und Laternenpfählen lassen keine Zweifel aufkommen. Und doch sind auf einmal alle Zeichen verschwunden. Eine kleine Ablenkung ... und patsch! Unser Wanderführer hilft uns da im Moment auch nicht weiter - aber Annis Navi! Eine halbe Stunde später sind wir wieder, ohne großen Zeitverlust, auf dem richtigen Weg und reihen uns brav in den Pilgerstrom ein.

An dieser Stelle muss ich mal was zu dem Stichwort "Pilgerstrom" sagen. Wer sich über die Vielzahl der Pilger auf dem Jakobsweg beschwert, sollte zunächst einmal bedenken,dass er selbst ein Teil davon ist. Viele von diesen Pilgern haben besondere Gründe dafür, dass sie sich auf diesem Weg befinden. Auf manchen Teilstrecken deutscher Premium-Wanderwege ist das Menschenaufkommen nicht unbedingt geringer, erst recht nicht auf manchen Wegen in den Alpen. Und - es ist einfach schön zu erleben, wie man sich praktisch bei jeder Begegnung zulächelt, sich mit einem (spanischen) "Hola!" oder "Bon/Buen Camino!" grüßt oder sogar einige Worte mehr wechselt, ja sogar manchmal einige Stunden oder Tage zusammen geht. Hier gibt es keine Schranken zwischen sozialen Schichten oder Nationalitäten, alle sind einfach nur Pilger und haben ein gemeinsames Ziel - anzukommen. Nicht nur die sportliche Leistung, die religiöse Motivation oder das kulturelle Erleben zählen, sondern gerade auch die Chance, ein Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Mir jedenfalls gefällt das.

Dieser Pilgerstrom zieht nun auf die Passhöhe des Puerto del Perdón hoch, auf dessen Bergrücken 40 gigantische Windräder zur Stromerzeugung stehen. Anfangs geht es auf breiter Piste und gehfreundlichem bzw. Wheely-freundlichem Untergrund sanft bergan, dann wird es steiler, schottriger, entschieden mühsamer. Dazu sticht die Sonne recht ordentlich, obwohl über manchen Bergen und kleinen Ortschaften in der Umgebung gut sichtbare Regenschauer niedergehen. Trotz mehr zu transportierendem Gewicht kommen wir gut den Berg hoch, überholen sogar andere, die mit kleinem Rucksack unterwegs sind. Die antrainierte Kondition der letzten Wochen macht sich doch ab und zu bemerkbar.

Bald stehen wir oben am Pass und haben, zusammen mit vielen anderen Pilgern, unsere Freude an der stählernen Darstellung der mittelalterlichen Pilgergruppe, die in keinem Jakobsweg-Film oder -Buch fehlt. Silhouettenartig steht sie vor dem inzwischen regengrauen Himmel, denn eine der dahinjagenden Schauerwolken hat nun auch den Puerto del Perdón erreicht. Das passt sogar irgendwie zu der Stimmung hier oben. Und man kann sich vielleicht ein wenig mehr in die Lage der damaligen Pilgerströme hineinversetzen, die Wind und Wetter nicht mit Marken-Outdoor-Bekleidung trotzen konnten, sondern zu ganz anderen Bedingungen auf dem Weg waren.

Der Weg vom Pass hinunter wird schwierig. Eine üble Geröllpiste führt eine Zeit lang steil hinunter und mein Wheely hat kräftig Arbeit. Glücklicherweise flacht die Strecke ab, als ein kräftiger Schauer niedergeht. Als wir uns zusammen mit anderen Pilgern in Muruzábal hinter einer Hauswand vor ihm in Sicherheit bringen, ist er aber auch schon wieder so gut wie vorbei.

Der Asphalt dampft, als wir uns von der Hauswand lösen und einen Umweg einschlagen. Ich lasse bei Anni durchblicken, dass ich gerne die Möglichkeit wahrnehmen und bei der kleinen Kirche Eunate vorbeigehen würde. Und da die liebe Tochter ihrem Vater nicht viele Wünsche abschlagen kann, machen wir uns auf einer breiten Schotterpiste dorthin auf die zusätzlichen vier Kilometer, jetzt mal wieder bei schönstem Sonnenschein.

Als wir die Kirche erreichen, ist die Tür von Eunate verschlossen, aber einem kleinen Schild können wir entnehmen, dass sie um 16 Uhr aufgeschlossen wird, also in 40 Minuten. Da sowieso noch eine Rast ansteht, also kein Problem. Nach einem viermaligen Glockenschlag öffnet sich die Tür eines kleinen Nachbargebäudes, eine stattliche Frau mit Schlüssel tritt heraus, geht zügigen Schrittes hinüber zur Kirche, die eher eine etwas größere Kapelle ist und schließt auf. Inzwischen haben sich hier außer uns noch andere Pilger versammelt, die nun in dieses kleine romanische Gotteshaus hineinströmen, dessen Ursprung unklar ist. Seine achteckige Form und andere Indizien lassen allerdings eine Grabeskirche des Templerordens vermuten.

Anni lässt mir den Vortritt und bleibt zunächst bei Sira. Ich gehe zwar nicht, wie im Wanderführer empfohlen "... zwei- bis dreimal genussvoll schweigend barfuss über das Pflaster, welches um die kleine Kirche verläuft. Man sagt, man könne dann die mysteriöse spirituelle Kraft besser spüren, welche diesen magischen Ort umgibt", aber dafür bin ich einer von etwa 15 Pilgern, die sich in der Kirche umsehen. Leise und andächtig in den Bänken sitzend finden sich nur wenige, die meisten unterhalten sich mehr oder weniger laut, posieren allein oder in Gruppen vor dem kleinen Altar für die Fotokameras und gucken ganz verständnislos, als von einer älteren Frau aus der letzten Bank ein leises, fast bittendes "Schsch ..." kommt. Fast wünscht man sich ins Mittelalter zurück, als hier die Pilger noch für einen weiteren glücklichen Verlauf ihrer Pilgerschaft gebetet haben.

In Eunate müssen sich die Pilger ganz schön gedrängt haben, denn sie war schon damals, wie immer noch auch heute, von zwei Jakobswegen her erreichbar. Zum einen als kleiner Umweg vom Navarrischen Weg, so wie wir es soeben praktiziert haben, als auch vom Aragonesischen Weg, die sich beide nur drei Kilometer entfernt, bei Obanos zum Camino Francés, zum Hauptweg, vereinen.

Als ich Anni bei Sira ablöse, findet sie bessere Bedingungen vor. Mit oder unmittelbar nach mir haben alle anderen Pilger Eunate ebenfalls verlassen und streben Obanos zu. Anni genießt einen schönen Moment der Ruhe.

Wir verlassen Eunate zu einer Zeit, zu der wir sonst meistens schon am Ziel sind und wir haben noch über sechs Kilometer vor uns. Wir legen einen Zahn zu, durchqueren bald Obanos und bekommen dort von Veronika, die sich bereits seit einiger Zeit auf dem Campingplatz in Puente la Reina, wo unser gebuchter Übernachtungsbungalow steht, eine Sms mit der Bitte, noch für das Abendessen einzukaufen. Wir sind begeistert, tun es bei Ankunft in Puente la Reina aber trotzdem. Wer will schon hungern?! Allerdings gibt es nichts Schöneres, als nach etwa 30 Kilometern Wanderung mit Wheely und Sira vor einer Ladentür zu stehen und sich für 15 bis 30 Minuten die brennenden Füße in den Bauch zu stehen.

Über die alte Pilgerstraße, die die Altstadt von Puente la Reina einmal komplett durchquert, erreichen wir dann doch endlich die berühmte Pilgerbrücke, überqueren sie noch andächtig und quälen uns dann noch mit einer letzten Kraftanstrengung auf der anderen Seite einen Berg zum Campingplatz hoch, wo wir von Veronika bereits erwartet werden.

Der Campingplatz gehört zu einer relativ neuen Pilgerherberge, die offensichtlich auf Massenbetrieb ausgerichtet ist. Der Hospitalero entwickelt sich zu einem speziellen Freund von Veronika, denn er zeigt sich so gar nicht kooperativ. Anni darf nicht in der Nähe unseres Bungalows, welcher sich in einem eingezäunten Bereich befindet, das Zelt aufschlagen (schließlich könnten wir ja unerlaubterweise den Hund mit hineinnehmen), die Einrichtung des Bungalows stellt sich als nicht gerade sauber heraus und die Kochplatte ist defekt. Eine Ersatzplatte rückt er nicht heraus. Veronika will uns aber bekochen und bleibt hartnäckig. Mittlerweile habe ich mich im Bungalow schon eingerichtet, bekomme dann aber von Veronika die Mitteilung, dass wir in den benachbarten Bungalow umziehen müssen, dort funktioniert die Kochplatte. Also darf ich wieder alles zusammenpacken und rüberwechseln. Dann muss ich zur Wiese vor der Pilgerherberge, ca. 100 Meter entfernt. Dort braucht Anni Hilfe beim Zeltaufbau. Und dafür bin ich genau der Richtige! Jeder weiß, wieviel Spaß es macht, ein neues Zelt praktisch zum ersten Mal, ohne Aufbauanleitung und unter den Augen von mehreren neugierigen Pilgern , aufzubauen. Nur einsetzender Regen fehlt jetzt noch!

Irgendwann steht es dann doch und Anni richtet sich in freudiger Erwartung auf die kommende Nacht ein. Kurz darauf ist Veronika auch mit Kochen fertig und Annika bekommt ihre Portion im Zelt serviert, denn essen darf sie auch nicht bei uns, es sei denn, sie lässt Sira allein am oder im Zelt zurück. Für Anni natürlich ein Ding der Unmöglichkeit.

Annis erste Nacht alleine im Zelt ist für ihren Vater gar nicht so leicht.

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Mi

15

Mai

2013

Annika: Um ein Zelt reicher

Rollläden! Mein Zimmerchen, in dem ich letzte Nacht residiert habe, hat tatsächlich Rollläden! Das fühlt sich ja an wie zu Hause! Ich nutze die Gunst der Stunde und schlafe hermetisch abgeriegelt. Als ich heute morgen meine Gruft lüften will, bin ich not amused: Auf den Straßen stehen dicke Pfützen. Es hat geregnet. Und die Wolkendecke am Himmel lässt auch keine große Hoffnung für den Rest des Tages aufkommen. Wir schwingen uns also in Regenhüllen und -jacken und reihen uns in den Pilgerstrom ein, den ich schon bei meinem Gassigang mit Sira um halb Sieben bewundert hab.

All die, die gestern im Laufe des Nachmittags hier eingetroffen sind, teilweise humpelnd, müde, kaputt oder mit schmerzverzerrten Gesichtern, beißen einen weiteren Tag die Zähne zusammen, teilweise immer noch humpelnd und mit schmerzverzerrten Gesichtern. Davor zieh ich meinen Hut. Und ich danke Gott, dass mein Gesicht nach drei/vier Wochen endlich nicht mehr vom Schmerz gezeichnet war.

Der heutige Pfad wirkt sehr konstruiert. Ich habe das Gefühl, der Weg wurde extra angeschüttet und jeder Ast und jeder Bach so gelegt, wie er liegen soll. Hier ein Brückchen, da ein Trittstein, damit den Pilgermassen nicht langweilig wird. Nicht, dass man mich falsch versteht; der Weg ist schön und gut begehbar, aber er fühlt sich anders an unter den Füßen als die einsamen und ursprünglichen Wege, die wir ab und an vor St.-Jean unter den Füßen hatten.

Nach einer Weile setzt Nieselregen ein. Immer wieder geht mir einer meiner wenigen spanischen Sätze durch den Kopf, der mir von unserem Familienurlaub in Figueres hängen geblieben ist: "Donde esta el sol?"

Tja, und wer hätte das gedacht? Selbst bei so einem Wetter denke ich viel an unser Zelt. Besser gesagt, wir alle denken daran. Wird es seinen finalen Platz in der Hauptpost von Pamplona erreicht haben, wenn wir es dort am Nachmittag abholen wollen? Was ist, wenn nicht. Die Online-Sendungsverfolgung verheißt nichts Gutes. Seit zwei Tagen steht dort unverändert: "Die Sendung wurde fehlgeleitet." Wir vermuten unser armes Zelt schon irgendwo im Bermudadreieck des Postnetzes und zermartern uns das Hirn, um einen Weg zu finden, das Ganze irgendwie anders zu regeln. Wir beschließen, erst einmal abzuwarten und bei Ankunft einfach auf gut Glück zur Post zu gehen, in der Hoffnung, unser Paket doch noch in Empfang nehmen zu dürfen.

In Irotz ist es Zeit für eine Pause. Ich entdecke einen kleinen Unterstand. Papa und Veronika entdecken ein Cafe. Unsere Wege trennen sich, denn die zwei Katzen unter den Cafe-Tischen sprechen nicht für eine erholsame Pause für Sira und mich. Und alle anderen Gäste. Sira passt diese kurze Trennung gar nicht. Sie heult und fiept Papa nach und macht so richtig die Molly! Nicht zu fassen, wie kalt es heute ist! Gestern noch geschwitzt in Top und Shorts, heute wird noch mit Fleece, Stulpen, langer Hose und heißem Kakao gebibbert!

Bald löst Veronika mich beim Sirasitten ab, damit ich mich noch schnell hinter Papa in die Kloschlange einreihen kann. Da es nur eine Toilette gibt, stehen wir relativ lange davor. Papa entdeckt einen Tisch mit Zeitungen. Das käme bestimmt super an, wenn er jetzt mit Zeitung unterm Arm, freundlich grinsend und winkend im Klo verschwinden würde. Am Ende tut er es aber doch nicht.

Als ich dann auch endlich von der Toilette komme, höre ich auch schon von Weitem Siras Gebell. Der Grund ist schnell erkannt: Eine Katze, mit beachtlichem Buckel, trotzdem aber mitten auf der Straße. Ich scheuche sie weg und sehe im gleichen Moment Veronika auf dem Boden, knallrot im Gesicht, und Papa davor, der sich kaputtlacht, mit der Kamera in der Hand. Sira hat Veronika mit ihrer Katzenhatz wohl überrascht und sie von ihrer Sitzgelegenheit gerissen. Glück im Unglück. Da hätte sie sich ganz schön wehtun können. Hat sie aber scheinbar nicht. Sie lacht ja noch...

Bald kommen wir, wie Papa immer so schön sagt, zu einer bösen Schikane. Wo der Pfad doch in den letzten Stunden so bilderbuchmäßig zu laufen war, müssen wir nun durch Schlamm, der auch noch abschüssig ist. Immer wieder rutsche ich weg. Sehnsüchtig schauen wir immer wieder fünf Meter abwärts, wo der nette Asphaltweg verläuft. Einen Kilometer später führt unser Weg uns endlich auf genau diesen. Na toll!

Bald begegnet uns ein Paar, dass ich mal wieder nur bewundern kann. Sie sind Mitte Fünfzig und sehen aus, als wären sie polnische Bauern aus der tiefsten Pampa ohne Strom und Wasser. Sie sieht aus wie Mama Flodder. Derbes Gesicht, gedrungene Statur, eine Spur ungepflegt. Er sticht gar nicht so heraus. Sie sind kein polnisches Ehepaar, sie sind Spanier. Für sie hat der Weg keine sportliche Motivation. Kultur ist dabei auch eher nebensächlich, genauso wie der Austausch mit anderen. Es geht um eine reine, ehrliche und tiefe Glaubensfrage. Sie sind nicht modisch von Outdoorläden mit ultraleichter Ausrüstung ausgestattet worden. Sie laufen in ausgelatschten Turnschuhen und einem schlecht sitzenden Poncho, der bei einem Windstoß in der Pause allen das Essen vom Teller fegt. Sie wirken so überzeugt von ihrer Sache, dass man denkt, sie ertrügen die Schmerzen, die sie bei jedem einzelnen langsamen Schritt offensichtlich haben, mit Überzeugung. DAS ist Pilgern!

Im Handumdrehen haben wir die Vororte erreicht und ebenso die große Stiertreiber-Stadt selbst. Wir schmeißen Gepäck, Sira und Veronika in unserer "Casa Otano" ab und rennen gleich zur Post. Sekt oder Selters! Ist unser Zelt da? Was, wenn nicht?!?

Die Frau am Schalter wuchtet unsere Kiste auf die Theke, gepaart mit der ungläubigen Frage, ob wir das alles auf den Camino mitnehmen wollen? Wir nicken stumm. Als wir überglücklich unsere Zeltausrüstung im Zimmer abgestellt haben, begeben wir uns noch auf eine Sightseeing-Tour.

Wir besuchen die Kathedrale und das Kloster von Pamplona. Ich bin fast ein bisschen abgestoßen von der merkwürdig futuristisch aufgemachten Darstellung des Klosters. Ich fühle mich wie auf einen Vernissage. Von Besinnlichkeit keine Spur. Bald verlassen wir die Einrichtung.

Wir wandeln auf den Straßen Pamplonas, die berühmt sind für ihre Stierläufe zum großen Fest San Fermin. In den Böden sind die Vorrichtungen für die Gitterabsperrungen zu erkennen. An den Hauswänden hängen Fotos des Spektakels.

Plötzlich strömt mir ein hypnotischer Duft in die Nase; Backwaren! Wir betreten das urige kleine und etwas knüsterige Lädchen, das dafür verantwortlich ist. Hier türmen sich selbst gebackene Kekse, Muffins, Gewürzkuchen und Schokocroissants. Herrlich! Ich kaufe eine gemischte randvolle Box und verlasse glücklich den Laden.

Als Papa und Veronika abends Tapas Essen gehen, versuche ich, mit dem vorhandenen W-lan Fotos für Euch herunterzuladen. Fehlanzeige! Auch nach Stunden.

  Während ich gerade über dieser Aufgabe zerbreche, kommt mir die Box wieder in den Sinn. Ich gehe zum Bett, öffne die Pappschachtel und nehme einen kräftigen Atemzug. Riecht DAS gut! Ich nehme einen der Kekse aus der Tasche, beiße ein Stück ab und lasse es im Mund zergehen. Wenigstens darauf man sich verlassen!

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Di

14

Mai

2013

Reinhard: Immer mit dem Pilgerstrom

Von Espinal nach Zubiri, 16 km

Bilde ich mir das nur ein oder ist das wirklich so? Ich habe das Gefühl, als wäre die spanische Sonne direkt viel wärmer als die französische. Dabei liegen nur die Pyrenäen dazwischen. Schon als wir unsere Albergue verlassen und die ersten Meter die Straße entlangmarschieren, merke ich, dass wir heute ins Schwitzen kommen werden.

Wir sind etwas später dran als üblich und als wir uns durch die enge Dorfstraße von Espinal bewegen, laufen wir recht bald im Pulk all jener Pilger, die heute morgen früh in Roncesvalles gestartet sind. Da laufen sie alle, die Jungen, das gestandene Mittelalter und die Alten. Alleine, mit Partner oder in der Gruppe. Einige sind fetzig gestylt, ihnen ist wahrscheinlich das Gesehenwerden wichtiger als das Pilgern selbst. Andere sind zweckmäßig gekleidet, kennen was vom Wandern. Der eine und die andere leiden offensichtlich jetzt schon. Untrainiert haben sie vielleicht gestern in St.-Jean-Pied-de-Port angefangen und sich direkt die schwere Etappe bis Roncevalles zugemutet. Jetzt haben sie die Quittung. Die wenigsten haben wir schon mal gesehen, die meisten werden in St.-Jean losgelaufen sein.

Inzwischen gibt es zwei Hauptpilgerzeiten auf dem Camino Frances. Waren es früher noch der Juli und August, die das höchste Pilgeraufkommen in die Statistik einbrachten, so kommen heute Mai und Juni dem sehr nahe. Ich jedenfalls hätte mit so vielen Rucksack- und Muschelträgern noch nicht gerechnet. Eventuell muss sich nach dem Aufbruch in St.-Jean auch erst mal alles etwas verlaufen.

Am Anfang der Etappe sind die Wege mustergültig, fast zu mustergültig. Kaum Schotter, eher feiner Split oder weicher Waldboden. Über einige Zeit schreiten wir sogar über breit angelegte Plattenwege, die manchmal Treppenstufen aufweisen, manchmal so ausgebaut, dass sogar Radpilger oder solche mit Wheelys Höhendifferenzen gut bewältigen können. Doch wieweit will man den Menschen das Pilgern noch bequemer machen? Gibt es, nach Gepäcktransport und busunterstützter Pilgerreise, bald noch die laufbandunterstützten Auf- und Abstiege?

In Viscarret sitzen viele Pilger draußen vor einem Café und frühstücken oder gönnen sich einfach ihre zweite Tasse Kaffee. Wahrscheinlich sind sie schon so früh losgelaufen, dass noch kein Frühstück ausgegeben worden ist. Oder sie gehören zu der Kategorie von Menschen, die zu Hause auch erst an der Arbeitsstelle ihr Frühstück einnimmt . Jedenfalls sind viele Tische voll besetzt. "Na, wie läuft's mit der Karre?" hören wir auf einmal. Ein braungebrannter Mann steht strahlend von seinem Tisch auf und kommt auf uns zu. Es ist der Schwabe, den wir bei Fritz Kleinert in Lamothe kennengelernt und dann aus den Augen verloren haben. Er fragt nach meinen Erfahrungen mit dem Wheely und ist sichtlich erfreut, dass ich nur Gutes zu erzählen weiß. Wir wünschen uns gegenseitig einen "Bon Camino!", wir ziehen weiter und er trollt sich auf seinen Platz zurück. 

Nur gut hundert Meter weiter gibt es einen gutsortierten Lebensmittelladen. Wir brauchen was zum Abendessen und Anni und Veronika gehen rein. Für mich ist es unmöglich, mit Sira vor dem Laden zu warten - es wimmelt von Katzen. Wir beide gehen ein Stück voraus und lassen uns dreihundert Meter weiter am Wegesrand nieder. Am Café scheint gerade groß abgerechnet worden zu sein, denn auf einmal ziehen Pilgerströme an mir vorbei.
Ich habe das Gefühl, einem Potpourri beizuwohnen. Pilger im Café, Pilger beim Einkauf, vorbeiziehende Pilgermassen, all dies wird mir in Abwandlungen die nächsten Wochen immer wieder begegnen.

Als die Frauen vom Einkauf kommen, wollen sie noch etwas pausieren. Genehmigt! Dann rücken sie mit der Sprache raus: Im Internet haben sie herausbekommen, dass das Paket mit unserer Zeltausrüstung noch nicht in Pamplona angekommen ist - und morgen sind wir in Pamplona!!! Na bravo! Aber Zelten wird in dieser Stadt sowieso schwer werden, also müssen wir uns ganz schnell um ein Quartier kümmern - das auch einen Hund akzeptiert. Ich rufe die Casa Paderborn an, eine deutsche Pilgerherberge in Pamplona, und frage um Rat. Einen Hund nehmen auch sie nicht auf, versuchen uns aber mit der ein oder anderen Telefonnummer zu helfen. Anni versucht ihr Glück - und findet es. Ein kleines Hotel nimmt uns auf.

Mit dieser Erleichterung im Rücken erklimmen wir über oft schattige Waldpfade den Erro-Pass, halten noch eine kleine Siesta auf einer sonnigen Pyrenäen-Wiese und sind dann auch schon bald in Zubiri, wo für heute Schluss ist.

Veronikas Kochkunst beschert uns ein köstliches ... na ... na ...? Nudelgericht! Serviert in Annis Einzelzimmer.

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Mo

13

Mai

2013

Annika: So gefällt mir das!

Von Valcarlos nach Espinal, 17 km

Jetzt ist es also soweit. Nach Wochen und Tausenden Kilometern haben wir Frankreich also tatsächlich hinter uns gelassen. Und wer hätte das gedacht, ich trauere diesem Land sogar ein bisschen nach. Wir hatten uns gerade eingefunden, kommen gerade zurecht und müssen jetzt wieder bei Null anfangen. In Spanien sprechen wir die Sprache nicht. Wir kennen die Wege nicht. Und wir verstehen die Mentalität und die Eigenheiten noch nicht. Hier grüßt uns nicht jeder Einzelne. Man fühlt sich fast beleidigend missachtet. Wir sind hilflos und in der Fremde. Aber auch hier werden wir das schaffen und uns irgendwie durchwurschteln.

Ein weiterer spannender Punkt ist, wie Sira hier wohl angenommen wird. Seit wir gestern die Grenze überquert haben, habe ich das Gefühl, dass sie komisch angesehen wird, teilweise sogar angewidert. Vielleicht bilde ich es mir auch nur ein, weil die Spanier im Allgemeinen verschrien sind für ihren Hundehass. Offenkundig angefeindet hat uns bisher noch niemand und solange das so ist, bin ich zufrieden. Interessanterweise fanden wir gestern ja auch gleich bei der Grenze einen riesigen Tierhandel, wo ich für Sira Ersatzhalsband und -leine (die alte ist schon ganz schön durchgescheuert) und einen Maulkorb aus Nylon ( damit dürfen wir vielleicht auch mal in ein Café...) kaufen konnte. Außerdem hab ich uns einen Puschel (Hundespielzeug) geleistet. Endlich mal wieder ein bisschen spielen wie zu Hause! Aber wenn es hier so einen Laden gibt, können die ja nicht alle sooooo anti Hunde sein... In unseren Unterkünften gestern und heute hatten wir auch Glück, denn man tätschelte dem Hund tatsächlich mal über den Kopf und auch sonst war alles problemlos. Ab übermorgen haben wir sowieso unser Zelt, dann kann mir das Verhältnis von Herbergseltern zu Hunden egal sein.

In den vergangenen zwei Wandertagen habe ich weitaus mehr arme Hunde in zu kleinen Zwingern oder an zu kurzen Ketten gesehen als in den vergangenen Wochen. In der letzten Nacht hat mich einer von ihnen quasi durchgehend wach gehalten. Irgendetwas passte ihm wohl dauerhaft nicht. Er bellte alle halbe Stunde fünf Minuten lang. Wenigstens hat Sira nicht mit eingestimmt.

Als um sechs der Wecker klingelt, ist mir das eindeutig zu früh. Eine halbe Stunde noch. Beim nächsten Klingeln gebe ich mich geschlagen. Zwei Stunden später verlassen wir vier das Haus.

Schweren Herzens lassen wir den wunderschönen Blumenstrauß stehen, den Veronika gestern unterwegs gepflückt hat. Schön, wenn endlich mal wieder jemand ein bisschen Wohnkultur in unser Nomadenleben bringt! Es wird wohl nicht der letzte Strauß sein...

Wir begeben uns entlang der N135 an den Aufstieg zum Ibañetapass. Zu unserer Linken ragt majestätisch der Pyrenäenkamm empor, über den sich alle Pilger kämpfen, die sich nicht wie wir für die flachere Variante über Valcarlos entschieden haben.

Nach einer Weile an der Straße, stetig leicht bergauf, zweigt der Jakobsweg in eine kleine Teerstraße ab, die bergab führt. Papa will sich die bergauf/bergab-Schikane sparen und bleibt auf der Straße. Ich entscheide mich für die Schikane. Keine Lust mehr auf die langweilige N135. Also mal wieder Hase und Igel... Veronika sucht noch nach dem geringsten Übel und entscheidet sich, Papa zu begleiten. Sira und ich stapfen den Weg gemeinsam hinunter zum verschlafenen Nest Gainekoleta. Immer wieder blickt Sira suchend zurück. Es passt ihr gar nicht, dass wir einen Teil des Rudels verloren haben. Vor den ersten Häusern frage ich mich, was wäre, wenn uns jetzt ein Hund angreifen würde. Mit Pfefferspray in der rechten und dem Pilgerstab in der linken Hand laufen wir selbstbewusst in den verschlafenen Ort. Uns begegnet nichts und niemand. Hinter den letzten Häusern wird der Weg abenteuerlich. Über Geröll, Matsch und Waldboden bewegen wir uns vorwärts, immer in der Nähe des rauschenden Bergbachs. Sira hat keinen Blick für den aufregenden Waldpfad, sondern sucht lieber die Hänge oberhalb der anderen Bachseite ab, weil sie dort die andere Rudelhälfte vermutet. Dummerweise bekommt sie deshalb auch nichts mit von dem Eichhörnchen, dass aus vierzig Metern Entfernung auf uns zu galoppiert. Es bleibt kurz stehen, mustert uns - und galoppiert weiter! Ich lenke Sira solange ab, bis es sich in einen Baum retten kann und wir können passieren. Nach einem letzten steilen Anstieg erreichen wir Papa und Veronika, die bereits auf uns warten. Sie mögen vielleicht schneller gewesen sein, aber schöner war definitiv unsere Wahl.

Nach einem weiteren Kilometer an der N 135 zweigt der Weg erneut ab. Diesmal hat Papa keine Wahl. Er muss mit! Über teilweise geröllige, steile Pfade führt der Weg immer weiter bergauf. Papa hat mit seinem Gefährt zu kämpfen. Ich biete ihm an zu schieben, wenn er Sira und den Stab nimmt. Gesagt, getan! Ich schiebe, Sira zieht, Papa stößt sich mit dem Stab ab - er fliegt fast zum Ibañetapass!

Vorher ist allerdings ein Päuschen angesagt. Direkt am Weg lassen wir uns nieder. Wie ich leider erst später merke, im absoluten Zeckengebiet. Während der Pause noch sehe ich sechs oder sieben Zecken in Siras Fell, die nach einem Anlegeplatz suchen. Zum Glück bin ich schneller und erledige sie vorher.

Für das letzte anstrengende Stück Anstieg vorm Pass muss ich Papa sogar helfen, den Wheely ein paar Stufen die Treppe hinauf zu tragen.

Am Pass parkt eine Art Wohnwagen. Eine Frau ist offensichtlich in der Küche beschäftigt und ich sage aus Scherz zu Papa, man habe für uns Kaffee gekocht. Die Dame ist aus Holland, hört das und bietet uns tatsächlich eine Kanne Kaffee an! Fast beschämt fügt sie hinzu, der sei aber schon zwei Stunden alt. Haha! Da haben wir aber schon ganz andere Sachen getrunken! Zusätzlich bekommen wir noch ein Stück Kuchen und einen Sitzplatz. So lob ich mir das!

Das Wetter hier oben hat sich schlagartig verändert. Wir haben das Gefühl, aus einer Wolkenwand zu treten. Aus diesigem, nebligem  Herbstwetter wird plötzlich strahlender Sonnenschein und blauer Himmel. Fast surreal!

Am Pass treffen die beiden Varianten, zwischen denen man wählen könnte, wieder zusammen. Spätestens jetzt ist man auf dem Weg, den Millionen begangen haben, den Hunderte in ihren Büchern beschrieben und in ihren Filmen behandelt haben. Das ist ein ganz komisches Gefühl.

Nach dem Abstieg durch schönstes Frühsommerwetter erreichen wir bald Roncesvalles, einem Ort, der eigentlich nur aus einer riesigen Abtei besteht. In dieser Abtei befindet sich vor allem eine der stattlichsten Pilgerunterkünfte am gesamten Jakobsweg. Über dreihundert Pilger können hier insgesamt in vier Schlafsälen unterkommen. Kein Wunder, dass es hier nur so wimmelt  vor Pilgern allen Alters, aller Statur und jeder Nationalität. Als Papa gerade mit frischen Stempeln aus dem Pilgerbüro kommt, ist plötzlich das Gejubel groß: Alain und die "Pastorenbrüder" kommen uns entgegen, wild winkend. Seit drei Wochen haben wir sie nicht mehr gesehen und jetzt sind wir tatsächlich zur gleichen Zeit hier. Unfassbar! Überschwängliches Küsschen rechts, Küsschen links, ein paar Sätze, die man wechselt und schon trennen wir uns wieder mit einem "Buen Camino!" So ist das eben auf diesem Weg. Man trifft sich, man verliert sich.

Bis zu unserem Etappenziel Espinal ist es jetzt nur noch ein Katzensprung, durch einen Wald, das Dorf Burguete und über idyllische Felder. Im nächsten Wald gilt es, mehrere Bäche auf massiven Steinplatten zu überqueren. Nach einem letzten steilen Anstieg erreichen wir das beschauliche Dörfchen Espinal.

Unsere Unterkunft ist wunderschön, quasi neu, mit dem Hund ist alles kein Problem und Veronika kocht für uns. Ein guter Tag! Das Leben kann so schön sein!



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So

12

Mai

2013

Reinhard: In St.-Jean-pied-de-Port

Von Larceveau nach St.-Jean-pied-de-Port, 17 km

Von St.-Jean-pied-de-Port nach Valcarlos, 17 km

Unser 2-Sterne-Hotel in Larceveau ist nochmal richtig in Ordnung. Sauber, schöne Betten, heiße Dusche, Hund problemlos auf dem Zimmer, Preis absolut angemessen, Menschen freundlich - so ist es recht! Und sogar mit kleinem Balkon, wo wir uns am Morgen auf unserem kleinen Kocher den Porridge und Kaffee kochen. Dann heißt es wieder: Packen! Da hat sich am Routine-Ablauf ja inzwischen was geändert. Bisher kannten wir drei Möglichkeiten: 1. Wir können mit Sack und Pack aufs Zimmer, einschließlich der schmutzigen Schuhe. 2. Wir müssen die schmutzigen Schuhe draußen oder im Flur ausziehen. 3. Zusätzlich zu den Schuhen muss sogar der Rucksack außerhalb des Zimmers bleiben, um das Einschleppen von Bettwanzen zu vermeiden. Mit Beginn der Wheely-Zeit ist klar, dass mein Pilgermoped nicht mit aufs Zimmer kann. Folglich: Ich muss draußen alle meine für die Nacht notwendigen Habseligkeiten dem Wheely entnehmen und für das Gefährt bis zum nächsten Morgen eine Unterstellmöglichkeit finden, sei es eine Garage, ein Schuppen oder irgendein sicherer Verschlag. Heute hole ich meinen mittlerweile liebgewordenen Begleiter aus einer wenig aufgeräumten Garage, wo er zwischen Kartons voll Weingläsern und Esstellern, leeren Bierfässern und kaputten Barhockern die Nacht verbracht hat.

Mit einem etwas komischen Gefühl machen wir uns an unsere letzte Etappe auf der Via Podiensis. Zum einen sind wir noch nicht ganz sicher, ob sich unser Übernachtungsproblem für St.-Jean-Pied-de-Port wirklich sicher gelöst hat. Hat der Betreiber des Campingplatzes in La Madelaine, zwei Kilometer vor St.-Jean mich am Telefon wirklich richtig verstanden? Habe ich ihn richtig verstanden und es ist wirklich ein Mobil-Home frei und Sira dort akzeptiert? Aber das ist nur das komische Gefühl in pragmatischer Hinsicht. Ein anderes Gefühl bewegt mich mehr: Mit dem Ende der Via Podiensis haben wir tatsächlich die Pyrenäen erreicht. Mächtig erheben sie sich vor uns. Heute überschreiten wir unsere 2000-Kilometer-Marke. Was für eine Strecke! Fast genau drei Monate sind wir auf den Beinen, jeden Tag, immer weiter, immer weiter. Kein Tag Pause, selten mal unter 20 Kilometer am Tag, manchmal sogar 30 und mehr. Trotzdem nie der Gedanke ans Aufhören. Getragen und beflügelt von den guten Wünschen von Menschen, die wir unterwegs treffen und besonders von den regelrechten Anfeuerungen, die wir über den Blog erfahren.

Diese letzte Etappe vor unserem nächsten großen Teilziel bewegt sich immer in relativer Nähe zur viel befahrenen Nationalstraße, sie schlägt keine großen Haken mehr, will anscheinend selbst jetzt endlich ankommen. Aber es ist ein schöner Weg, Wheely-freundlich über kleine Straßen, trotzdem abwechslungsreich durch eine liebliche Vorgebirgslandschaft, ein welliges Auf und Ab, vorbei an saftigen Weiden, anscheinend glücklichen Kühen, Schafen, Ziegen und Pferden mit ihren jeweiligen putzigen Kinderstuben und durch kleine Dörfer, wo wir oft vor lauter Kuh- und Schafscheiße auf der Straße nicht mehr den Asphalt erkennen. Dies alles, das freundliche Wetter und der Blick auf die Berge verursachen bei mir eine schon fast euphorische Stimmung, meine Füße tragen mich von alleine. Aber ich glaube, anderen Pilgern geht es ähnlich. Strammen Schrittes, teilweise mit energischem Stockeinsatz marschieren sie voran. Manche, die uns überholen oder von uns überholt werden, haben ein Lächeln im Gesicht, obwohl einige von ihnen schwere Rucksäcke tragen oder offensichtlich humpeln, weil sie Blasen haben. Aber sie wissen, dass sie es bald geschafft haben, sei es jetzt nach 200, 700 oder 2000 Kilometern. Für viele ist es heute das Ende einer langen Pilgerreise. Irgendwann, vielleicht im nächsten Jahr, ziehen sie weiter in Richtung Santiago. Dann beginnen bei manchen die Schmerzen neu, muss man sich wieder durchbeißen, bis "es läuft". Für einige aber, wie für uns, ist St. Jean "nur" ein Zwischenziel. Schon morgen wird es weitergehen, hinein in die Pyrenäen.

Bei der heutigen Strecke von nur 16 Kilometern nehmen wir uns auch nur eine Pause, und die an einem interessanten Plätzchen: "Pause de Compostelle". Hierbei handelt es sich nicht um ein Cafe oder eine Bar oder einen Picknickplatz mit Honor-Box. Hier hat ein junger Mann eine gute Geschäftsidee. Nach ziemlich genau zwei Stunden Wanderzeit seit dem letzten Übernachtungsort hat er seinen Mini-Van am Rand des Weges positioniert. Schon auf den letzten sechs Kilometern weisen Info-Schilder auf diese Örtlichkeit hin. Im Van gibt es Kühlfächer für Kaltgetränke, einen Heißwasserkocher für die Zubereitung von Kaffee oder Tee und eine Vorrichtung für Hot-Dogs. Außerdem, und das ist der Knaller, gibt es im Van Sitzflächen für die bereitstehenden Fußbäder sowie vier Schuhtrocknungsgeräte. Alles wird betrieben durch einen hörbaren, aber nicht nervenden Stromaggregaten. Neben dem Van ist ein großer Pavillon aufgebaut, darunter diverse Tische und Stapelstühle. Auf der anderen Seite des Weges nochmal Tische und Stühle, nur diesmal unter rot-weißen Sonnenschirmen. Auf einem extra Auslagetisch sind Süßigkeiten, Obst, Eier, Pflaster und Salben im Angebot. Alles, was es hier gibt, ist nicht billig, aber in einem Rahmen, der manchen Pilger hier gerne rasten lässt. Wenn die Sonne mal zu heiß brennen sollte, bieten zwei Kastanien sogar noch zusätzlich Schatten. Während wir etwas zu uns nehmen, arbeitet es schwer bei Anni im Gehirn. Sie spinnt doch schon seit einiger Zeit davon, bei uns am Siegsteig etwas Ähnliches einzurichten. Hier bekommt sie gezeigt, wie man es machen könnte. Nur ist der Siegsteig (noch) nicht der Jakobsweg.

Eineinhalb Stunden später stehen wir auf dem kleinen Campingplatz von La Madelaine, einem kleinen Ort zwei Kilometer vor St.-Jean-Pied-de-Port. In der Mitte steht ein renovierungsbedürftiges Gebäude mit den Sanitäreinrichtungen. Auf der Wiese verliert sich ein Wohnmobil und ein alter Wohnwagen mit noch älterem Vorzelt. Am Rand stehen drei Mobil-Homes unterschiedlichen Jahrgangs. Eine Rezeption gibt es nicht, aber nach einem Anruf kommt der nahebei wohnende Proprieteur mit seinem Wagen angefahren - und schaut erstaunt auf unseren Hund. Jetzt geht das wieder los! Und richtig: Eigentlich war das neue Mobil-Home für uns gedacht, aber mit Hund geht es nur in dem alten Wohnwagen , wo der Hund ja schließlich im Vorzelt schlafen könne. Wir haben keine Wahl und willigen ein. Aber Anni und ich sind uns einig, in der Nacht kommt Sira rein!

Gestern ist Veronika in St.-Jean angkommen, um uns wieder ein paar Tage zu begleiten. Jetzt wartet sie auf uns, dass wir sie dort abholen. Wir deponieren schnell unsere Sachen im stark muffig riechenden und etwas klebrig wirkenden Wohnwagen und machen uns nochmal auf den Weg.

Wir treffen uns schließlich bei den Amis de Pelerins in der Altstadt von St. Jean. Ich lasse Anni und mir gerade neue Pilgerpässe ausstellen, als Veronika mir von hinten um den Hals fällt. Sie zeigt uns ihre Pilgerherberge in der Rue de La Citadelle von letzter Nacht, ich kaufe mir beim Pilger-Ausrüster gegenüber einen neuen Hut und Veronika lädt uns zum Eis ein. Zeit für Muße bleibt aber nicht viel. Wir müssen noch einkaufen (bei LIDL!) und zur Touri-Info, um uns dort noch eine Unterkunft für kurz vor Pamplona reservieren zu lassen. Dann nochmal zurück zu Veronikas Herberge. Außer ihrem Rucksack steht hier noch ein Koffer, mit dem sie sich von zu Hause abgeschleppt hat, mit Sachen, die nur für Anni und mich bestimmt sind.

Erst am frühen Abend sind wir wieder zurück auf dem Campingplatz. Veronika trägt unsere heutige Unterkunft mit Fassung und wir versuchen, es uns so gut wie es geht gemütlich zu machen.

Und dann wird der Koffer aufgemacht. Unsere neuen Wanderschuhe. Unsere alten Treter haben uns 2000 Kilometer treu gedient, die nächsten 1000 würden sie nicht mehr schaffen. Hoffen wir, dass uns die uneingelaufenen Neuen keinen Kummer machen. Für Anni ist noch eine neue Hose im Koffer und die ein oder andere Kleinigkeit. Sobald der Koffer leer ist, landen in ihm Sachen, die wir nicht mehr brauchen, unter anderem natürlich die alten Schuhe, die zu Hause einen Ehrenplatz bekommen werden. Sogar Siras Rucksack, ihr Markenzeichen auf dem Jakobsweg, kommt hinein. In Spanien könnte er sie zu sehr belasten. Ihre Sachen kommen dann eben auch noch zu mir in den Wheely. Neu sortiert begeben wir uns in die letzte Nacht auf französischem Boden und durchstehen sie standhaft, aber frierend in Ermangelung ausreichender Decken und nicht funktionierender Heizung. Gelobt sei, was hart macht!

Der heutige Tag ist schnell zusammengefasst. Mit Koffer ziehen wir wieder in St.-Jean ein und geben ihn zur Aufbewahrung für sechs Wochen im Pilgerbüro ab. Auf unserer Rückreise mit Sebastian müssen wir also auch hier nochmal kurz Station machen. Welch eine logistische Leistung! Wenn jetzt auch noch unsere Zeltausrüstung pünktlich in Pamplona zur Abholung bereitliegt, bin ich sehr zufrieden.

Die Wolken hängen tief über den Pyrenäen. Ich befürchte eine neue Regenschlacht, als wir bei Regen losziehen auf den Camino Frances, auf das letzten große Teilstück unserer Pilgerreise, auf DEN Jakobsweg an sich. Über die Höhen, die Route Napoleon können wir nicht. Die Unterkunftsfrage hat uns schon im Vorfeld einen Strich durch die Rechnung gemacht. Mit Wheely wäre es sowieso, bei dem bekannt und gefürchteten steilen Aufstieg problematisch, wenn auch nicht unlösbar geworden. Ein Tag mit weiten Ausblicken ist bei dem Wetter erst recht nicht zu erwarten - also was solls! Wir nehmen die Alternativstrecke, die immer nahe bei der Passstraße bergauf führt und erreichen nach 14 Kilometern das Bergdorf Valcarlos. In einer Casa rural finden wir Quartier und ein gemütliches Appartement, das keine Wünsche offen lässt.

Übrigens: Wir sind in Spanien!!!

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Sa

11

Mai

2013

Opa und Afrika: Wochenendgeschenk!

Guten Morgen! Als kleines Geschenk zum Wochenende haben wir es geschafft, wenigstens ein paar Bilder des Tages zu den Artikeln der vergangenen Tage hochzuladen. Außerdem lassen sich diese Bilder endlich auch anklicken und damit vergrößern (war gar nicht sooo schwer...). Sobald es geht, gibt es mehr, versprochen!

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Fr

10

Mai

2013

Annika: Jakobus mal wieder!

Von Bellevue nach Larceveau, 25 km

Endlich mal wieder ein guter Tag! Sira hat die ganze Nacht friedlich und vorbildlich vor unserer angelehnten Zimmertür geschlafen. Der Hausherr ist mehrfach um sie herum gelaufen, da sie quasi in seinem Vorratsraum gelegen hat. Er war beeindruckt, wie lieb sie ist. Ich auch!

Wie immer laufen wir, nach kurzem Fototermin bei unseren französischen Mitbewohnern, gegen acht Uhr los. Heute gefällt mir das Wetter weitaus besser als gestern. Es regnet nicht, kalt ist es auch nicht und, wie Papa so schön zu sagen pflegt, es ist Zeichnung im Himmel. Es ist also ausbaufähig!

  Auf den Straßen hat der gestrige Regen ein Schlachtfeld hinterlassen. Plattgefahrene Regenwürmer und Kröten in Mengen. Und das Ekligste daran ist, dass die alle so überdimensional groß sind. Papa ist mein Zeuge, ich übertreibe nicht, wenn ich von zweifaustgroßen Kröten und fingerdicken, 50 cm langen Würmern rede. Kein Wunder, dass an den Teichen und Tümpeln immer die Hölle los ist bei solchen Resonanzkörpern! Und diese schlangenartigen Regenwürmer haben wir gestern sogar noch dutzendfach live gesehen. Bua! Papa wollte gerade ein Foto mit Sira daneben machen, zum Größenvergleich, aber dann stubst der doofe Hund das Vieh an und es macht sich ganz klein. Bua! Dann war das gleich noch dicker!!! Kurz darauf kommt ein Auto angefahren. Ich bin unschlüssig. Ich rette jedes Tier vorm sicheren Tod, wenn ich kann, aber anfassen kann ich das Monster doch nicht. Papa schindet Zeit, stellt sich vor mich und das Auto weicht aus und fährt weiter. Um den Wurm dauerhaft zu retten, will ich ihn an den Straßenrand befördern. Mit der Hand? Nä! Jedes normale Würmchen ja, aber diese halbe Schlange? Im Leben nicht! Mein Wanderstock wird zum Werkzeug, der Wurm landet im sicheren Grün und wir laufen weiter.

Die Würmer und Kröten, denen wir heute begegnen, hatten keinen Lebensretter. Ich wundere mich nur, dass das so viele Riesen sind. Sind wir hier irgendwie in einem verstrahlten Gebiet, wo alles mutiert? Dann mal schnell weiter!

Wir durchlaufen die Dörfer Aroue, Etcharry und Olhaiby. Die Nähe zu den Pyrenäen macht sich langsam deutlich bemerkbar. Hügelig geht es auf und ab und Papa muss ganz schön strampeln in seinem Gefährt.

  Bald sehen wir die ersten Kämme der Pyrenäen sogar wieder. Gestern hielten sie sich fast den ganzen Tag vor uns verborgen. Und siehe da! Heute sind sie grün statt weiß. Der Schnee ist geschmolzen. Jetzt sehen wir, soweit das Auge reicht, saftig grüne Hügel, auf denen einträchtig Schafe und Kühe mit Glocken um den Hals grasen. Insgesamt wirkt hier alles irgendwie voralpenländlich. Die einsamen Bauernhäuser, die hier stehen, sind allesamt blitzeweiß mit roten Dächern und roten Fensterläden, Treppengeländern etc. Erst nach einer ganzen Weile fällt Papa auf, dass die Flagge der Basken, in deren Region wir uns hier befinden, in den Farben rot, weiß und grün gehalten ist. Vielleicht zeigen damit die Menschen, die in diesen Häusern wohnen, dass sie stolze Basken sind.

Sira hat für sich ihre ganz eigenen Vorzüge dieser Tagesetappe entdeckt. Einen Großteil des Tages laufen wir über Wege, über die wohl vor kurzem Schafsherden getrieben wurden. Alles ist voll mit Kacke! Sira ist im siebten Honighimmel und beißt immer wieder herzhaft in die Hinterlassenschaften. Genüsslich kauend zieht sie dann weiter zum nächsten. Bah! Mir gibt die heute kein Küsschen mehr. Wie gut, dass wir letzte Woche noch entwurmt haben!

  Nach einiger Zeit des Marschierens auf (zumindest für mich und Sira) erfreulich wenig asphaltierten Straßen machen wir in Larribar-Sorhapuru an einem Picknicktisch Rast. Sofort kommt von einem benachbarten Haus eine junge, schwarzbraune große Hündin auf uns zugerannt. Ihre Körperhaltung sagt: " Ich will spielen!" Ihre Farbe sagt Sira und mir: "Ich bin der Feind!" Ich weiß, das ist blöd, aber es ist nunmal so! Sira beobachtet ihr Gegenüber mit Vorsicht, das Gegenüber ignoriert alle Warnzeichen von Sira und will immer wieder spielen. In einem Moment des Übermuts springt der Junghund auf Sira zu und hapst einmal in Richtung Siras Gesicht. Sira ist überrascht, quiekt und von da an ist alles vorbei. Feind ist Feind und braucht auch nicht näher zu kommen. Sira bellt, knurrt und fletscht fürchterlich die Zähne, sobald das trampelige Ungetüm sich nähert. Bald sind der Unbekannten die vorsichtigen Annäherungsversuche zu blöde und Sira ist vergessen. Sie hat eine neue Beschäftigung gefunden: Der Postbote ist da! Von jetzt an rennt das ungestüme Junghuhn dem Postauto hinterher. Wenn der Beamte an einem Haus aussteigt, rennt sie freudig um ihn herum, bis er wieder einsteigt. Man muss dazu sagen, dass die Häuser hier drei- bis vierhundert Meter auseinander liegen. Da legt sie schon einige gute Sprints hin!

  Für uns geht es weiter nach Uhart-Mixe, von wo aus wir wieder zwischen Kühen und Schafen hindurch zum Pyrenäen-Blick geführt werden. Es ist nicht zu glauben! Wir haben es tatsächlich zu Fuß bis in die Pyrenäen geschafft!

In Ostabat-Asme, wo drei Jakobswege (Via Podiensis, Via Lemovicensis und Via Turoniensis) schon seit dem Mittelalter zusammentreffen, machen wir unsere zweite Rast. Im Mittelalter konnten hier mehrere tausend Pilger beherbergt werden. Wo das denn?!? Hier stehen höchstens fünfzig Häuser! Naja, da hatte man es auch in kalten Nächten kuschelig.

Wir rasten, ganz passend, in einer Notunterkunft für Pilger. Zwei Stühle stehen hier und zwei Holzpritschen. Pappen stehen an der Wand, vielleicht für den dritten Pilger in Not. Zwischen den Brettern an der Wand sind handbreite Lücken, nur ein geringfügiger Sicht- und Kälteschutz. Ich erwische mich bei dem Gedanken: "Vielleicht bin ich morgen in St Jean froh um einen solchen Unterschlupf", denn in der Hinsicht sind wir nicht weitergekommen bisher.

  Bis zu unserem heutigen sicheren und warmen Bettchen im Hotel d'Espellet in Larceveau ist es nur noch ein Katzensprung. Man empfängt uns. Heute ist es mit dem Hund endlich mal wieder überhaupt kein Problem. Wir frönen genüsslich dem W-lan, ich koche ein köstliches Hühnernudelsüppchen für uns drei (Futter für Sira gibt's erst morgen in der großen Stadt) mit unserem Kocher auf dem Balkon und habe dann eine Eingabe: Wir haben doch Internet, also schaue ich einfach mal auf die Internetseite von Fritz, dem schwäbischen Hospitalero, der Papa den Wheely geliehen hat. Fritz hat seine Pilgerschaften auf seiner Homepage in allen Einzelheiten beschrieben, mit selbst ergänzten Google-Karten. Und Tadaaaaaa! Ich entdecke einen Campingplatz drei Kilometer vor St. Jean, der Mobile-Homes vermietet. Papa fackelt nicht lange, ruft an und reserviert einen. Nicht zu fassen! So einfach kann es gehen. Es stimmt schon, was die Leute sagen: "Auf dem Jakobsweg geht irgendwo immer ein Türchen auf!"

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Do

09

Mai

2013

Reinhard: Pilgerinnen und Pasteten

Von Sauvelade nach Bellevue, 28 km

Das hatte schon was von einer Campingnacht! Nur in diesem "Zelt" steht ein Bett und die Wände sind teilweise offen. Also praktisch haben wir draußen geschlafen, nur drei Schritte von einem großen Pool entfernt. Unsere Befürchtung, in der Nacht zu frieren, hat sich glücklicherweise nicht bewahrheitet. Ganz im Gegenteil: Unter den Bergen von angeforderten Decken ersticken wir fast und strampeln uns frei. Also, wenn alle zukünftigen Zeltnächte so erholsam werden, bin ich zufrieden.

Das Frühstück war für 7.30 Uhr vereinbart, eigentlich für uns eine halbe Stunde zu spät. Anni und ich packen aber Rucksack und Wheely fertig, damit wir unmittelbar danach sofort wegkommen. Hier haben wir jedoch die Rechnung ohne Gite-Wirtin Nadette gemacht. Sie redet viel und laut, rennt hierhin und dorthin, tut noch dies und das, nur das Frühstück bekommt sie nicht auf den Tisch. Unsere Pilgerbekanntschaft Janine, eine etwas ältere und drahtige kleine Französin, wird genauso ungeduldig wie wir, denn heute haben wir wieder einen strammen Tag vor uns. Irgendwann ist es dann endlich so weit und wir können uns die selbstgemachte Marmelade auf den Toast streichen. Der Preis dafür: Wir dürfen ein Trommelfeuer von einseitiger französischer Kommunikation über uns ergehen lassen, in einer Lautstärke, die wehtut. Bis sie bereit und in der Lage ist, uns die Rechnungen zu präsentieren, dauert es wieder ein Weilchen. Selbst Landsmännin Janine rollt mit den Augen, auch sie will los. Es ist bereits 8.45 Uhr, als wir uns von Nadette verabschieden, Küsschen links, Küsschen rechts. Ihr Pyrenäenhund Hermine sitzt auf der Straße und schaut traurig ihrer neuen Freundin Sira hinterher. Ein rührendes Bild!

Vom Wetter weiß ich anfangs nicht , was ich halten soll. In der Nacht hat es nicht mehr geregnet und erst sieht es noch ganz nett aus. T-Shirt und Zipp-Hose ist angesagt, aber langsam, ganz langsam wird es immer dunkler. Noch im Trockenen erreichen wir kurz vor Mittag die Altstadt von Navarrenx. Als wir uns der Kirche nähern, hören wir Orgelklang und Gesang. Heute ist Christi Himmelfahrt, auch in Frankreich ein hoher Feiertag, und der Gottesdienst läuft. Vor der offenen Kirchentür stehen draußen noch etliche Menschen, alle im feinsten Feiertagszwirn, und schauen andächtig ins Kircheninnere. Ist die Kirche überfüllt? Wie bei uns nur Heiligabend oder zur Konfirmation bzw. Kommunion? Oder will man nur näher dran sein an dem Geschehen, das sich nur wenige Schritte entfernt abspielt? Staunend erblicke ich nämlich auf dem Platz zwischen Kirche und Mairie eine Ansammlung von sauber geparkten Oldtimern. Umlagert von einer weiteren gehörigen Menschenmenge glänzen sie im saubersten Lack vor sich hin und lassen sich bestaunen. Während Anni sich auf eine Bank setzt, kurve ich mit meinem Wheely für eine Viertelstunde zwischen der Menschenansammlung hindurch. Immer mal wieder bin ich für den ein oder anderen in einem kurzen Moment sogar interessanter als die Oldtimer. Ein Mann in meinem Alter fragt mich sogar scherzhaft, ob mein Wheely ungefähr der Jahrgang der umstehenden Autos wäre. Kleiner Scherzkeks!

Während wir dem Treiben von einer Bank aus noch so zusehen, setzt sich ein weibliches Wesen zu uns. Etwas eigentümlich ist sie gekleidet, wie Aladdin aus Tausendundeiner Nacht, der mit der Wunderlampe. Sie fragt nach dem Woher und dem Wohin und wie das mit dem Hund so klappt, Fragen, die wir auf unserem Weg schon viele Male gehört und auch beantwortet haben. Anni gibt bereitwillig Auskunft und wir wollen gerade wieder aufbrechen und weiterziehen, als Aladdine uns fragt, ob wir einen Kaffee oder Tee haben möchten. Da man als Pilger ja nun mal sehen muss wie man durchkommt, nehmen wir das Angebot dankend an. "Es wird einen Moment dauern", sagt sie und entschwindet. Wir denken schon fast, sie kommt nicht mehr zurück, da sehen wir sie mit zwei Gläsern, offensichtlich heißen Inhalts, wieder nahen. Sie übergibt uns Kaffee und Tee und hockt sich auf den Boden. Jetzt ist es natürlich an uns nachzufragen, mit wem wir es zu tun haben. Auf deutsch erzählt sie uns, dass sie auch eine "Peregrina" (Pilgerin) ist, dass sie sich aber für ein lebenslanges Pilgern entschieden hat. In Vezelay in Frankreich hat sie im November letzten Jahres ihren Weg begonnen und ihn in Spanien auf dem Küsten-Camino fortgesetzt. Unterwegs ist sie krank geworden und hat einen Monat lang pausiert. Nach Ankunft in Santiago hat sie direkt andere Jakobswege unter die Füße genommen, die Via della Plata und den Camino Portuguese. Jetzt ist sie auf der Via Podiensis wieder auf dem Rückweg und aus körperlicher und geistiger Erschöpfung vor einer Woche hier in Navarrenx hängengeblieben. Insgesamt macht sie uns einen recht entrückten Eindruck. Anni und ich fragen uns, nachdem wir uns dann doch von ihr verabschiedet haben, was mit diesem Menschen vor Beginn seiner Pilgerschaft gewesen ist. Gab es ein besonderes Ereignis, das ihn zur Pilgerschaft gebracht hat? Was hat der Weg unterwegs mit ihm bzw. aus ihm gemacht? Was ist bei ihm so ganz anders als bei uns? 
Wird er tatsächlich und im wahrsten Sinne des Wortes auf seinem Weg bleiben oder irgendwann dann doch mal wieder ein "normales" Leben führen?

Es beginnt zu tröpfeln, als wir durch ein altes Stadttor Navarrenx verlassen - und aus Tropfen wird ergiebiger Dauerregen. Unter meinem Schirm stapfe ich stoisch die Straße entlang und beobachte, nicht ganz ohne Sorge, wie Anni und Sira vollkommen durchnässen. Ach Tochter, hättest du doch nicht deinen Schirm nach Hause geschickt oder würdest dir wenigstens deinen Poncho überwerfen... Sira schüttelt sich nur ab und zu, ansonsten trottet sie genauso stoisch ihren Weg hinunter wie ich. Ein richtiger Outdoor-Hund!

Eigentlich ist an eine Rast bei solchem Sauwetter nicht zu denken, aber Jakobus schickt uns zum richtigen Zeitpunkt einen Abri, einen Pilgerunterstand. Und dieser Pilgerunterstand ist kein normaler Pilgerunterstand. Er steht neben einer Fabrik, die kleine Pastetenkonserven herstellt. Und viele dieser kleinen Pastetenkonserven stehen aufgetürmt auf einem Tisch in dem Abri, zum verbilligten Pilgerpreis käuflich zu erwerben. Geld bitte in die Honor-Box! Anni will unbedingt eine Dose kaufen und während sie noch über die Sorte nachdenkt (Leberpastete von Gans, Reh, Wildschwein oder Hase, in Armagnac oder Rotwein, süß, sauer oder scharf), kommt der Besitzer der Firma aus seinem benachbarten Privathaus und berät sie. Mit einer Dose Rehpastete verlassen wir schließlich das Abri und gehen wieder hinaus in den Regen.

Und siehe da, wir sind noch nicht lange wieder unterwegs, hört der Regen auf. Nur um etwa zwei Kilometer vor dem Tagesziel erneut zuzuschlagen. Ganz zum Schluss müssen wir sogar noch über eine hüfthohe, klatschnasse Wiese. Danke, Jakobus, diese Taufe wäre nicht nötig gewesen!

In der Gite Bellevue, kurz vor Aroue, die Krönung: Sira darf nicht mit aufs Zimmer. Verdammte Sch...! Doch es fügt sich. Wir bekommen ein Zimmer durch den Hintereingang zugewiesen, mit eigener Dusche und Kochecke. Sira darf zwar nicht mit aufs Zimmer, sondern muss auf dem Flur bleiben, es hat aber niemand gesagt, dass wir die Tür zwischen Zimmer und Flur schließen müssen. Also bleibt die Tür auf und unsere liebe Pilgerfreundin bleibt brav in der Türöffnung auf ihrer dicken Matte liegen - und schläft.

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Mi

08

Mai

2013

Annika: Wir werden doch wohl nicht eine Nacht obdachlos sein?!?

Von Pomps nach Sauvelade, 24 km

Das war ja mal abenteuerlich! In unserer Turnhalle verbringen nicht nur wir die Nacht, sondern auch ein Schwarm Vögel. Als wir uns abends häuslich einrichten, herrscht ein Gezwitscher und Geflatter über unseren Köpfen. Wir fürchten noch, in der Nacht vor lauter Vogelzirkus nicht schlafen zu können. Bei Einbruch der Nacht werden wir eines Besseren belehrt: Ruhe kehrt ein. Erst am nächsten Morgen erwacht das muntere Trüppchen wieder zum Leben, quasi zeitgleich mit meinem Wecker.

Weniger freundlich gesinnt ist uns aber die Turnhallenbeleuchtung. Sie lässt sich nirgendwo ausschalten. Selbst der Sicherungskasten ist uns keine Hilfe. Also schlafen wir bei Festbeleuchtung. Sira ist davon so irritiert, dass sie mehrmals nachts ein paar Runden durch die Turnhalle dreht.

Bald verlassen wir Pomps und laufen wieder mal über Teerstraßen und durch endlose Felder und Äcker. Wieder mal ist es irgendwie heiß. Mehrmals versuche ich, Sira zum Trinken zu animieren, was nur mäßig Erfolg hat. Dann muss Papa ran. Mit begeistertem tiefkehligem "Hmmmm!"- und "Ooooohh!"-Rufen rührt er in der Wasserschüssel rum. Lustigerweise trinkt Sira dann immer sofort. Vielleicht braucht sie nur grundsätzlich jemanden, der sich für sie zum Deppen macht.

  Im nächsten größeren Ort, Arthez-de-Bearn, machen wir Pause. Wir sind froh, als wir einen kleinen Snackstop mit Mini-Einkaufsmöglichkeit finden, der heute geöffnet hat, denn es ist der 8. Mai, Tag des Sieges der Franzosen über die Deutschen im zweiten Weltkrieg. Die Frau im Snackstop erzählt, sie sei die einzig offene Epicerie im Ort, wegen dem Feiertag. Wir bestellen uns ein Baguette und Getränke und rasten in der Sonne. Die gesamte Energie unserer Pause widmen wir der verzweifelten Suche nach einem Schlafplatz in St.-Jean-Pied-de-Port. Seit Tagen versuchen wir nun schon, drei Betten zu bekommen für Samstag, mit Hund. Da Veronika ab Samstag wieder mit von der Partie ist, sind wir zu dritt. Mit dem Hund lässt sich kaum eine Unterkunft finden. Und wenn, dann sind sie ausgebucht. Es ist schließlich Samstag, und dann auch noch public holiday! Auch über Touri-Info und Pilgerhilfe ist nichts zu machen. Man rät uns, am Samstag einfach persönlich die einzelnen Institutionen abzuklappern. Das sagen die so... Und wenn wir dann auch nichts kriegen? Wo schlafen wir, wenn es wirklich keine Unterkunft für uns gibt? Ach, hätte ich doch nur mein Zelt! Oder wenigstens Isomatte und Schlafsack. Aber so habe ich einfach nur ganz existenzielle Angst. Vielleicht ist es ja wirklich so, wie Papa sagt, und der gute Jakobus wird uns am Samstag irgendein Türchen öffnen. Ich hoffe es!

  Bei der Frau im Snackstop kaufen wir noch überteuerte Milch und Kekse, da sie schließlich der einzige offene Laden ist. Wir verabschieden uns, gehen um die Ecke - und hundert Meter weiter stehen wir  vor einem betriebsamen  Supermarkt. Was war das denn für eine Nummer?!? Da wollte die Frau vom Imbiss wohl Geschäfte machen.

  Nach weiteren hundert Metern eine Menschenansammlung. Männer in Uniform salutieren vorm Kriegerdenkmal. Die Feuerwehr steht auch stramm. Aus Lautsprechern dröhnt die französische Nationalhymne. Ein Blumenkranz wird niedergelegt. Vive la France!

Nach weiteren zwei Stunden Marsch ist schon wieder Pausenzeit. Und der Himmel zieht sich langsam zu. Die ersten Tröpfchen fallen. Nicht nur der Himmel, sondern auch unsere Stimmung verdüstert sich so langsam. Auch weiterhin lässt sich kein Unterschlupf in St.-Jean finden.

  Als wir zum letzten Drittel aufbrechen, laufen wir geradewegs in den Dauerniesel, der uns auch bis zur Gite begleitet. Das  hab ich ja am Liebsten! Feierabend-Regen! Damit auch ja jeder was vom Hundearoma hat!

  Naja, hilft ja nix. Als ich endlich richtig nass bin, erreichen wir unsere "Gite Nadette" hinter Sauvelade. Und siehe da! Unsere Japanerin ist auch da! Als erstes werden wir allerdings von kräftigem Hundegebell begrüßt. Hermine, eine einjährige, riesige, aber freundlich-verspielte Pyrenäenhündin nimmt erst Sira in Augenschein und dann uns. Sira hat es ja nicht so  richtig mit Junghunden. Vor allem, wenn die dann noch solche Kolosse sind! Nachdem sie sich vom ersten Herzklabaster erholt hat, kommt auch schon Nadette, die Gite-Besitzerin, herausgewirbelt. In einer extrem hektischen und lauten Mischung aus Französisch und Englisch heißt sie uns willkommen und fragt zur Sicherheit noch einmal: Mit dem Hund oder im schönen Zimmer? Meine Antwort ist klar: Hund! Sie nickt, halb verständnislos, halb bewundernd und führt uns in einen Holzverschlag mit Schiebetüren, die man rundherum aufziehen kann. In der Hütte stehen ein Doppelbett, eine Sonnenliege und eine Bank. Ich glaube, das hier ist das Winterlager für die Poolmöbel. Zwischen Wand und Dach befindet sich ein offener Spalt, ein Dreieck von circa 60 cm Höhe. In den Ecken, wo die Schiebetüren sich überschneiden (oder eben nicht), ist ein 15 cm breiter offener Streifen, durch den Sira so gerade eben nicht durchpasst. Dafür dient er ihr prima als Fensterersatz. Kaum nehmen wir unser Kämmerlein in Augenschein, springt auch schon Hermine an uns vorbei, dicht gefolgt von Sira. Und dabei muss man sagen, dass man sich hier schon alleine kaum um die eigene Achse drehen kann aus Platzmangel. Mit diesen beiden Riesenkamelen grenzt das an einen akrobatischen Akt.

  Mir reicht's! Sira kommt erstmal im Garten an die Schleppleine, damit wir uns einrichten können. Die nächste halbe Stunde rennen die zwei hin und her, jagen sich, fliegen übereinander und freuen sich. Sira hat danach überall weiße Fellbüschel hängen, im Maul, an den Pfoten, an der Leine. Bäh, da soll nochmal einer sagen, die Sira haart!

Nadette platziert auf der Gartenliege ein altes Laken, für Sira. Haha, da kenn ich meinen Hund aber besser! Die legt sich im Leben nicht auf ein nachgiebiges Rattanding. Als Nadette weg ist, verrücke ich alle Möbel, damit Sira den beste Platz kriegt. Wie immer!

  Als wir zum Essen gehen, passt Sira das gar nicht. Sie jault und bellt, was das Zeug hält. Übertönt wird sie allerdings von Nadette, die wieder mal in drei Sprachen und sehr lautstark redet, aufsteht, rumwuselt, jeden unterbricht und nebenbei noch Essen serviert. Janine, der vierte und französische Übernachtungsgast, ordnet sie ein als: "The lady is very special!" Recht hat sie!

  So langsam befürchte ich, dass ich in unserem Kabuff heute Nacht tierisch frieren werde. Nadette ist so nett, uns eine weitere, unendlich schwere Decke zu geben und mir macht sie noch eine Wärmflasche. Hoooooohooho.... Wie zu Hause! Da werden Heimatgefühle wach. Hoffentlich rettet sie mich in der Nacht!

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Di

07

Mai

2013

Annika: Andere Länder, andere Sitten!

Von Pimbo nach Pomps, 26 km

  Als die Japanerin gestern Abend ihr Bett richtet, schaue ich ihr irritiert zu. Als Laken dient  ihr etwas, was aussieht wie ein dickes Stück Papier. Darauf legt sie ihren Schlafsack, mit der Unterseite auf dem Kopfkissen. Sie schlüpft in ihren Schlafsack und schläft. Hm, schläft man so in Japan? Interessant...

Bei meiner abendlichen Gassirunde mit Sira ist es draußen sehr stürmisch. Der Wind fegt uns bald von der Straße. Das lässt ja die Hoffnungen für den nächsten Tag nicht wirklich aufblühen...

Ich bin froh, als ich danach in meinen Schlafsack schlüpfen kann. Plötzlich überkommt mich aber ein fürchterlicher Juckreiz am ganzen Körper. Mückenstiche? Nein, zu breitflächig. Schlafläuse? Ich denke nicht! Bettwanzen? Gott bewahre, bitte nicht! Ich stelle mir gerade bildlich vor, wie ich von tausenden Krabbelviechern eingenommen werde, als ich einschlafe. Am nächsten Morgen juckt mich nichts mehr. Was auch immer das war, jetzt ist es auf jeden Fall erstmal weg.

Unser französischer Mitbewohner ist zwar bei Weitem nicht so isoliert wie unsere Japanerin, führt aber mindestens genauso kontinuierlich Selbstgespräche. Den ganzen Morgen ist er damit beschäftigt. Sind wir auch so?!?

Nach dem Frühstück verlassen wir, wie immer so gegen acht Uhr unsere Unterkunft. Es regnet. Na toll! Wenigstens ist es warm dabei. Fast tropisch. Und wieder mal werden bei mir Erinnerungen an Sambia wach, speziell an die Regenzeit. Das waren noch Zeiten...

  Papa hat auch auf sehr sambische Weise die abgelöste Schnalle seines Wheelys geflickt: mit einem Schnürsenkel. Damit ist das Ganze jetzt zumindest vorerst fixiert und löst sich nicht weiter ab. Damit kommen wir hoffentlich bis zu der nächsten helfenden Hand, die uns das Ganze wieder fachmännisch befestigt.

  Der Regen begleitet uns die erste halbe Stunde, dann können wir uns endlich aus unseren Jacken schälen. Damit ist mir wirklich zu heiß! Wir steigen von Pimbo aus erst den Hügel hinab und laufen dann immer weiter durch große Ackerflächen. Der Weg ist äußerst Wheely-freundlich, nämlich asphaltiert. Für mich nicht das schönste Stück Weg bisher. Außerdem bin ich schon wieder unzufrieden. Auf Siras Kopf und am Hals bilden sich wieder große, tiefrote Blutflecken. Ihre Ohrwunden sind mal wieder auf, tiefer und blutender als sonst. Das bedeutet, wir sind wieder einen bis zwei Tage weiter von einer Heilung entfernt, weil sie sich zu ausgiebig geschüttelt hat. Manchmal frustriert das echt. Ich bin gespannt, ob die Wunden es schaffen, zuzuheilen, bevor wir wieder heimkommen.

Nach Arzacq-Arraziguet erreichen wir einen See. Rundherum wurden nur wenige Häuser gebaut. Eigentlich komisch, ist doch eine schöne Lage... Bald glaube ich zu wissen, warum der See so dünn besiedelt ist. Ein ohrenbetäubendes Froschkonzert wird eröffnet. Dabei kann man nachts wahrscheinlich trotz doppelt isolierter Fenster und Ohropax nicht schlafen!

  Im nächsten Dorf passieren wir einen eigenartig geschmückten Baum. In einer Nische stehen eine Jakobus- und eine Marienstatue, davor ist ein Kerzenständer angebracht. Umringt wird das Ganze von Wimpeln mit persönlichen guten Wünschen von "Mama" und "Pierre", von Rosenkränzen, einer Eichhörnchenskulptur, zwei Einlegesohlen, einem Fahrradreflektor und Briefchen, die in die Baumritzen geklemmt wurden. Was ist das? Ein Schrein, den vorbeikommende Pilger errichtet haben? Vielleicht... Hinter dem Baum befindet sich ein eingezäuntes Grundstück, auf dem notdürftig aus großen Steinen ein Tisch und zwei Bänke zusammengeschustert wurden. Das Ganze ist dekoriert mit Jakobsmuscheln. Sieht aus wie der perfekte Platz für uns! Wir lassen uns nieder und Sira wird von der Leine gelassen. Sie bewegt sich wie in Zeitlupe und hat nichts besseres zu tun als Mäuse und Maulwürfe zu erschnuppern und auszubuddeln. Sie versucht es wenigstens. Leider bin ich immer wieder schnell genug, um sie von ihrem Lieblingshobby abzuhalten. Geht doch nicht, bei diesem schönen englischen Rasen!

Nach der Pause ziehen wir über wenige weitere Dörfer und über wenig spektakuläre Teerstraßen dahin. Papa und sein Wheely freuen sich, das Zweiergespann Sira-Annika ist allerdings not very amused. Das muss ich jetzt auch nicht ewig haben, dass wir wegen der Karre nur noch Teerstraßen laufen...

  Die Sonne gräbt sich weiter und weiter in meine Oberarme, als es in Lareulle Zeit ist für eine zweite Pause. Wir folgen den Schildern zu einer Art Cafe mit heißen und kalten Getränken und Snacks. Zwei Hütehunde begrüßen uns gleich mit freudig-vorsichtig-zurückhaltender Art. Wenn Sira knurrt, legen sie sich sofort schelmisch guckend hin. Lustig und problemlos zugleich. Wir gesellen uns an einen großen Tisch mit einem Schweizer Paar, das auch zu Hause gestartet ist und vier Norwegern, die nur drei Wochen unterwegs sind. Einer von ihnen trägt allein 17 kg an Klamotten. Wahnsinn, soviel besitze ich wahrscheinlich nicht mal zu Hause in meinem Kleiderschrank!

Auf den letzten Kilometern vor Pomps, dem Ziel des Tages, holen wir wieder einen Teil des Trüppchens aus dem Elsass ein. Wie so oft werden wir gefragt, ob wir verheiratet sind. Hallo? Spricht das jetzt für den Papa oder gegen mich?!? Denken die, jetzt muss der alte Mann dem jungen Ding nochmal beweisen, was er kann und deswegen schleppt sie ihn über diesen Weg? Pah! Wenn das so wäre, würde ich mir viel bessere Sachen einfallen lassen...

  In Pomps ist die Gite Communal schnell gefunden. Über eine Art Bolzplatz gelangen wir zu einer Turnhalle, an die eine Küche angeschlossen ist. Krawall dringt aus der Turnhalle. Ich glaube, das ist das, wasmanbeiuns in den Schulen Nachmittagsbetreuung nennt. Basketball ist angesagt. Als man uns sieht, schreit ein circa Siebenjähriger: "Pelerin, Pelerin!" und rennt zur Küche. Eine ältere Dame mit Übergewicht und schlechten Zähnen weist uns zwei Betten am Rande der Turnhalle zu. Cool, mal was anderes. Im eigentlichen Schlafsaal dürfen wir nicht schlafen, wegen dem Hund. Das ist aber nicht unbedingt das Schlechteste. Während in der Massenunterkunft die kleine Japanerin, die zwei Schweizer, die vier Norweger, vier Franzosen und ein weiterer Deutscher heute Nacht vermutlich eine meisterhafte Nachtmelodie abliefern werden, haben wir die Turnhalle ganz für uns allein!

  Zum Abendessen gibt es mal wieder Nudeln in Suppe gekocht, diesmal mit einer lieblos draufgeklatschten Scheibe Gouda verfeinert. Alle anderen haben Halbpension gebucht. Als wir uns unser Süppchen schmecken lassen, kommt die Schweizerin zu mir und fragt, ob sie meinem Hund die Innereien-Würstchen geben dürfte, die Teil ihres Abendessens waren. Na klar doch! Also ich muss ja sagen, ich bin, was Essen angeht, ziemlich hart im Nehmen, aber diese Wurst riecht wirklich wie der eklige Pansen, den ich Sira manchmal zu Hause gebe. Dem Hund schmeckts, also landen auch noch weitere fünf Würste im Napf. Ein Festmahl für Sira!

  Da muss ich doch zusammenfassen: Privatsuite für 5€ pP, gutes Essen für einen Euro; wieder alles richtig gemacht!

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Mo

06

Mai

2013

Annika: Da waren's nur noch drei!

Von Aire sur l'Adour nach Pimbo, 26 km

Endlich eine Nacht, in der ich nicht friere! Unser kleines Zimmer heizt sich, glaube ich, schneller auf als Johans und Nannis Zelt.

Bei unserem letzten gemeinsamen Frühstück sitzen auch die stets um unser Wohl besorgten Herbergseltern. Odile lächelt und nickt uns die ganze Zeit freundlich zu. Als wir gehen, stehen beide noch in der Tür und winken, bis wir aus dem Blickfeld verschwinden. Ich fühle mich wie ein Kind am ersten Schultag. Odile ist einfach wie eine Mami.

Wir verabschieden uns nach einer tollen Woche von Johan und Nanni, denn die zwei wollen noch eben nach St-Jean-Pied-de-port trampen, um die Pyrenäen überqueren zu können. Meine Güte, so spontan werd ich nie mehr werden. Ich bin dann doch mehr der Typ, der lieber heute weiß, wo er morgen schläft. Aber jedem das Seine. Nach einer herzlichen Umarmung laufen wir in verschiedene Richtungen und sind bald wieder unter uns.

Die Sonne gibt schon jetzt alles. Es dauert keine halbe Stunde, da muss ich mein Fleece abschmeißen, Papa hat es sich direkt gespart.

Durch typische Vorstadtgebiete laufen wir gen Süden. Ich hätte gar nicht gedacht, dass Aire sur l'Adour so groß ist!

Wir gelangen an den Lac du Broussau, einen großen See mit zugehörigem Naturschutzgebiet. Irgendwie sieht es hier aus wie bei meine Omma in Resse am Ewaldsee. Das find ich gut! Hier gefällt's mir. Mehrere Gruppen von Anglern gehen hier in der Frühe ihrem Hobby nach. Das wäre ja nichts für mich... Nur so rumsitzen und warten, bis ein Fischlein blöd genug ist... Hm, vielleicht hab ich aber auch den tieferen Sinn des Angelns einfach nicht verstanden. Ich wander lieber...

Der See hat auch für Papa die eine oder andere Tücke parat: Wir müssen ab und an durch Matsch, den Vorläufer mit dicken Baumscheiben oder Ästen ausgelegt haben. Für Fußgänger ist das ja nett. Mit einer Karre muss man aber ganz schön darüberrumpeln. Papa trägt's mit Fassung und Körpereinsatz. Auch die nächste steile Steigung meistert er gekonnt. Eine gute Einstimmung für die Pyrenäen. Papa schlägt sich immer besser mit seinem Wheely. Man kann sagen, es tritt eine gewisse Gewöhnung ein. Auch an sein leises Geklapper und Geschepper. Genauso haben wir uns inzwischen an das kontinuierliche "Klack!" meines Pilgerstabes gewöhnt. Die Hände tun auch schon fast nicht mehr weh und ich werde inzwischen ziemlich akrobatisch beim Multitasking mit Handy, Hund, Stock, Wasserflasche und entgegenkommende Autos. Anscheinend bin ich inzwischen so sehr ans Geklapper gewöhnt, dass mir noch nicht mal auffällt, wenn es NICHT mehr da ist. Gestern wäre es fast soweit gewesen, dass ich meinen Stab nach einer Pause hätte stehen lassen. Papa hat mich gerettet und mir meine Waffe hinterher getragen.

Als wir den See eine Weile hinter uns gelassen haben, ist es bald soweit: Wir können den ersten Blick auf die Pyrenäen werfen! Schneebedeckt, majestätisch und in der Sonne glänzend liegen sie in der Ferne vor uns. Soweit sind wir gelaufen und jetzt sind nur noch sie zwischen uns und dem "Camino Frances", DEM Jakobsweg und DER Pilgerroute. Boa, ein Wahnsinnsgefühl!

Vor den weißen Bergen sieht man nichts als braune Ackerlandschaften. Felder soweit das Auge reicht. Auf den Äckern drehen Traktoren ihre endlosen Bahnen. Ob das für die Landwirte hinterm Steuer so etwas Meditatives hat wie Mandalas malen?

Als wir gefühlte zehn Kilometer (reelle vier) an endlosen Feldern entlangmarschiert sind, entscheiden wir uns für eine Pause im Halbschatten. Nach einer Weile fühlen wir uns wie auf dem Volkswandertag. Circa zwanzig Leute laufen in Zweiergruppen an uns vorbei und grüßen. Was ist denn hier los?

Sira hat nach der Pause ihre helle Freude bei der Pilgerhatz. Als wir zwei von ihnen einholen, erzählen sie uns, sie seien aus dem Elsass mit einer Zwanzigergruppe angereist. Da lagen wir mit unserer Vermutung ja gar nicht so schlecht.

Wir laufen weiter durch die brennende Sonne, dank Papas Wheely größtenteils über Teerstraßen.

Unsere zweite Pause machen wir in Miramont-Sensacq (wer denkt sich eigentlich diese komplizierten Namen aus?). Am herrlich kühlen Trinkwasserbrunnen wasche ich erstmal meine Füße und wässere meinen Kopf. Das ist herrlich und fürchterlich zur gleichen Zeit. Ich versuche, Sira zu einer Pause im Schatten zu überreden. Gar nicht so leicht. Die griechische Göttin ist eben eine Sonnenanbeterin. Immer wieder sucht sie sich einen Schlafplatz in der brennenden Sonne. Da muss die Mama es tatsächlich mal besser wissen. Ich nötige sie wieder in den Schatten. Ein Mann kommt und begrüßt uns. Er ist der Priester des Dorfes. Er wünscht uns einen guten Weg, tätschelt den Hund und verschwindet wieder. Der hätte uns mal lieber nen Kaffee oder ne Cola bringen können... Nagut, müssen wir halt an unsere beachtlichen Vorräte halten. Ist sowieso besser, dann hat Papa nicht mehr so viel zu ziehen...

Als wir weitergehen, hat Papa schon das erste Problem mit seinem Wheely: Eine der angenähten Schnallen, die das Geschirr am Wagen halten, löst sich so langsam. Noch ist sie nicht ganz ab, aber es sieht so aus, als würde das nicht mehr lang auf sich warten lassen.

Am nächsten Pferdehof, den wir passieren, nutzt Papa die Chance und fragt, ob man ihm helfen kann. Man schickt ihn weiter zum Schuster in der nächsten Stadt. Gut, bis dahin dauert es noch einen Tag, also sitzen wir das Ganze einfach aus. Papa hält die Schnalle von jetzt an vorsichtshalber fest.

Durch die brennende Sonne laufen wir weiter nach Pimbo. Immer wieder bekommt der Hund eine Schüssel voll Wasser. Ich frage mich ein bisschen besorgt, ob Sira der spanischen Hitze gewachsen ist. Wir werden sehen. Aber bei so einem Wetter freue ich mich ganz schön aufs Zelten!

In Pimbo laufen wir direkt auf das gut besuchte Pilger-Accieul zu. Mehrere Pilger sitzen davor, auch ein Mann mit Hund. Ein schönes Tier! Eine Art Collie, denke ich. Ich befürchte, wir sind in der gleichen Herberge und frage mich schon, wie das wohl wird, da schultert der Mann seinen Rucksack, verabschiedet sich und zieht weiter. Puh, nochmal Glück gehabt. Die nette Dame vom Accieul gibt dem Hund erst Wasser und zeigt uns dann die Gite Communal, mit einem Schlafsaal voller moderner Bundeswehrpritschen. Ganz schöner Seegang!

Unsere Herberge teilen wir uns mal wieder mit der kleinen Japanerin von letzter Nacht. Irgendwie werde ich aus ihr nicht schlau. Dieser kleine zierliche Mensch trägt einen Rucksack, der beinah so groß und schwer ist wie sie selbst. Trotzdem hat sie einen energischen Schritt drauf, der ihren gesamten Körper in Anspruch nimmt. Am Ende des Tages humpelt oder stöhnt sie nicht wegen Blasen oder anderen Wehwehchen. Sie lächelt und nickt immer nur. Genauso wie ich mir eine elitär erzogene Japanerin vorstelle. Ich frage mich, was für sie den Reiz am Jakobsweg ausmacht. Sie ist sprachlich völlig isoliert, und ich glaube nicht, dass sie hier sehr viele ihresgleichen findet. Kein Wunder, dass sie andauernd Selbstgespräche führt.

Papa hat mal wieder zu seiner eigenen Überraschung mit Halbpension gebucht. Wir richten uns fast schon wieder auf ein Gelage mit Wein und Dreigängemenü ein und wundern uns schon etwas über den Preis von insgesamt 15 Euro (Bett und Essen), da bringt die gute Frau vom Accieul uns eine Tüte Nudeln, ein Glas Tomatensauce, drei Döschen mit Apfelmus, drei Babybel und drei kleine Baguettes. Kochen müssen wir selbst. Fürs Frühstück sind Kaffee, Tee, Marmelade, Butter und Milch bereits vorhanden. Na gut, dann ist der Preis verständlich. Dafür hat Papa wenigstens viel Zeit zum Schreiben, wenn das Essen schnell abgehandelt ist.

Außer mit der Japanerin teilen wir unsere Herberge noch mit einem Franzosen, der nur wenig englisch spricht, sich aber doch alle Mühe gibt, gemeinsam mit uns zu kochen, zu essen und zu spülen. So richtig kommt das Gespräch nicht in Gange...

Da sind mir doch englisch- oder deutschsprachige Mitbewohner lieber!

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So

05

Mai

2013

Reinhard: Kuchen im Gepäck

Von Monneton nach Aire sur l'Adour, 32 km

Der Wein der Region ist mir gut bekommen. Ohne jedes Problem kann ich aufstehen, als Anni mich um kurz nach 6 Uhr wachrüttelt und Sira mir zum Guten-Morgen-Gruß übers Ohr leckt. Keine Kopfschmerzen, keine Gleichgewichtsprobleme, kein Nachdurst - es kann weitergehen.

Unten in der Pilgerküche trifft sich die Pilgergilde so nach und nach zum Frühstück und - wie am Abend zuvor beim Rotwein versprochen - steht der Herr des Hauses zum Abschied vor der Tür und wünscht uns allen ein "Bon route!" Das war ein Haus zum Wohlfühlen - wieder mal.

Auf der Hauptstraße geht es nach Nogaro. Kaum im Ort angekommen, verschwinden Nanni und Johan in einer Boulangerie. Heraus kommen sie wieder mit etwas, das aussieht, wie eine flache Pizzaschachtel. Drinnen verbirgt sich aber ein Kuchen, den die Beiden heute zum Anlass des letzten gemeinsamen Pilgertages mit uns irgendwo unterwegs vernaschen
wollen. Eine ausgesprochen gute Idee! Nur der Transport einer solchen "Kuchenplatte" wirft Fragen auf. Ein Blick auf mein Wheely gibt schnell die Antwort. "So'n kleiner Kuchen passt da ja wohl auch noch drauf!" Kaum gedacht, schon klemmt er unterm Spanngurt.

Von da an fahre ich Kuchen durch die Kernlandschaft des Armagnac, der Heimat der drei Musketiere. Ich sehe sie förmlich über die Felder und durch die Weinhänge reiten und gegen die Feinde Frankreichs kämpfen. Und wenn sie denn siegreich sind, striegeln sie ihre Pferde oder liegen in den Armen schöner Frauen. Ich aber fahre mit einem Wheely KUCHEN durch ihre Heimat!

Bei wieder mal herrlichem Sonnenschein schlängeln wir uns durchs Land. Das frische grüne Weinlaub an den Rebstöcken entlang des Weges erinnert mich an die Weinhänge in Burgund, die damals noch weit von diesem Entwicklungsstand entfernt waren. Wie lang ist das eigentlich schon her? Der Kuckuck ist immer noch bei uns. Jeden Morgen grüßt er uns mit seinem Ruf, und wenn es dann doch mal Nachmittag wird, hat er wahrscheinlich nur verschlafen.

In Lanne-Soubiran, direkt bei einem kleinen Bauernhof, ist es dann endlich so weit. Die Bäuerin, die gerade Wäsche im Garten aufhängt, erlaubt uns, eine auf ihrem Grundstück liegende Terrasse zu benutzen, und wir werfen uns in die Plastikstühle. Es ist Mittagszeit und damit die beste Zeit, Apfelkuchen zu essen. Nanni schneidet ihn in gerechte Stücke auf, und damit er in der Sonne nicht zu warm wird, ist er ruckzuck in unseren Mägen verschwunden.

Kuchen gibt es heute auch in Lelin, einem Dorf etwa acht Kilometer weiter. In Lelin ist Gemeindefest. Hier gibt es nicht nur Kuchen, sondern auch Trödel jeder Art. Wir setzen uns in eine schattige Ecke und schauen dem Trödeltreiben zu. Eigentlich warte ich ja nur darauf, dass es einem meiner jungen Mitpilger einfällt, etwas Wunderschönes, ganz Seltenes, Schon-immer-gesuchtes aus der Trödel-Auswahl zu erwerben. Platz genug zum Transportieren hätte ich auf meinem Wheely ja noch. Aber erstaunlicherweise kommt keine(r) auf die Idee. So ziehen wir dann nach einer Dreiviertelstunde weiter.

Der Rest des Weges wird schon fast eine Hitzeschlacht. Immer wieder bekommt Sira von Anni Wasser in ihre Schüssel geschüttet und säuft gierig. Flach und gerade laufen wir zwei Stunden ohne Schatten durch die Sonne und sind froh, als wir endlich in Aire-sur-l'Adour einlaufen.

In der Gite Hospitalet St-Jacques begrüßt uns Herbergsvater Andre mit festem Händedruck und einer Kanne heißem Tee. Als er etwas von meiner schmerzenden Schulter mitbekommt, wird er physiotherapeutisch tätig. Er legt mir eine Hand auf den täglich nervenden Schultermuskel und stellt sofort eine Verspannung fest. Nach seiner Aufforderung, meine Hände über dem Kopf zu falten, umfängt dieser Schrank von einem Mann mich mit seinen Armen, quetscht mich erbarmungslos zusammen, dass mir fast der Atem wegbleibt, hebt mich zehn Zentimeter vom Boden ab und schüttelt mich. Es knackt irgendwo in meinem Inneren und Andre stellt mich zufrieden grunzend wieder auf den Boden. Wir beide meinen, ich wäre geheilt.

Danach zeigt uns Andre unser Zimmer, Nanni und Johan bekommen die Erlaubnis, im Garten zu zelten. Zum Abendessen treffen wir uns alle gemeinsam am großen Tisch und Andre und seine Frau Odile singen uns das Pilgerlied "Ultreia" vor. Ich denke, wir werden es in Spanien noch öfter hören. Das ersten Mal wird am Tisch, von Andre angeregt, gemeinsam gebetet. Auch das wird nicht das letzte Mal gewesen sein.
 

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Sa

04

Mai

2013

Reinhard: Ein Esel auf zwei Rädern

Von Lamothe nach Monneton, 28 km

In meinem Blogeintrag von gestern abend habe ich versprochen, heute von vorgestern zu berichten. Ob mir das jetzt gelingt, weiß ich nicht. Au Mann, ob ich das jemals nachgeholt bekomme ... ?

Dabei habe ich von einer Granaten-Neuigkeit zu berichten! Ich bin ab sofort mit einem "Wheely" unterwegs. Wheely ist nun kein neu kennengelernter Pilgerfreund, sondern eine Art künstlicher Packesel. Nur dass dabei nicht ein Esel eingeschirrt wird, sondern ich. Ja, ja, ich weiß, jetzt kommen wieder die Sprüche "Also doch ein Esel ...!" Oder sagen wir mal so: Wo beim Trabrennen der Fahrer im Sulky sitzt, ist bei einem Wheely ein Gepäcksack fest angebracht - und das Pferd bin ich. Und wo das Pferd vier Beine hat, hat das Wheely zwei Räder mit Vollgummireifen. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?

  Wir sind nun auf dem Weg nicht nur die Deutschen mit dem Hund, sondern ab jetzt die Deutschen mit dem Hund UND dem Wheely. Und das kam so: Bei Fritz im Aufenthaltsraum läuft über seinen PC in Endlosschleife eine Diashow über seine Camino-Pilgerwanderungen. Auf einem Bild entdeckt Anni ihn mit seinem Hund und eben seinem Wheely und erfährt dabei, dass Fritz alle seine Caminos damit bestritten hat. Fritz seinerseits weiß inzwischen, dass wir bald, ab Pamplona in Spanien, mit (noch) mehr Gepäck pilgern werden. Die Zeltausrüstung ist mal wieder per Post unterwegs und ab Pamplona werden wir sie auch einsetzen müssen. Ich weiß nicht warum. Ist es nur die Tatsache, dass wir Landsleute sind oder  beeindruckt es ihn, dass wir schon so lange auf dem Weg sind und sogar bis Santiago durchgehen wollen oder weil wir einfach nur so umwerfend sympatisch sind, jedenfalls macht er Anni das Angebot: "Wenn du willst, leihe ich dir meinen Wagen für den Rest aus. Ihr bringt ihn zurück, wenn ihr mit deinem Bruder auf der Rückreise seid". (Zur Info: Sohn Sebastian macht mit Freundin Rundreiseurlaub in Spanien und holt uns am Kap Finisterre ab. Herrlich, oder?) Diesen Satz bekomme ich mit und bin elektrisiert. Ich habe zwar keine Ahnung, wie man sich damit über Stock und Stein fortbewegt, aber ich kann mir vorstellen, dass sich damit zwei Probleme lösen ließen: Das zusätzliche Gepäck wäre einfacher transportierbar und meine immer mehr schmerzende Schulter würde entlastet. Anni, Nanni und Johan empfehlen mir, das Angebot anzunehmen. Ich signalisiere vorsichtig Interesse. Sofort schleppt mich Fritz mit auf seinen Speicher, wo das Wheely vor sich hin dämmert. Er schnallt ihn sich um und stellt sich in Positur. "Und?" fragt er und schaut mich dabei schelmisch an. Ich lasse mir noch ein paar Handgriffe erklären, dann willige ich in den Handel ein. Ich bin nicht immer ein Freund von solch schnellen Entschlüssen, aber hier kann ich nicht nein sagen. Fritz und ich schaffen gemeinsam meinen neuen Begleiter die enge Speichertreppe hinunter und ich beginne sofort mit dem Umpacken. Alles raus aus dem Rucksack und rein in die große Tasche des Wheely, Rucksack auf den Speicher. Einen kleinen Tagesrucksack bekomme ich von Fritz noch obendrauf. Etwas später als gedacht, dafür aber in einem neuen Erscheinungsbild, machen wir uns auf die Socken bzw. auf die Räder.

Es geht sich anders! Bei ebener Strecke oder bergab auf Teer - wie ohne Rucksack. Auf Schotter und über Baumwurzeln - ein Rumpeln und Rappeln. Bergauf und durch Schlamm - dann sitzt der Teufel hinten drauf und lacht sich schlapp. Am schönsten sind die engen Schlammpfade, wo man sich mit Rucksack schon immer bemüht, unfallfrei am Rand durchzukommen. Jetzt KANN ich meist gar nicht mehr am Rand gehen, sondern wate mit der Karre direkt mitten durch den Brei. Unterm Strich aber ist Wheely schon jetzt eine Erleichterung.

Es sei denn, Anni geht groß einkaufen, wie zwei Stunden nach dem Start in Eauze! Wir haben kaum noch was an Vorräten, außerdem steht wieder ein Wochenende vor der Tür, und wer weiß, wann wir nochmal so preiswert einkaufen können - und dann auch noch bei LIDL. Als Anni jedenfalls aus dem Supermarkt rauskommt, platzt bald die große Plastiktüte. Einiges daraus wird zwar bei einer Pause direkt hinter dem Einkaufstempel auf einem Stück Wiese verzehrt, der Rest aber füllt die große Tasche vom Wheely und meinen Tagesrucksack bis in den letzten Winkel. Der Tragegurt zieht mir beim Weitermarsch bald die Wanderhose runter.

Der Tag wird immer wärmer, sogar heiß. Der Weg zieht durch viele Weinhänge, rauf und runter, mal mit, mal ohne Schatten. Am liebsten würde ich öfter mal auf kleine Straßen ausweichen, da geht es für mich einfacher. Die Anderen sind davon nicht immer begeistert, da muss man Kompromisse eingehen.

Die letzte Straße bis zur Unterkunft in Monneton, zwei Kilometer vor Nogaro, gehört aber mir. Schnurgerade zieht sie sich für etwa drei Kilometer dahin, zunächst happig bergab, dann noch happiger wieder bergauf. Wir sehen praktisch um 15.45 Uhr, wo wir um 16 Uhr sein werden. Motivierend und stimulierend!

Die Gite ist nett. Zwei Damen begrüßen uns ausgedörrte Gestalten und nehmen sogar Sira freundlich in Empfang. Damit haben sie ja schon bei uns gewonnen. Der Propieteur sei im Moment nicht da, käme aber gleich, uns zu begrüßen. Das Zimmer für Anni, Sira und mich zeigen sie uns trotzdem schon, Nanni und Johan können ihr Zelt auf der Wiese aufschlagen und Bad und Küche mitbenutzen. Alles in Butter!

Wir duschen, lümmeln uns etwas am Pool - aber hallo! - und werden dann vom Chef des Hauses, der gleich seinen Freund und Dolmetscher mitgebracht hat, herzlich begrüßt. Er erinnert mich daran, dass ich bei der Reservierung Halbpension gebucht habe - und damit ist der Startschuss gegeben für einen Abend der Völlerei. Drei andere Gäste, ein Hesse und ein bayrisches Ehepaar, sowie die Ehefrauen von Chef und Dolmetscher, sind mit von der Partie und es beginnt mit einem Aperitif an einer Bierzelt-Garnitur im Garten. Aus einem Aperitif werden drei Aperitifs. Unmerklich verschwinden irgendwann die Ehefrauen und decken drinnen in der Gite-Wohnküche den großen Esstisch. Dann rufen sie uns herein und es beginnt ein köstliches Mahl inclusive Wein-Flatrate. Einige Male will ich mich, nachdem ich rundum satt bin, vom Tisch verabschieden, um mich an den Blogeintrag zu machen, aber ein stets volles Glas hält mich zurück. Trauriges Pilgerschicksal!

Als wir dann alle doch noch vernünftig werden, ist es für den Blog dann wirklich zu spät. Ich kann da nichts für, echt!

So, also morgen erzähle ich euch dann von gestern - oder hatten wir das schon mal?

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Fr

03

Mai

2013

Reinhard: Bei Fritz!

Von Condom nach Lamothe, 27 km

Wir sollten bei unserer täglich sich wiederholenden Nudelsuppe bleiben. Dann komme ich auch dazu, einen Blogartikel zu schreiben. Wehe, wir wählen Halbpension. Dann sind wir sehr früh sehr schnell durch den anstrengenden Verdauungsprozess müde und geringfügig angetrunken, so dass ein Blogartikel nur sehr schwer oder gar nicht mehr möglich ist. So war es vorgestern und gestern. Mal sehen, ob ich noch was zustande bringe.

Im großen Schlafsaal unserer Unterkunft in Condom haben die beiden etwas verschrobenen Amerikanerinnen zunächstmal Sorge, ob Darling Sira auch wirklich gut geschlafen und schon genug zu essen bekommen hat. Als Anni dies guten Gewissens bestätigt, sind sie zufrieden. Während für die große Pilgergruppe an den Nachbartischen der Chef der Gite ein umfangreiches Frühstück anliefert, steht bei uns wieder Porridge auf dem Speiseplan, diesmal verfeinert mit kleingeschnippelten Erdbeeren. Nanni und Johan sind inzwischen vom benachbarten Campingplatz gekommen und frühstücken mit uns.

Zusammen mit den Amerikanerinnen verlassen wir die Gite, helfen den beiden noch, den richtigen Weg zu finden und sehen sie dann leider nicht mehr wieder. Unser erster Halt ist der kleine Ort Larressingle, ein wunderschönes Beispiel für die befestigten Dörfer der Region. Rund 270 Meter völlig intaktes Mauerwerk, sowie ein Burggraben umschließen die wenigen Häuser, die Burg und die Burgkirche. Noch immer verleihen die alten Häuser, die gleichzeitig die Festungsmauer bilden, dem Dorf ein mittelalterliches Flair.

Auf dem Weg von Larressingle wieder hinunter ins Tal der Osse keucht uns eine uns mittlerweile gut bekannte französische Pilgergruppe den Berg hinauf entgegen. Während wir den Abzweig vom Jakobsweg nach Larressingle früh genug genommen haben, sind sie zu spät abgebogen. Ein Pilger aus der Gruppe gesteht verlegen lächelnd "Mistake!" und keucht weiter.

Eine halbe Stunde später überqueren wir auf der Pont d'Artigue die Osse. Schon ein besonderes Gefühl, im Wanderführer zu lesen, dass über genau diese schmale Brücke mit ihren fünf uneinheitlichen Bögen seit dem Mittelalter Pilger zogen. Heute sind es eben wir.

Montreal ist die nächste typisch gascognische Bastide, die wir bald darauf durchqueren. Von ihrer ehemaligen Stadtbefestigung sind nur noch Reste erhalten, denn während der französischen Religionskriege geriet der Ort zwischen die Fronten und wurde erheblich zerstört. Auf dem zentralen Marktplatz mit seinen schönen Arkaden essen wir unser gerade erst gekauftes Baguette. Frisch und noch knusprig schmecken sie am besten. Eigentlich schmecken sie nur dann.

Vor unserem Etappenziel gibt es nochmal einen ordentlichen Regenschauer aufs Pilgerhaupt und wir kommen recht nass in der Herberge von Fritz Kleinert an. Fritz, ein Deutscher aus Baden-Württemberg, öffnet uns lachend die Tür und bittet uns hinein. Zwei weitere Deutsche sitzen bereits im Aufenthaltsraum. Wie sich bald herausstellen soll, ist der eine ebenfalls Pilger, der andere ein Freund und die rechte Hand von Fritz. Letzterer, Hans, outet sich selbst als "auf dem Arbeitsmarkt schwer vermittelbar", der aber auf Antrag eine Praktikantenstelle bei Fritz vom Arbeitsamt genehmigt bekommen hat. Fritz bietet uns ein Begrüßungsgetränk an. "Kaffee, Bier - Radler?" Ja holla!!! Wo sind wir denn hier? Das eiskalte Radler perlt herrlich unsere Kehlen hinunter. Annis Matratze steht an der Wand bereits bereit, so ist es vereinbart. Zusammen mit Sira auf dem Zimmer (mit anderen Pilgern) geht heute mal nicht, aber Frauchen auf einer Matratze bei Sira im Aufenthaltsraum - kein Problem!

Dann eine Neuigkeit: Alle haben sich in einen Arbeitsplan einzutragen. Jobs, wie Vorbereiten des Nachtischs, Decken der Vorspeise, Eindecken für's Frühstück u.a. sind zu vergeben. Anni und ich tragen uns brav in die Liste ein. Auf dem Zimmer liegt ein Zeitplan: 19 Uhr gemeinsames Essen, anschließend Informationen ("briefing") zum nächsten Tag, mit voraussichtlichem Wetter, Streckenverlauf, Bodenbeschaffenheit, nächste Übernachtungsmöglichkeiten. Ich bin gespannt.

Weitere Pilger treffen ein, ein ganzes Rudel Franzosen, und damit eine gehobene Lautstärke. Nanni und Johan bauen draußen vor dem Haus auf einer kleinen Wiese ihr Zelt auf. Das Abendessen haben sie aber mitgebucht. Fritz' Abendessen ist in Pilgerkreisen berühmt, und auch der sagenhaft günstige Preis. Pünktlich um 19 Uhr trifft sich alles frisch geduscht um den großen Tisch herum. Dann beginnt ein kulinarischer Hochgenuss. Hans, der Praktikant, hat vortreffliche Arbeit geleistet: ein Vorspeisen-Salat mit hervorragendem Dressing, eine Art Kürbis-Stew mit würziger Chorizo, zum Nachtisch Milchreis. Ich kann mich nur noch vom Stuhl rollen, als ich den Löffel aus der Hand lege. Das "briefing" läuft ab wie eine Lagebesprechung vor einer Bundeswehrübung: Fritz bringt eine Unmenge an Informationen, gibt Nanni und Johan sogar noch Tipps zum Wildcampen - jetzt weiß ich, warum er in diversen Internet-Jakobsweg-Foren eine Institution ist. Bestimmt nicht nur, weil er selbst einmal Pilger war.

Nach dem Abräumen des schmutzigen Geschirrs und dem einen oder anderen Glas Rotwein, zieht sich alles in die verschiedenen Schlafräume zurück. Nur Anni und ich decken noch den Tisch für's Frühstück - so steht es auf dem Arbeitsplan.

Ich bin sooo müde!!! Von gestern erzähle ich morgen, einverstanden!

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Do

02

Mai

2013

Annika: Pilgernächte...

Von La Romieu nach Condom, 16 km

Um 2:30 Uhr ist meine Nacht vorerst vorbei. Irgendwie habe ich es geschafft, meinen Schlafsack so zu verdrehen, dass der Reißverschluss an den Füßen auf meiner rechten und an meinen Schultern auf der linken Seite ist. Außerdem bin ich wohl so tief hineingerutscht, dass ich meine Füße komisch abschnüre. Ich versuche, das Ganze durch Hin- und Herrutschen zu korrigieren, komme aber nicht so recht weiter. Ich quäle mich aus dem warmen Bett und muss mein gesamtes Bett neu richten. Danach kann ich endlich weiterschlafen.

Die wuselige Achtergruppe in unserem Haus konnte mich gestern Abend nicht vom Schlafen abhalten. Ohropax for president! Heute Morgen ist sie allerdings schon wieder so schnatterig beschäftigt, dass sie mich ganz hektisch macht.

Nach dem gestrigen Tag schmeiße ich mich optimistisch in Sonnencreme und kurze Hose, werde aber ziemlich schnell eines Besseren belehrt: Der Boden ist nass, es hat geregnet. Kalt ist es auch. Egal, so lang man läuft, ist es auszuhalten.

In Le Romieu, der Stadt der Katzen, treffen wir verdammt wenig lebende Exemplare an, dafür sitzen allerdings mehrere steinerne Ausführungen in den Fenstern am Marktplatz. Außerdem stehen mehrere Plastikschalen mit Futter auf dem Boden, überall im Ort, einfach so, als läge jedem das Wohl der Samtpfoten am Herzen.

Papa und Nanni schauen sich das Kloster an, Sira muss wie immer draußen bleiben. Ich also auch. Johans Interesse fürs Kloster hält sich auch in Grenzen, also warten wir am Marktplatz. In unserer Nähe sitzt ein Japaner. Wir kommen ins Gespräch und er erzählt, er trage 17 Kilo auf dem Rücken und laufe 30-40 km am Tag, von Le Puy bis Santiago. Er schläft jede Nacht im Zelt. Er grüßt uns noch grinsend und zieht dann strammen Schrittes fort. Mannmann, wenn der zierliche Kerl das wirklich so durchzieht bis zum Ende, alle Achtung!

Nach einer Weile entscheide ich mich doch, meine Niederlage gegen den Wettergott einzusehen; Ich tausche die Zipp-Hose gegen meine "Winterhose". Wenigstens für heute. Als die zwei ihre Besichtigung beendet haben, ziehen wir gemütlichen Schrittes los Richtung Condom. Nach einem Stück festem Asphalttritt, gelangen wir bald wieder auf einen Feldweg, der uns bergab schlingern lässt. Der Regen der letzten Nacht hat den Pfad wieder zur Schlammpiste gemacht. So langsam vermiest einem das wirklich die unbefestigten Wege. Da freut man sich fast auf Teer, da weiß man, was man hat...

Bald passieren wir eine Hauseinfahrt, an der nur ein kleines Schild mit der Aufschrift "donativo" steht. Donativo heißt Spenden, Spenden ist gut, also hin da. Wir wittern an dem Haus eine Honor-Box. Und wir behalten Recht. Ein Tisch mit Stühlen, Kaffee, Tee, Keksen, Stempelbox und Gästebuch empfängt uns, Jean-Pierre, der Hausherr, unterbricht sofort seine Gartenarbeit, gesellt sich zu uns und heißt uns in sehr gutem Deutsch herzlich Willkommen. Er war selbst Pilger und hat sich danach ein Haus am Camino gekauft, um Jakobspilger zu empfangen. Hier kann man auch schlafen, selbstverständlich auch gegen Spende. Schade, wir haben bereits eine Unterkunft! Also weiter. Bald verabschieden wir uns. Als wir den Weg durch das Feld hinablaufen, steht er vor seinem Haus und sieht uns nach. Als wir ihn sehen, winkt er zum Abschied. Was geht in seinem Kopf vor? Würde er gern mitgehen, um den Camino noch einmal zu erleben? Oder wünscht er uns nur im Geiste Glück für die weitere Reise? Ich weiß es nicht.


Hinter Baradieu gelangen wir an eine Art See. Hier ist wohl Einiges los. Ein mehrtöniges Froschorchester empfängt uns. Sira ist völlig irritiert von diesem fremden Geräusch. Sie will zum Wasser und der Sache auf den Grund gehen. Als ein paar aufgescheuchte Hüpfer vor ihr ins Wasser hüpfen, ist ihr das Ganze nicht mehr geheuer und sie weicht wieder auf den trockenen Trampelpfad aus.

In Fromagere ist es noch einmal Zeit für eine Pause. Wir halten nach einem geeigneten Plätzchen Ausschau und finden bald einen Platz voller dicker Baumscheiben. Hier sitzt bereits das illustre Trüppchen aus unserer gestrigen Unterkunft. Schon gestern haben wir uns gefragt, wie die wohl als Fußgänger so viel Proviant mit sich herumschleppen können, dass die so fürstlich speisen können. Jetzt bin ich allerdings völlig ratlos. Sogar Plastikbecher und mehrere Flaschen Wein kommen da zum Vorschein! Die Grundstimmung der Gruppe ist leicht duselig. Also, ich könnte so nicht mehr wandern...

Bald erreichen wir Condom und auch bald unsere Unterkunft. Hier teilen wir uns einen Schlafsaal mit 18 weiteren Personen. Und unser Bett liegt direkt an der Klotür. Um andere Leute nicht beim Toilettengang zu behindern, können wir unser Doppelstockbett mit zwei herzensguten, aber leicht überkandidelten Amerikanerinnen tauschen. Sie sind "absolutely" verliebt in Sira und ich habe das Gefühl, sie würden sie gerne in maßgeschneiderte Designerknickerbocker vom Hundesalon und in einen Tirolerhut stecken. Sie erfüllen das typische Bild der Menschen mit Hund als Babyersatz. Hätschel hier, knutsch da... Und dann die ewige Angst, dass "mailing" von "mommy" nicht genug zu essen bekommt. Aber so ist mir das immer noch lieber, als wenn man uns anfeindet.

Und jetzt lieg ich hier, am Rande eines kalten Schlafsaals, mit Skiunterhose unter zwei Decken. Unter mir schnarcht es, links hustet es, schräg gegenüber pupst es und einer stöhnt und redet irgendwo in regelmäßigen Abständen im Schlaf.

So schläft also der echte Pilger...

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Mi

01

Mai

2013

Reinhard: Unter Deckenbergen

Von Lectoure nach La Romieu, 24 km

"Madrid kaputt!" - Michel fasst kurz und knapp das Ereignis treffend zusammen. Wie recht der Mann hat! Im Champions-League-Halbfinale verliert Borussia Dortmund zwar mit 0:2 gegen Real Madrid, aber nach einem 4:1 Hinspielerfolg stehen die Ruhrpott-Jungs jetzt im Endspiel. Im Wohnzimmer von Ginette und Michel, dem Gastgeberehepaar unserer Gite, haben Johan, Pilgerfreund Jean George aus dem Elsass, Michel selbst und ich die Freude, diesem denkwürdigen Ereignis beizuwohnen. Johan, als heißer Dortmund-Fan, ist 96 Minuten lang dem Herzschlag nahe. Nanni schläft derweil bereits in ihrem Zelt, muss aber natürlich nach Johans Rückkehr mit hängenden Augenlidern den Triumph Johans teilen. Ein Mann muss sich eben auch mal mitteilen können.

Für Anni und mich ist die Nacht nur halbgut. In Ermangelung eines funktionierenden Heizkörpers haben wir die Nacht über mehrere Decken über uns angehäuft. Je länger wir nun aber drunterliegen, umso mehr haben wir das Gefühl, plattgedrückt zu werden. Wenn wir Finger- oder Fußspitzen frische Luft atmen lassen wollen, sind diese in Sekunden schockgefroren. Erholsamer Schlaf hält sich also in Grenzen.

Als Nanni und Johan am Morgen um kurz vor 7 Uhr von ihrer Zeltwiese zu uns ins Zimmer kommen, um das Bad und die Küche mitzubenutzen, hält Johans gute Laune immer noch an, wird aber doch beträchtlich eingetrübt, als auf einmal Gite-Betreiberin Ginette in der Tür steht. Offensichtlich möchte sie sich davon überzeugen, dass die beiden Camper nicht die Nacht in unserem Zimmer verbracht haben. Dann müsste dafür schließlich noch kassiert werden. Johan kann wahrheitsgemäß diesen Verdacht zurückweisen, ist aber stinksauer auf Madame. Michel, der Fußball-Fan, liegt ihm da schon eher.

Gemütlich marschieren wir los, heute haben wir es nicht weit. Es ist noch keine Stunde vergangen, da ziehen wir in Lectoure ein. Der 45 Meter hohe Glockenturm der Kathedrale St.-Gervais et St.-Protais erhebt sich eindrucksvoll vor uns. Für diesen kleinen Ort ein gewaltiges Bauwerk. Ich kann natürlich nicht daran vorbeigehen und muss einen Blick reinwerfen. Kein Mensch ist um diese Zeit drin, dafür empfängt mich leise Kirchenmusik vom Band. Einfach schön! In diesen Momenten werde ich tatsächlich immer etwas andächtig.

Johan ist in dieser Zeit auf dem Weg zu einem großen Supermarkt, die Vorräte sind aufgebraucht. Anni und Nanni haben derweil schon ein kleines Cafe gefunden, das über ein Wifi-Netzwerk verfügt. Beide haben einiges hochzuladen und hoffen, das hier tun zu können. Ein großer Erfolg wird das nicht, dafür schmeckt mir der Kaffee und der Crepe draußen auf der kleinen, von den ersten einfallenden Sonnenstrahlen erwärmten Straßenterrasse köstlich. Johan kommt zurück mit einer Fehlanzeige. Der Supermarkt hat geschlossen! Heute ist schließlich der 1. Mai, einer der höchsten Feiertage in Frankreich.

Auf unserem Weg aus Lectoure heraus, setzt sich die Sonne immer mehr durch. Es wird beständig wärmer und damit Zeit zum Zippen! Eine hervorragende Erfindung, mittels Reißverschlüssen aus langen Wanderhosen Shorts zu machen. Anoraks, Fleecejacken oder Pullis verschwinden im Rucksack - wir verspüren endlich mal wieder Wärme auf der Haut. Einige Feldwege vermeiden wir heute, nehmen dafür lieber kleine Straßen, auch wenn sie geringe Umwege bedeuten. Durch Matsch zu schlingern, ist für uns jetzt mal keine wünschenswerte Option.

Kurz vor dem winzigen Ort Mersolan kommen wir an einen Picknickplatz. Unmittelbar davor steht ein Holzhäuschen, kaum größer als ein Gartenhäuschen. Sein einziger Zweck: dem vorbeiziehenden Pilger eine kleine Auswahl an Lebensmitteln und Getränken zur Verfügung zu stellen, die diese gerne annehmen. Zwei der Kunden sind Johan und ich. Brot, Käse, etwas Süßes und zu trinken. Zufrieden machen wir uns damit am Picknicktisch breit.

Mit am Tisch sitzt zunächst noch ein älterer schweigsamer Pilger. Dann steht er auf und zieht mit schweren Schritten weiter. Er macht keinen guten Eindruck. Wer weiß, welche Schicksale sich hinter manchem verbergen, der auf dem Jakobsweg unterwegs ist. Ich glaube, so einige machen das nicht nur zum reinen Vergnügen. Bei einer nächsten Rast bei einem größeren Teich stoßen wir wieder auf ihn. Genauso wie uns umschwirren ihn Hunderte von kleinen, aufdringlichen Fliegen. Während wir schnell wieder flüchten, bleibt er noch im Gras sitzen, den Blick geradeaus gerichtet. Wir versuchen, die Rast auf einem Hügel nachzuholen, werden aber wieder von Fliegen vertrieben. Während wir uns wieder die Rucksäcke aufwerfen, kommt der alte Herr schwer atmend an uns vorbei. Wir können es kaum mitansehen. Johan fragt ihn spontan, ob er ihm den Rucksack tragen soll. Er lehnt lächelnd, aber bestimmt ab. Was hat dieser Mensch wirklich zu tragen?!

Bei steigenden Temperaturen nähern wir uns unserem Etappenziel, den wenigen Häusern von Moncade und unserer dortigen Gite. Nanni und Johan wollen noch einen Kilometer weiter bis La Romieu. Wir haben dort keine Unterkunft wegen Sira bekommen, die beiden aber wollen ihr heute auf den Tag genau fünfjähriges gemeinsames Glück in einem Mobil-Home auf dem dortigen Campingplatz verbringen. Wir verabreden uns für morgen und sie ziehen sich in die Zweisamkeit zurück.

Zehn Minuten später sind wir drei Pilger mit den acht Beinen in unserer Gite Beausoleil, zunächst noch eine Weile alleine, dann kommt eine achtköpfige Gruppe dazu. Das Palaver, das sie nach ihrem Abendessen veranstalten, ist nicht ohne. Hoffentlich wecken sie Anni nicht wieder auf. Sie schläft friedlich neben mir im Bett, mit ihrem kleinen Teddy im Arm.

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Di

30

Apr

2013

Annika: Wieder vereint!

Von Saint-Antoine nach Lectoure, 26 km

Ab sieben Uhr herrscht heute reges Treiben in unserem Zimmer. Johan und Nanni, die im Zelt geschlafen haben, kommen heute Morgen zum Frühstück in unser großzügiges, altmodisches und irgendwie nach Katzenpipi riechendes Appartement. So schmeckt das Frühstück gleich viel besser. Außerdem verströmt die Gemeinschaftstoilette im Flur einen eigenartigen Geruch nach Zahnarztpraxis. Es ist doch immer wieder spannend, in was für unterschiedlichen Unterkünften man schläft.

Pünktlich um acht ziehen wir, frisch vereint mit Hanni & Nanni, in ein neues Abenteuer. Bei dem gleichen Nieselregen wie bei unserem ersten gemeinsamen Morgen vor fünf Wochen. Das ist ja nicht unbedingt motivierend! Und nach der gestrigen Mammutetappe komme ich nur schwer in Gang.

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Meine erste Amtshandlung ist eine Demonstration gegen Siras Pilgerjagd. Das klappt sogar auf Kommando. Und Sira sprintet los, hüpft hoch und bellt auf komischer Frequenz. Die Neuankömmlinge finden es amüsant.

Nach der ersten Steigung können wir auch gleich einen Pilgerstopp samt Honor-Box präsentieren. Das begeistert! Natürlich halten wir, obwohl es für eine Pause eigentlich viel zu früh ist. Auf Bänken unterm Wellblechdach gibts gekochte Eier von den Hofhühnern und einen Kaffee, der Tote auferstehen lässt. Die vier Plastikbecher sind nicht so wirklich sauber, aber Genügsamkeit gehört eben auch zum Pilgerdasein. Nach dem kurzen Boxenstopp führt der weitere Weg über Feldwege, die den gestrigen Nachmittag nicht unbeschadet überstanden haben: Sie sind matschig! Jeder Schritt strengt an, weil wir ständig abrutschen beim bergauf oder bergab laufen. Nach einiger Zeit auf Wiesenpfaden sind Hosen und Schuhe nicht nur schlammig, sondern auch richtig nass. Nach einem matschigen Anstieg bis Miradoux haben wir uns eine Pause redlich verdient. Wir suchen angestrengt nach einem trockenen, idealerweise auch warmen Plätzchen. Dani, wir haben euch hier frühlingswettertechnisch gar nicht sooooo viel voraus, glaube ich. Ich finde es heute wieder ziemlich kühl. Wir sind froh, als wir wenigstens in den nicht abgeschlossenen Vorraum des Salle des Fétes, des Dorfhauses, schlüpfen können. Wir setzen uns auf den Boden, Sira bekommt ihre Decke ausgebreitet und Johan und Nanni kochen Tee auf ihrem Spirituskocher. Hach, das kann man fast gemütlich nennen! Als wir nach über einer Stunde endlich wieder losziehen, ist Sira trotzdem so durchgefroren, dass sie wieder Muskelkrämpfe im Oberschenkel hat. Mann, das ist ja wie im Februar in der Eifel!

Wir entscheiden, die parallel zur Straße verlaufenden Pfade zu meiden und laufen direkt auf dem wenig befahrenen Asphalt. Wo es sich nicht vermeiden lässt, rutschen und schlittern wir über Schlamm- und Glitschpisten.

Bald erreichen wir Castet-Arrouy, ein niedliches, blumiges Dörfchen. Scheinbar haben alle Pilger sich dieses Örtchen als Pausenplatz ausgesucht. Hier wuseln weitaus mehr Rucksackträger als Einwohner herum. Sira wird gleich von zwei Hunden begrüßt, die sie so misstrauisch beäugt, dass sie bald das Weite suchen. Wir treffen auch wieder auf Anne, die Sira die Reste ihrer Pastete mit Brot überlässt. Nach ein paar Sätzen laufen wir weiter, immer an der Landstraße entlang. Autofahrer grinsen und winken bei unserem Anblick.

Als wir von der Straße in einen Feldweg abzweigen, muss ich innerlich lachen. Scheinbar gibt's heute nur zwei Möglichkeiten: Matsch oder Landstraße. Jetzt ist mal wieder Matsch angesagt. Bis kurz vorm Ziel waten und balancieren wir durch die Landschaft, immer auf der Suche nach festem Tritt.

Ziemlich geschafft und schmutzig erreichen wir unsere Unterkunft in Tarissan. Johan und Nanni bekommen ihren Zeltplatz gezeigt und wir die Kette, an der wir Sira im Garten festmachen können. "Neenee. Ist nicht. Hund im Zimmer hatten wir gesagt." "Neenee, im Zimmer geht aber nicht, ist alles neu und schön. Und der Holzboden." "Neenee, aber der Hund ist lieb und sauber und schläft bei uns."

... Ratlose Gesichter...

"Nagut, wir haben da auch noch ein unrenoviertes Zimmer. Da kann aber nicht geheizt werden. Und der Hund soll nicht auf den Teppich."

Das Zimmer ist zu achtzig Prozent mit Teppich ausgelegt. Ich nicke. "Essen?" "Nein, danke, brauchen wir nicht, nur schlafen." Leichte Unzufriedenheit auf dem Gesicht der Hausherrin. Tschuldigung, leider keine tägliche-Halbpension-Luxuspilger. Als Johan und Nanni sich in der Gemeinschaftsküche im renovierten Teil der Herberge einen Tee kochen wollen, schickt man sie weg. Dafür haben sie nicht bezahlt. Später gesellen sie sich zu uns. Wir kochen in unserer unrenovierten Küche und essen, um gegen die Kälte anzukommen, in unserem Zimmer in Decken gehüllt. Irgendwie fühlen wir uns komisch. Als ginge es hier auch bloß ums Geld. Leider fällt uns das nicht zum ersten Mal auf. Naja, ich liege unter der warmen Decke in einem Bett, das genügt mir vorerst. Und Johan und Papa schauen Champions League beim Herbergsvater. Immerhin!

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Mo

29

Apr

2013

Sira: Jetzt sag ICH mal was!

Von Moissac nach Saint-Antoine, 32 km

  Frauchen hat sich ein blödes neues Spielzeug gekauft. Sie hat jetzt ein eigenes Stöckchen. Ein großes. Und sie will es ganz für sich alleine haben. Immer, wenn ich mal ein bisschen daran rumknabbern oder es durch die Gegend schleudern will, sagt sie: "Frollein, bleibst du wohl von meinem Pilgerstab!" Dann soll sie doch nicht so ein leckeres Hölzchen kaufen... Und ewig wedelt sie damit vor meiner Nase rum. Das finde ich gemein. Immer, wenn ich ein leckeres Reh oder einen schwitzigen Pilger in der Nase hab und losstürmen will, stört mich der blöde Stock, den Frauchen dann immer ausgerechnet auf "meiner Seite" benutzen muss. Aber irgendwann mal, wenn sie nicht aufpasst, dann schnappe ich ihn mir und kaue ihn kurz und klein. Ich krieg hier sowieso viel zu selten mal was Ordentliches zu kauen. Zuhause hab ich immer ein Stöckchen und Knochen und Schweineohren und sowieso ganz viele tolle Sachen. Hier muss ich mir immer die Mühe machen, mir mein Spielzeug selbst zu suchen und es dann auch noch zu tragen, bis wir fertig sind mit Laufen. Und manchmal dauert es seeehr lange, bis wir fertig sind. Heute war so ein "manchmal".

  Erstmal bin ich heute mit Bauchschmerzen wach geworden. Ich glaube, das kommt von der leckeren Lasagne, die die netten Leute von unserem Schlafplatz mir gegeben haben. Sie war sooooo lecker! Aber auch viel zuviel. Aber wenn man schon mal sowas Gutes bekommt, esse ich eben soviel wie möglich . Und jetzt ist mir schlecht. Ich wollte heute morgen noch nicht einmal frühstücken.

Heute Nacht haben wir in einem tollen Haus geschlafen. Alle waren so nett zu mir und in dem kleinen Garten roch es ganz lecker nach Katze. Gesehen hab ich sie aber nicht. Leider! Die hätte mir noch besser geschmeckt als Lasagne!

Heute morgen verarztet mir Frauchen wie jeden Tag meine Ohren und meine Füße. An die Creme und die blöden Tropfen fürs Ohr hab ich mich längst gewöhnt. Da halte ich ganz still, bis es zu doll kitzelt und ich mich schütteln muss. Aber seit die Creme für meine Füße leer ist, sprüht mein Frauchen mir so ein komisches Zeug auf die Füße. Das kitzelt schrecklich! Zum Glück kriegen wir bald wieder Melkfett. Das Eincremen mag ich viel lieber als das Sprühen.

Als Frauchen mir den Rucksack aufgeschnallt hat, bin ich wie jeden Morgen ganz hibbelig. Bald geht es los. Ich kann es nicht mehr abwarten und tigere im Kreis durch unser Zimmer. Frauchen und Papa fluchen dann immer, weil ich überall vorhaue, auch vor ihre Kniekehlen, aber das ist mir egal. Bis wir gehen, mache ich weiter.

Alles ist etwas anders als sonst. Mit uns spaziert ein neues Geräusch; das "Klackklack!" von Frauchens neuem Spielzeug. Ich hab mich bald dran gewöhnt und widme mich Wichtigerem: dem Stadtmagazin. Frauchen nennt das immer so, weil ich besonders in Städten an jedem Blumenkübel stehen bleiben und schnuppern muss, wer dort so alles hingepieselt hat. So erfahre ich das Neueste vom Neuen und wer was zu sagen hat. Wie Zeitung lesen eben. Und hier dann eben nicht nur Zeitung, sondern Stadtmagazin.

Bald kommen wir an den kleinen Kanal. Hier finde ich es langweilig. Keine Enten, kein Stadtmagazin mehr. Aber dafür hab ich bald wieder Pilger in der Nase. Ich rufe sie, ich versuche sie zu kriegen, aber Frauchen lässt mich ja nicht. Ich glaube, sie versteht nicht, dass wir alle zusammen bleiben müssen. Das macht man doch so als Rudel! Und wenn sie schon nicht dafür sorgt, muss ich das halt tun. Ich gebe zumindest mein Bestes, sofern das mit der lästigen Strippe möglich ist, die mich und mein Frauchen den ganzen Tag verbindet.

Nach einiger Zeit gehen wir auf einen Berg. Die anderen Pilger leider nicht. Da sehe ich ein, dass ich sie nicht kriegen kann und laufe gemütlich neben meinem Frauchen her. Das ist manchmal auch ganz schön.

Oben auf dem Berg will Papa oben über die Straße gehen. Frauchen will aber lieber den spannenden Weg über den Feldweg, durch den Wald und ins Tal und wieder hinauf gehen. Und dann verstehe ich die Welt nicht mehr: Papa geht tatsächlich in eine andere Richtung als wir! Das darf doch wohl nicht wahr sein! Sogar mein kleines Rudel ist zu dumm, um zusammen zu bleiben! Immer wieder dreh ich mich nach hinten um, aber Papa kommt nicht nach. Als wir ein Stück gelaufen sind und ich die Hoffnung fast aufgegeben habe, treffen wir uns aber zum Glück wieder. Immerhin!

  Bald machen wir Pause. Frauchen holt wie immer erstmal meine Wasserschüssel raus und legt mir eine Handvoll Futter hin. Aber ich hab keinen Hunger. Mir ist noch immer etwas übel von der Lasagne. Als ich gerade ein Schläfchen mache, schrecke ich plötzlich auf: ein kleiner hässlicher Hundemann schleicht sich an. Zum Glück ist das kein großer Kerl, denn auf die bin ich im Moment nicht gut zu sprechen. Trotzdem weiß ich nicht so recht, was ich tun soll, also knurre ich vorsichtshalber. Das findet er doof. Er geht weg, bevor ich ihn beschnuppern kann. Mmh, so war das nun auch nicht gemeint. Ich winsle ihm nach, schaue hilfesuchend mein Frauchen an, aber das zuckt nur die Schultern. Der kleine Fremdling mit den krummen Beinen trappelt davon, ohne sich nochmal nach mir umzudrehen. Püh, dann eben nicht!

Bald sind wir in Malause, wieder am langweiligen Wasser. Dafür hab ich endlich wieder Pilger in der Nase und im Blick, die ich versuchen kann zu kriegen. Als wir wieder Pause machen, kommen sie ganz von selbst. Ich wedle mit dem Schwänzchen und werde dafür zu Belohnung von jedem kurz getätschelt, der vorbeikommt. Fotos haben sie ja alle schon...

Bis nach Espalais laufen wir jetzt ganz langweilig an der Straße entlang und Frauchen nervt mich immer wieder mit ihrem blöden neuen Stöckchen vor meiner Nase.

  Die nächste Pause machen wir bei einem Mann und einer Frau, die ganz nett zu meinen Menschen sind. Sie kriegen was zu trinken und dürfen auf das Klo und werden sogar gefragt, ob sie was essen möchten. Wieso fragt mich eigentlich keiner?!? So eine leckere dampfende Kartoffel oder ein Stück von dem duftenden Käse würde ich schon nehmen. Mir ist gar nicht mehr übel! Ich würde aber auch die Katze nehmen, die ich hier auf jedem Sitzkissen erschnuppere und die mich fast verrückt macht. Das Gemeine ist ja, dass Frauchen lange vor mir gesehen hat, dass der Leckerbissen in den Dachbalken der offenen Scheune, in der wir sitzen, hoch über uns herumklettert. Als ich sie dann endlich bemerke, will ich sie unbedingt kriegen. Ist mir jetzt egal, ob Frauchen dabei fast vom Stuhl fällt! Aber leider hat die sich schnell wieder im Griff und sagt mir (wie immer, wenn ich was mache, was ihr nicht gefällt), ich solle mich hinlegen und den Mund halten. Ich motze noch ein bisschen. Dann hab ich mich gerade beruhigt, als plötzlich ein riesiges Monster vor mir steht. Es hat auch so Taschen an wie ich, ist aber viiiiel größer, riecht komisch und hat so lange Haare am Po! Frauchen und Papa freuen sich sehr, weil wir schon die ganzen letzten Tage die Fußspuren und die Köttel von diesem Monstrum verfolgen. Der Mann, der mit dem Monster gekommen ist, erzählt, er hätte schon viel von uns und besonders von mir erzählt bekommen. Der Eselmann fotografiert uns, Papa fotografiert den Eselmann und dessen Esel und ich bin froh, als wir weitergehen und ich mich endlich nicht mehr aufregen muss. Und sogar da sagt Frauchen, ich soll die Klappe halten! Wenn ich mich so fürchte! Manchmal verstehe ich mein Frauchen nicht...

Als wir weiter durch den Ort gehen, rieche ich überall noch mehr köstliche Katzen. Und dann sehe ich eine direkt vor mir! Ich versuche sie mit aller Kraft und einem schnellen Haps zu kriegen, aber mein Frauchen ist blöderweise immer noch stärker. Außerdem schimpft sie ganz doll mit mir. Das ist mir aber im Moment egal, denn das blöde Fellknäuel sitzt immer noch an der gleichen Stelle. Ich stemme mich weiter gegen mein lästiges Anhängsel, werde aber einfach weggezogen. Manno!

In Auvillar finden meine Menschen es sehr schön, aber mir ist langweilig, weil es einfach nur eine alte Stadt mit vielen Steinen ist.

Als wir unter der Autobahn hergehen, klingelt Frauchens Telefon. Irgendwie weiß ich, jetzt ist was in der Luft. Papa telefoniert mit Johan, das kann ich hören. Sie verabreden ein Treffen heute Abend in der Unterkunft. Jipieh! Dann wächst unser Rudel wieder! Und den Johan mag ich besonders gern, obwohl der mir nie was von seinem Essen gibt.

Den Rest des Weges kann ich es nicht erwarten, zu unserem Schlafplatz zu kommen. Ich ziehe und ziehe und Frauchen nervt mit ihrem Stöckchen. Und dann fängt es auch noch an zu regnen.

Irgendwann kommen wir endlich an. Ich bin nass und kaputt und will einfach nur den Rucksack ausziehen und schlafen. Hier im Flur ist aber alles voller Leute. Viele kenne ich nicht, aber Anne, Johan und Nanni sind wenigstens auch da. Frauchen und Papa müssen unbedingt noch einen Begrüßungsdrink nehmen und einchecken. Mir reicht's. Ich knalle mich mit Sack und Pack mitten in die kalte Küche und es ist mir egal, ob alle über mich drübersteigen müssen und ich müffle.

Als wir nach dem langen Tag in unser Zimmer kommen, legt Frauchen mir meine Decke vor die Heizung, gibt mir Futter und Wasser, verarztet mich und gibt mir eine lange Massage. Und wenn sie das macht, sind für mich fast die Mühen des Tages vergessen. Und wenn ich mich dann auf meiner Decke zusammenrolle und zufrieden seufzend einschlafe, träume ich bald von all dem, was ich den ganzen Tag erlebt habe. Und ich erlebe eine ganze Menge!

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Mo

29

Apr

2013

Reinhard: Eselverfolgung

Von Lauzerte nach Moissac, 27 km

In der Gite Ancien Carmel in Moissac, einem ehemaligen Karmeliterkloster hoch über der alten Stadt an der Garonne, gibt es eine der wenigen Duschen, wo der Duschkopf richtig installiert ist. Ich meine, man muss ja schon zufrieden sein, wenn richtig heißes Wasser rauskommt. Wieviel schöner wäre es aber , wenn man den Duschkopf auch noch auf die richtige Höhe rauf oder runter schieben oder ihn in dem korrekten Anstellwinkel positionieren könnte. Stattdessen passt man nicht mit geradem Rücken drunter oder muss ihn sogar selbst in die Hand nehmen oder er schlappt lustlos runter und das Wasser trifft einen nicht einmal. Hier stimmt alles! Pluspunkt für Moissac!

Aber jetzt mal von vorne: In Lauzerte beginnt der neue Pilgertag mit einem üppigen Frühstück, Töchterchen hatte ja gestern noch gut eingekauft. Wenn man aber nun nicht alles im Rucksack mitschleppen will, muss man zusehen, dass man einiges weggegessen bekommt. Diese Weisheit beherzigen wir wieder mal - was mir nicht gut bekommt. Ich komme nicht richtig in Schwung, bin etwas kurzatmig, kann dem Tempo von Anni kaum folgen. Erst nach der ersten Pause läuft wieder alles wie geschmiert.

Nach dem gestrigen Abendregen scheint, als wir die Tür der Gite d'Epoche ins Schloss ziehen, die Morgensonne. In den Gassen ist es noch ruhig, schließlich ist Sonntag. Das Wehrdorf Lauzerte entstand im Zuge des Hundertjährigen Krieges, als die Grafschaften begannen, ihre Grenzen und strategisch wichtigen Punkte durch befestigte Ortschaften vor den englischen Truppen zu schützen. Viele der Häuser am Marktplatz und entlang der Straßen, durch die wir jetzt den Ort wieder verlassen, sind in den letzten Jahren renoviert worden. Fassaden aus dem Mittelalter bis zur Renaissance, Arkaden, altes Fachwerk - herrlich!

Im Ort treffen wir keine Pilger. Schon alle weg? Oder noch beim Frühstück? Die Antwort haben wir bald. Sira zieht wieder, zur Freude von Anni, an der Leine, gibt ihre hochkehligen Ungeduldslaute von sich und vollführt 180°-Sprünge. Pilgerfreunde (irgendwo) voraus! Das passiert mehrere Male. Ein Trüppchen nach dem anderen holen wir ein, meist bekannte Gesichter. Ein "Bon jour!", ein Lächeln, manchmal auch ein Tätscheln über Siras Kopf sind immer drin.

Es gibt aber jemanden, den wir ums Verrecken nicht einkriegen: Den Esel!!! Seit drei Tagen zieht er vor uns her, äppelt auf den Weg und hinterlässt seine frischen Hufspuren im regenaufgeweichten Boden. Entweder ist er mit seinem Pilgerherrn sehr zügig unterwegs und macht nie Pause - oder er ist doch ein Phantom.

Vielleicht sind meine Schmerzen in der rechten Schulter ja auch nur Phantomschmerzen. Ich fürchte aber nicht. Zu Hause muss doch mal ein Onkel Doktor drauf gucken. Jetzt hilft nur Gymnastik im Wanderschritt: Schulterrollen, Armkreisen u.a. Dazu immerwährendes Verlagern der Rucksackriemen und leises Jammern.

In unserem Pilgerführer werden für den heutigen Tag nur 150 Höhenmeter im Anstieg ausgewiesen. Ich weiß nicht, wo die Buchautorin wirklich hergegangen ist, aber das sind mit Sicherheit mehr. Auf vielen Feldwegen, und erst recht in den Hohlwegen, ist der Boden glitschig und nicht leicht zu begehen. Die Schuhe und die Innenseiten unserer Hosen sehen entsprechend aus. Wir beschließen, aufs Putzen oder Waschen vorläufig zu verzichten, da alles am nächsten Tag sowieso wieder dreckig wird. Rationalisieren des Alltags nennt man so was.

Frühling nennt man, was sich hier in der Natur oder in den Gärten abspielt. Viele Obstbäume sind schon ver-blüht, die Kastanien, an denen wir vor wenigen Tagen noch nicht mal Blätter gesehen haben, haben jetzt schon ihre Blütenkerzen aufgesetzt, und der Flieder sieht nicht nur toll aus, sondern duftet auch schwer.

Vor einem Bauernhof sitzt ein schweizerischer Pilger am Wegesrand an einem kleinen Tisch mit Kaffee und etwas Kuchen . Dabei steht die Honor-Box. Was früher vielleicht mal als nett gemeinte Erfrischung und Aufmunterung für die Pilger gedacht war, ist meines Erachtens oft zu einer kleinen Abzocke geworden: Ein Euro für einen kleinen Kaffee im Mini - Plastikbecher? Muss man sich an Pilgern bereichern? Trotzdem bin ich drauf und dran, mir einen zu gönnen, wenn nicht wieder ein keifender Hund auf uns zurennen würde. Anni möchte weiter, zu tief sitzt noch der Schock vom Schäferhund-Biss. Also weiter!

Ein paar Kilometer weiter, an der Auberge de l'Aube Nouvelle, dann doch eine angenehme Rast. Sira trifft einen netten Hundefreund, mit dem sie sich sofort gut versteht und in den Spielmodus übergeht, Anni und ich werden von einem englischen Ehepaar bewundert, das gerade Frankreich auf derselben Route besucht wie vor genau 50 Jahren - auf seiner Hochzeitsreise. Alle Pilger, die wir im Laufe des Morgens überholt haben, kommen jetzt wieder an uns vorbeigezogen. Das ist wie beim Formel-1-Rennen und seinen Boxenstopps: Man liegt im Rennen vorne und muss dann zum Nachtanken raus. Andere haben so Gelegenheit, sich nach vorne zu schieben, müssen aber bald selbst raus und die Reihenfolge ändert sich wieder. Mit der ersten überholenden Pilgergruppe ist aber auch Siras Freund verschwunden - schade! Nach den unschönen Erfahrungenen wäre das vielleicht eine ganz nette Therapie gewesen.

Kurz vor Moissac ändert sich die Landschaft. Nach vielen Tagen auf den kargen Hochebenen, kommen wir jetzt ins Tal der Garonne, in die Gascogne. Es geht bergab, an Weinhängen und Obstbäumen vorbei. Viele Obstbaumreihen sind inzwischen mit großen Netzen abgespannt - den Vögeln keine Chance!

Die Abteikirche St. Pierre in Moissac ist beeindruckend. Während ich sie und den berühmten Kreuzgang des ehemaligen Klosters besichtige, warten Anni und Sira draußen. Sie langweilen sich nicht. Immer wieder sind sie Anlaufstation von Passanten und Touristen, die sie nach ihrer Pilgerschaft befragen. Sira kann natürlich nicht antworten, ist aber trotzdem der Star.

In unserer Unterkunft "Ancien Carmel" beziehen wir das "Lassie-Zimmer". Anni ist von der Gastfreundschaft ganz begeistert, da haben wir kürzlich ja auch schon mal andere Erfahrungen gemacht. Sie telefoniert gerade mit einem ihrer großen Brüder - und Sira liegt zufrieden neben ihr auf ihrer Decke und schläft. Morgen muss sie wieder ran.

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Sa

27

Apr

2013

Annika: Bis nach Spanien sind wir versorgt...

Von Lascabanes nach Lauzerte, 25 km

Die Nacht im Doppelzimmer mit unserem stinkenden Hund haben wir genossen. In dem Zimmer, in das die beiden stänkernden Frauen umziehen wollten, war nur noch ein Bett frei, so dass die Tochter auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen musste. Tja... ich habe es ihr gegönnt. Wegen dieser  zwei Protestler haben wir uns gestern den ganzen Tag unwohl gefühlt. Und aus der Gastgeberin war auch kein Lächeln herauszubekommen. Wir haben uns im Zimmer verkrochen, bis wir heute morgen nach einem schnellen Frühstück die Kurve kratzen konnten. Auf der ganzen Tour habe ich mich noch kein einziges Mal so unwillkommen gefühlt wie hier. Und ein regennasser Hund und mangelnde Sprachkenntnisse sind mir da auch nicht Grund genug... Wie dem auch sei. Wir haken die Sache ab und machen uns um acht Uhr auf die Socken.

Nach circa dreihundert Metern ist Papas Sehnsucht nach unserer herzigen Unterkunft scheinbar zu stark: Er muss zurück. Kameraakku samt Ladegerät vergessen! Mit zehn Minuten Verzögerung und ein paar guten Wünschen und Komplimenten zweier freiwilliger Feuerwehrmänner im Gepäck laufen wir aus Lascabanes hinaus.

Wirklich freundlich sieht der Himmel nicht aus, aber immerhin regnet es nicht. Immerhin! Auch den Rest des Tages bleiben die angekündigten Schauer aus, bis sie uns, zwanzig Minuten vorm Tagesziel, doch noch kurz erwischen.

Gerade den Ortsausgang von Lascabanes hinter uns gelassen, wird Sira unruhig. Den Grund sehe ich schell: Ein Pilger vor uns. Oder besser noch: eine Pilgerin! Blond. Ziemlich forscher Schritt. Hm, könnte Anne sein... Sira ist schon mit dreihundert Metern Entfernung auf der Pirsch. Das MUSS Anne sein! Als Sira verzweifelt beginnt, ihr nachzuhechten und auch zu bellen, wird Anne endlich aufmerksam. Sie begrüßt uns mit Gebrüll, tätschelt Sira und wir erzählen uns von den letzten Tagen. Wir gehen ein Stück zusammen, laufen aber bald wieder getrennt. Anne legt, genauso wie wir, sehr viel Wert auf ihr eigenes Schritttempo. Da wir nunmal schneller sind, ziehen wir davon. In kürzester Zeit überholen wir nun immer wieder Pilger, meist Zweiergruppen.

Die kalkhaltigen Wirtschaftswege, die in den letzten Tagen blendend und mehlig-staubig waren, haben sich durch den Regen über Nacht zu fiesen Panadebehältern entwickelt. Bei jedem Schritt tritt man in eine Art Gipsmasse, die sich an den Sohlen festkrallt und die Schuhe sehr schwer macht. Bei jedem weiteren Schritt steht man wie auf Ballons. Wenn wir zwischendurch mal wieder auf Asphalt dürfen, versuchen wir verzweifelt, die Pampe abzubekommen. Gar nicht so leicht... Außerdem ist dieser Bodenbelag nach Regen eine echt glitschige Angelegenheit. Da schlingert man ganz schön.

Auf einem längeren Stück auf der Landstraße sind wir alle drei baff: Ein weiterer Pilgerhund treibt sich da vorne nebst menschlichem Anhang herum! Allerdings ein weitaus kleineres Exemplar als Sira. Von jetzt an hechtet Sira - wer hätte es auch anders erwartet - dem kleinen Bruder im Geiste nach, bis wir ihn erreicht haben. Ihm ist Siras Rucksack gar nicht geheuer... Er bellt und knurrt und will nicht so recht Freund werden. Ich unterhalte mich kurz mit den Besitzern. Seit gestern sind sie nun für zwei Wochen unterwegs. Die Frau trägt einen Rucksack auf dem Rücken und eine Art Sporttasche vor dem Bauch. Wenn Fiffi müde wird oder Pfotenprobleme hat, kommt er da rein. Jau, das würde mir noch fehlen! Mir die müde Sira vor den Bauch schnallen... Jeder so, wie er meint. Wir wünschen viel Glück und ziehen davon.

In Montcuq kommen uns zwei verzweifelt kichernde Frauen entgegen. Offensichtlich haben sie sich im Ort verlaufen und unser Wanderzeichen nicht mehr gefunden. Erleichtert ziehen sie von hier aus vor uns her, bis sie nach dreihundert Metern wieder einen Abzweig verpassen und um ein Haar falsch gelaufen wären. Mädels, bisschen aufmerksamer bitte! Wir weisen sie auf den richtigen Weg und verlieren sie bald wieder.

Nun laufen wir durch Hohlwege, die inzwischen auffallend dicht werden. Die Bäume und Sträucher bekommen Blätter. Sie werden saftig grün. Auch die seltengesäten Weinreben auf den Feldern beginnen zu treiben. Das Leben kommt zurück in Wald und Wiese! Ich bin begeistert.

Als wir gerade aus dem Wäldchen in einen Wiesenabschnitt gelangen, bleibt Sira plötzlich wie angewurzelt stehen. Zwei große Hunde nähern sich schweigend, aber wie eine geschlossene Mauer. Wir aktivieren Papas Schirm. Nur für den Fall... Aber es ist gar nicht nötig. Die zwei werden von der Besitzerin zurückgerufen und kuschen. Wir passieren problemlos.

Kurze Zeit später ist es wieder Zeit für einen Zwischenstopp; Regen setzt ein. Also Rucksack ab, Fleece aus, Regenjacke an, Rucksackpelerine drüber und weiter geht's.

Auf dem lehmigen Boden sehen wir vermehrt kleine Hufabdrücke, die vermutlich von einem Pilgeresel stammen. Da der Boden gestern fest gewesen ist, muss er heute diese Fußabdrücke in den Boden gestanzt haben. Vielleicht sehen wir ihn ja die Tage noch. Auf jeden Fall denke ich an hakeligen, schwierigen Wegabschnitten immer wieder an den Armen. Vor allem bei Brücken und Bächen, da man ja weiß, wie störrisch ein Esel Arbeitsverweigerung betreiben kann. Ich wünsche dem Eselpilger im Geiste alles Gute.

Bald erreichen wir am Fuß des Berges von Lauzerte einen Intermarche Supermarkt. Juhuu, da kann die Anni wieder Großeinkäufe machen!!! Tut sie dann auch, allerdings ist das immer noch im Rahmen. Heute gibt es lecker Cordon Bleu mit Salat. Hmmm!

Und als ich abends mit dem Hund mein Ründchen drehe und in die Fenster der Leute schaue, wirkt es fast, als wären wir noch mitten im Mittelalter. Alte Kessel an den Wänden, schöne große Gasherde- und Backöfen. Und alles wirkt so warm und gemütlich.

Während ich blogge, reserviert uns Papa die Unterkünfte der kommenden Tage. Und er hat einen Lauf. Bis St-Jean sind wir nun versorgt mit Unterkünften.

Ich glaub´s ja immer noch nicht. Nicht mehr sooooo lange, dann sind wir tatsächlich auf dem "echten", dem spanischen Hauptweg. Ich glaub´s ja nicht!!!

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Fr

26

Apr

2013

Reinhard: Man trifft sich, man verliert sich

Von Cahors nach Lascabanes, 22 km

Gefrühstückt wird in der Früh in der "Sommerküche" unserer Gite. Was ist eine "Sommerküche"? Nun, in der "Sommerküche" kocht der Pilger seine Mahlzeiten praktisch Open Air, vor Regen eigentlich nur geschützt durch ein Dach, das gleichzeitig der Boden der darüber sich befindenden Garage ist. Diese Garage ist nur keine Garage, sondern der "Empfangsraum" für die im Laufe des Nachmittags einlaufenden Gäste. Hier bekommt man zur Begrüßung einen Saft serviert, zieht seine dampfenden Wanderstiefel aus, nimmt sich notwendige Utensilien aus dem Rucksack, die man mit aufs Zimmer nehmen möchte, und verstaut diesen dann in einem Schließfach. Von der Garage geht es über eine Wendeltreppe hinunter zur "Sommerküche" und zum Garten. An warmen und trockenen Tagen ist diese Küche wohl eine nette Angelegenheit, bei Regen, Wind und Kälte eher nicht so.

Heute morgen ist es hier aber trotz der frühen Stunde recht angenehm und der heiße Haferbrei mit untergerührten Bananenstückchen schmeckt richtig gut, der nicht minder heiße Kaffee sowieso. Der Pilgertag kann beginnen!

Er beginnt mal wieder mit einem Fototermin. Viele Pilger wollen zum gleichen Zeitpunkt los und in der Garage herrscht großes Gedränge. Aber die Zeit, um Sira zu fotografieren, die sie alle gerade zum ersten Mal mit ihrem Rucksack sehen, muss noch sein. Da dabei auch noch immer ein paar Streicheleinheiten abfallen, lässt das Model es sich gerne gefallen.

Für Anni und mich hält die Garage noch eine Überraschung bereit. Auf dem Boden liegt eine Personenwaage. Eigentlich wohl dafür gedacht, seinen Rucksack zu wiegen (warum auch immer), aber wir stellen uns selbst drauf. Danach konstatieren wir einmütig, dass die Waage defekt sein muss. Soooviel Gewicht können wir bis jetzt nicht auf dem Jakobsweg liegengelassen haben. Oder doch??

Über die Pont Valentre, dieselbe Brücke über die Lot, über die wir gestern nach Cahors hineinmarschiert sind, verlassen wir die Stadt auch wieder. Dann geht es aufwärts! So richtig! Nur knappe zehn Minuten lang, aber die haben es in sich. Hohe Steinstufen lassen uns nach oben keuchen und bringen den Kreislauf in Schwung. Gut, dass ich mir unten noch die Jacke ausgezogen habe, sonst würde ich jetzt im eigenen Saft schmoren.

Oben angekommen, wird es mir aber bald schon wieder kühler. Der Himmel ist das erste Mal nach einigen Tagen bedeckt und ein empfindlicher Wind weht. Aber ich bin auf Betriebstemperatur, die Jacke bleibt, vorläufig jedenfalls noch, aus.

Die Jakobswegmarkierung führt uns nun sicher über die größtenteils landwirtschaftlich genutzte Kalkhochfläche der Quercy Blanc. Seit Le Puy ist es aber nicht mehr die Muschel, die uns leitet, sondern der an Bäume oder Felsen aufgemalte rot-weiße Balken aller französischen Fernwanderwege. Als GR 65 wird er uns bis St.-Jean-Pied-de-Port am Fuße der Pyrenäen begleiten.

Manchmal habe ich mit diesem Balken aber auch meine Probleme. Ich werde ab und zu das Gefühl nicht los, dass neu hinzugekommene Gite-Betreiber versuchen , auf die Streckenführung Einfluss zu nehmen. Gites abseits des Weges bekommen weniger Gäste, deshalb will man AM Weg liegen. Und dann muss die Streckenführung mal eben geändert werden, um dies zu erreichen. So auch heute. Die tatsächliche Strecke passt anfangs für einige Kilometer vorne und hinten nicht mit meiner Karte und der Streckenbeschreibung zusammen, schlägt sinnlose Haken - führt dabei aber an zwei Gites in benachbarten kleinen Dörfern vorbei. Nach zwei Stunden erst sind wir in dem zweiten dieser Dörfer, wo ich schon eine Stunde früher sein wollte. Aber was soll's, heute haben wir Zeit.

Zeit auch zum Rasten! Währenddessen überholen uns andere Pilger. Kaum noch bekannte Gesichter sind dabei. Aber so ist es halt. Man trifft sich irgendwann und irgendwo, wandert ein Stück zusammen oder auch nicht, übernachtet in derselben Unterkunft oder auch nicht. Nie verabschiedet man sich so richtig, immer nur ein "Bis bald!" oder "Wir sehen uns bestimmt noch!" - und dann verliert man sich doch aus den Augen. Manchmal eigentlich schade! Doch jeder hat seinen eigenen Weg, seinen eigenen Rhythmus. So mancher freut sich über eine neu gefundene Gemeinschaft, die meisten wollen ihren Weg alleine gehen.

Von Les Mathieux geht es wieder bergab, mit der Folge, dass es nach Labastide-Marnhac erneut bergauf geht. Danach ist die Landschaft wieder rauer, kein Ackerbau mehr, sondern hartes, trockenes Weidegras mit verdörrten Büschen oder ebenfalls etwas traurig aussehenden Eichenbäumchen. Ich habe den Eindruck, dass hier kein brennendes Streichholz hinfallen darf, dann brennt alles wie Zunder. So lange ist es seit dem letzten Regen nun auch nicht her, aber die Oberfläche (Kalkstein) hält das Wasser eben  nicht lange. Der Boden, gerade auch auf dem Weg, ist knochenhart und gerissen. Ab morgen kann sich das ändern, es ist Regen vohergesagt.

Und er kündigt sich schon an. Eine Stunde vor Zieleinlauf in Lascabanes wird es dunkler und es beginnt leicht zu sprühen. Poncho oder Regenschirm lohnen sich nicht, als wir aber in unserer Unterkunft ankommen, sind die Anoraks und Sira gut nass.

Zunächst teilen wir uns das Zimmer mit zwei Frauen, wohl Mutter und Tochter. Als sie Sira sehen, sind sie not amused. Sie beschweren sich bei der Chefin des Hauses: Der Hund stinkt! Als die Chefin uns nicht rausschmeißt, verlangen sie ein anderes Zimmer und bekommen auch eins. Na prima, passt doch! Wenn Sira mal nicht im Regen nass wird, stellen wir sie einfach unter einen Wasserschlauch, damit sie ordentlich stinkt. Von wegen Zimmeralleinbenutzung und so ...

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Do

25

Apr

2013

Annika: Dankbarkeit eines Hundes

Von Lalbenque nach Cahors, 18 km

Ich möchte heute beginnen mit Reaktionen auf zwei Kommentare bzw. Gästebucheinträge. Also erstmal an Mama: Nein, meine Socken werden gut gepflegt und sind noch ganz heile. Allerdings trage ich sie nicht beim Wandern, weil sie mir zum Vollschwitzen zu schade sind. Sie kommen jeden Nachmittag nach dem Duschen als Wohlfühlsocken zum Einsatz.

An Jürgen: Wir freuen uns sehr, wenn wir anderen Hundebesitzern als Motivationshilfe und Bestätigung dienen können. Es ist die Sache auf jeden Fall wert. Allerdings ist es sehr hilfreich, wenn dein Wuff nett zu Menschen ist. Sira klimpert jeden mit ihren langen Wimpern und ihrem Wedelschwänzchen an und jeder verliebt sich gleich. Sehr von Vorteil! Verträglichkeit mit anderen Hunden und Katzen gibt einem auch mehr Möglichkeiten, es geht aber auch so (Sira hat Katzen zum Fressen gern, bei Hunden entscheidet die Sympathie). Wenn dein Hund einigermaßen erzogen ist, kannst du damit auch immer begeistern (Sira hat das schon mit einem "Sitz" oder "Platz" auf Kommando geschafft). Wenn dein Fiffi relativ hitzebeständig und trainiert ist, schafft ihr das! Für die Pfoten empfehle ich tägliches Melkfett, das ist billig und hält die Füße gut geschmeidig. Bisher klappt das super, würde ich mir aber in Deutschland holen. Hier in Frankreich finde ich es nicht. Und ein Allesfresserhund ist auch von Vorteil. Verlasse dich nicht darauf, dass du hier immer Hundefutter kriegst, geschweige denn immer dad Gleiche. Bezüglich der Unterkünfte versuchen wir in den nächsten Tagen, exklusiv für dich, noch schnell wenigstens unsere Unterkünfte ab Le Puy en Velay online zu stellen. Wir können aber nicht garantieren, dass das klappt. Wir empfehlen dir aber auf jeden Fall, den aktuellen Miam Miam Dodo bei Amazon oder vor Ort zu kaufen. Es gibt auf jeden Fall eine Ausgabe von Le Puy bis St.-Jean-Pied-de-Port und eine für den Camino Frances. Die Auswahl an Unterkünften ist groß und wir haben darin immer irgendwann irgendetwas irgendwo gefunden. Wir würden uns sehr freuen, weiterhin von dir und deinem Vorhaben zu hören. Buen Camino und Ultreia, auch in schwierigen Momenten. Es lohnt sich!

Nun zum Tag: Ich habe nicht viel zu erzählen. Als ich wach werde, ist es halb sechs. In einer halben Stunde klingelt der Wecker und ich muss auf Toilette. Das kann ich ja schon gar nicht leiden. Außerdem schlafe ich oben auf der Empore und muss, um auf die Toilette zu kommen, erstmal eine Leiter runterkraxeln. Das kann ich noch weniger leiden. Aber es hilft ja alles nix. Ich kraxel runter, nachher wieder rauf und liege wach, bis der Wecker klingelt.

Als ich mit Sira die morgendliche Runde drehe, bin ich begeistert; der Hauch von Spanien ist nicht verflogen! Der Geruch von Sonnencreme, die angenehm wärmende Morgensonne, zirpende Grillen, das steinig raue, sympathische Grundstück unseres Hauses... Jetzt nur noch das Meer vor der Tür, dann wäre alles perfekt. Sira mache ich wieder an der Schleppleine im Garten fest. Sie ist zufrieden. Obwohl ihr das Grundstück deutlich zu ameisenbesetzt ist. Und ich glaube, sie fürchtet sich ernsthaft davor. Sie waren ja gestern nicht nur, wie Papa beschrieben hat, auf ihrer Decke und haben sie gepiesakt. Nein, als sie fressen wollte, saßen sie auf den Brekkies und krabbelten in ihre Nase und wenn sie eine auf dem Fliesenboden sah, hüpfte sie gleich erschrocken davon, die Ameise fest im Blick. Erst wenn sie gesehen hat, dass ich den Feind beseitigt habe, konnte sie ihr Eigentum wieder beanspruchen. Manchmal ist mein Hund ein Baby...

Die Morgensonne gibt bereits alles. Selbst ich kann in kurzer Hose loslaufen. Und das will etwas heißen. Die Streckenführung ist heute abwechslungsreicher, aber anfangs nicht unbedingt schöner. Wieder laufen wir über blendend weiße, kalkig staubige Geröllpfade. Mal durch Wiesen, dann unter der Autobahn durch, an bellenden, geifernden Hunden vorbei. Auch dieses Mal schaffen wir es wieder. Bis nach Flaujac-Poujols tut sich nicht viel, wir marschieren eben... Wir sehen ein Schild: "Aire du pique-nique, Eau potable, boissons fraiche, 150 m". Das finde ich gut! Es ist zwar noch früh, aber bei der kurzen Etappe heute können wir die Pause ruhig jetzt schon einlegen. Als wir darauf zusteuern, wieder mal die Enttäuschung: Nicht bewirtschaftet! Toll! Wenigstens Wasser für Sira gibt es, also schlägt sie sich den Bauch voll und wir ziehen weiter. Wir überholen einen lustigen Wandertrupp, der mal wieder von Sira begeistert ist. Nach ein paar Fotos ziehen wir an ihnen vorbei. Im Weggehen höre ich das erste Mal im Ansatz das "Ultreia"-Lied. Ein Mann der Gruppe singt es. Ich freue mich drauf, es irgendwann mal ganz zu hören.

  Als wir endlich eine geeignete Wiese für die Pause finden, sind wir auch schon fast am Ziel. Nach einer Rast in der Wiese mit echt geschmolzener Schokolade laufen wir  über die brennende, schrottreife Hochfläche nach Cahors hinunter. Eine sehr schöne alte Stadt mit einer wunderschönen Kathedrale. Wieder mal bewundern alle den Hund. Allerdings ist es hier wirklich ein Spießrutenlauf, den auffallend vielen Punks und Obdachlosen mit Hunden auszuweichen. In einer engen Stadt braucht es niemand, dass sich zwischen lauter Passanten auch noch Hunde miteinander bekannt machen.

Nach der Stadtbesichtigung erreichen wir unsere Unterkunft, mit allem, was das Herz begehrt: Begrüßungsdrink, Trinkwasserhahn, Schuhputzzeug, ein Doppelzimmer für uns, kalte Getränke in der Selbstversorgerküche und ein herrlicher Garten, in dem Sira erstmal angepflockt wird. Und das alles für zwölf Euro! Sira bedankt sich dafür ganz herzlich, indem sie erstmal in den Garten kackt, dann pinkelt und dann zweimal kotzt.

Was denn?!? So drückt sie aus, dass sie sich wohlfühlt!

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Mi

24

Apr

2013

Reinhard: Ein Hauch von Spanien

Von Limogne-en-Quercy nach Lalbenque, 25 km

So früh wie selten, schon um 7.30 Uhr, verlassen wir die Gite in Limogne-en-Quercy und ziehen in den neuen Tag, in einen neuen Pilgeralltag. Viele dieser Tage haben wir jetzt schon durchlebt, vieles ist immer wieder anders, vieles immer wieder gleich. Wie sieht so ein Pilgeralltag aus, wenigstens unserer?

Annis Handywecker meldet sich morgens früh zu unterschiedlichen Zeiten, je nachdem wie wir es vereinbart haben. Die Weckzeit liegt zwischen 6 Uhr und 7.30 Uhr, abhängig von der anstehenden Kilometerzahl, den zu erwartenden Temperaturen, eventuell beabsichtigtem Besichtigungsprogramm unterwegs oder am Etappenziel. Anni steht zuerst auf und geht ins Bad, ich habe noch Galgenfrist. Sobald Annis Morgentoilette beendet ist, weckt mich Sira (obwohl ich natürlich schon wach bin). Während ich mich zur Körperpflege trolle, packt Anni ihren Rucksack. Wenn ich dann das Gleiche tue, geht Anni mit Sira in die nächste gassigerechte Grünzone. Dann ist Frühstück angesagt, entweder serviert und Marke "süß" (Marmelade, Marmelade, Marmelade) oder selbstangerührt und Marke "pampig" (Haferflocken mit Ovomaltine verfeinert). Zwischen 7.30 Uhr und 9 Uhr sind wir "on the road". Gerastet wird zwei bis drei Mal, je nach Tagespensum. Je nachdem wo es möglich und wie es notwendig ist, müssen wir Lebensmittel einkaufen. In den größeren Städten gibt es dafür die großen (und natürlich auch viel preiswerteren) Supermärkte. In den kleineren Orten finden wir mit Glück eine Epiceri (mit Preisen, die Anni verzweifeln lassen) oder sogar nur eine Boulangerie für das liebgewonnene Baguette. "Zieleinlauf" ist in der Regel zwischen 15 und 17 Uhr. In der Unterkunft wird zuerst Sira versorgt, anschließend richten wir uns im Zimmer ein. Duschen, relaxen, ein Käffchen trinken - der Wohlfühldreiklang nach einem anstrengenden Wandertag. Jetzt Abendessen, selbst angerührt, von der Unterkunft als Halbpension angeboten (und selten angenommen) oder ab und zu (zu besonderen Anlässen) mal essen gehen. Dann die wichtige "Büroarbeit": Route des nächsten Tages studieren, Unterkünfte reservieren, Geldausgaben und "geschossene" Fotos notieren - und immer wieder bloggen, bloggen, bloggen, ... Zwischen 23 Uhr und 0.30 Uhr wird das Licht ausgemacht. So geht's!

Trotz der frühen Uhrzeit sind in Limogne-en-Quercy schon einige Menschen auf der Straße. Ja, auch das hat sich mittlerweile etwas geändert. Auch in kleineren Orten sehen wir Menschen. Liegt es am Frühling, an der Sonne, dass es sie auch mal auf die Straße treibt? An der Kreuzung bei der Mairie sitzt ein Trupp Arbeiter um einen Tisch herum auf dem Bürgersteig vor einem Cafe, trinkt einen Kaffee und unterhält sich. Ist das hier eine Dienstbesprechung vor dem eigentlichen Arbeitsbeginn? Das wäre doch mal eine Idee: Jeden Morgen Dienstbeginn mit einer Einsatzplanung bei Kaffee und Mettbrötchen im Straßencafe (oder Biergarten) zur Verbesserung des Betriebsklimas. - Wir grüßen und die Männer grüßen zurück.

Hinter Limogne-en-Quercy erstreckt sich die Causse du Limogne, wieder eine Kalkhochfläche wie am gestrigen Tag. Zum Teil steppenartige Graslandschaft, weite Flächen mit niederem Eichenwald, nur selten mal landwirtschaftlicher Anbau. Etwas abseits des Weges eine Besonderheit, ein Dolmen. Auf den Causses sind sie sehr verbreitet und zeugen von einer sehr frühen Besiedlung durch die sogenannten Megalithkulturen. Die Dolmen dienten wahrscheinlich als Grabkammern und Altarsteine. Ich ziehe sie als eine mögliche Schlafkammer in Erwägung, was Anni aber nicht begeistert.

In Varaire treffen wir - nicht zum ersten Mal - auf einen recht großen, ummauerten Teich, voller Algen und mit einigen Enten, direkt dabei ein alter Waschplatz. Wäre alles sauber und gepflegt, das Wasser von guter Qualität, könnte dies ein wunderbarer Dorf-Swimmingpool sein. Aber was ist es? Ein Löschteich? Ein Becken zur Wasservorratshaltung in dieser trockenen Gegend? Wie auch immer.

Wir rasten nebendran auf einer Bank auf der großen Dorfwiese und genießen die Sonne, die langsam, aber gewaltig immer mehr an Kraft gewinnt. Als wir gerade die schöne Ruhe genießen, kommt ein Mann mit laufendem Rasenmäher des Weges. Seine Aufgabe oder sein Hobby ist es offensichtlich, die örtlichen Grünanlagen zu mähen. Gerade als er mit unserer Rastwiese beginnen will, wird er von einem vorbeikommenden Autofahrer in ein Gespräch verwickelt und wir haben noch etwas länger unsere Ruhe.

Die nächsten Stunden werden körperlich und mental immer anstrengender. Die Landschaft links und rechts des Weges ändert sich den ganzen Tag wenig. Der Weg verläuft hauptsächlich zwischen teilweise eingestürzten Kalksteinmauern, dahinter erstrecken sich über lange Abschnitte niedere Eichenwäldchen, deren Bäume efeubehangen, bemoost oder flechtenbesetzt sind. Manchmal werden Graslandschaften sichtbar, seltener Ackerflächen. Der Weg ist knochentrocken, schottrig, staubig. Eidechsen, die zuvor noch, sich sonnend auf dem Weg gelegen haben, flitzen zur Seite weg und flüchten sich in die Mauerritzen. Es wird immer wärmer. Wir brauchen mehr Wasser als sonst, vor allem Sira braucht mehr. Wir erleben einen Hauch von Spanien.

Um zu unserer Unterkunft zu kommen, müssen wir den Jakobsweg verlassen und fünf Kilometer lang eine Straße entlangdatschen, ohne jeden Schatten. Man soll gar nicht glauben, wie lang fünf Kilometer sein können. 

In Lalbenque haben wir es geschafft. Wie vor ein paar Tagen bei der telefonischen Reservierung vereinbart, rufe ich unseren Gastgeber an, der uns nach unserem Schnelleinkauf beim örtlichen Supermarkt mit seinem Wagen abholt und zur Unterkunft bringt. Zu unserer Freude entpuppt sich diese zu einer zur Ferienwohnung umgebauten Steinhütte im Hirtenhütten-Style. Mal was ganz Anderes!

Zum Relaxen setzen wir uns noch nach draußen in die Sonne, Sira zu unseren Füßen auf ihrer Decke. Erst zum Abendessen gehen wir rein, vor der Hütte wird es jetzt zu kühl. Sira lehnt es zu unserem Erstaunen ab, ihre Decke zu nutzen. Anni entdeckt eine stattliche Anzahl an Ameisen auf Siras "Bettzeug" und hat Mühe, sie dort alle runterzuklauben. Worauf man nicht alles achten muss!

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Di

23

Apr

2013

Annika: Nicht nach jedem Bergfest geht's bergab...

Von Grealou nach Limogne-en-Quercy, 28 km

Der zähnefletschende und knurrende Schäferhund kommt auf uns zugerannt. Noch einen Meter, dann ist er bei uns. Er macht einen Satz und - ... Endlich weckt mich mein Wecker mal zur richtigen Zeit! Allerdings mag ich nicht aufstehen. Es ist schweinekalt. Im Zimmer gibt es keine Heizung. Sira wollte sich gestern trotz kaltem Boden nicht in das - zugegebenermaßen etwas knapp bemessene - Körbchen legen, das Innenleben ohne Körbchen gefiel ihr dann aber doch. Sie hat also nicht gefroren. Im Gegensatz zu mir. Die Wärmflasche, die Joze mir abends feierlich überreicht hat, hat zwar Heimatgefühle geweckt, nachts dann jedoch leider auch irgendwann ihr Pulver verschossen. Und dann diese Qual, aus dem wenigstens halb warmen Bett ins eisige Bad zu schlüpfen! Aber hilft ja nichts.

Nach einem außergewöhnlichen Frühstück mit Schokomüesli (die Schweizer wissen eben auch, was gut ist...) verabschieden wir uns von Anne und laufen in den herrlich sonnigen Tag hinein. Unsere Körper werfen auf dem Weg bereits lange Schatten. Gerade erzähl ich Papa noch von der zufriedenstellenden Heilung von Siras Ohr, da platzt es auch schon wieder auf und färbt ihr Hals und Kopf ein. Super... Warum sollte es auch anders sein als an jedem anderen Tag?! Aber es sieht TROTZDEM besser aus... Und heilt auch bald ganz zu, davon bin ich überzeugt.

Bald erreichen wir die wunderschöne, sanft geschwungene Hochebene. Soweit wir sehen können nichts als bewaldete Hügel und Wiesen. Keine Geräusche außer unseren Schritten, dem allgemeinen morgendlichen Vogelgezwitscher und dem täglichen Gruß des Kuckucks. Hier fühle ich mich sorglos. Und zuversichtlich. Wir schaffen das schon alles irgendwie.

Als wir eine unwirkliche Buschlandschaft passieren, trottet plötzlich ein Pferd auf uns zu. Es teilt sich sein Revier mit zwei Rindern. Insgesamt ist es einfach idyllisch.

Als wir den zugehörigen Hof passieren, schießen drei Hütehunde bellend auf uns zu. Einer von ihnen gibt scheinbar den Ton an. Kurz vor uns kommt er zum Stehen, dreht sich zu seinen Kumpanen um, bellt einmal und keiner von ihnen kommt weiter auf uns zu. Sie bellen zwar noch, lassen uns aber passieren. Erstaunlich ruhig und gelassen gehen wir vorbei. Yes, we did it! Sira schüttelt sich den Ärger ab, wir loben und tätscheln sie. Ich fühle mich gut.

Als wir hinunterlaufen nach Cajarc, fällt uns auf, dass die Landschaft sich verändert hat. Wo wir doch gestern durch Blütenmeere und Blumenwiesen gelaufen sind, beherrscht jetzt ein einheitliches Grün das Bild.

In Cajarc übermannt uns der Hunger. Wir kaufen ein Baguette und setzen uns zur Pause an den Fluss Lot. Wir bekommen Brot, Sira einen köstlichen algig-glitschigen Knüppel aus dem Wasser. Jedem das, was ihm schmeckt...

Als wir gerade unsere Karten studieren, kommt ein Passant vorbei. Ungefragt erklärt er uns den weiteren Weg und rät uns zu einer kurzen Variante. Wir nehmen an... Solch freundliche Menschen begegnen uns immer wieder. Ich zähle diese bereitwilligen Helfer zu den guten Seelen unserer Tour, die diesen Weg auch ein bisschen ausmachen.

Als wir die Höhe nach Andressac erklommen haben, kommen immer mal wieder sowohl von rechts als auch von links Hunde angeschossen. Siras und mein Verhalten in solchen Situationen normalisiert sich langsam wieder. Mein Puls bleibt fast ruhig, bei Sira entscheidet die Sympathie. Allerdings war auch noch kein Schäferhund dabei...

Ich glaube, alles in allem fühlt Sira sich auf unserer Reise sehr wohl. Sie wirkt immer wieder, als wäre das alles hier ein großes Abenteuer. Wenn wir durch Wald oder Buschgelände laufen, zieht sie ihre Nase wie einen Staubsauger über den Boden. Es gibt jeden Tag viel zu schnüffeln. Manchmal soviel, dass sie, wie heute, die gesamte Nase gelb gefärbt hat von Blütenstaub. Und wenn wir über Geröllpfade und zwischen Mäuerchen entlang laufen, scheucht sie Eidechsen auf und jagt dem schlängelnden Etwas bis in die kleinste Fuge nach. Die Sache mit dem Ohr belastet sie nicht sonderlich und mit der nervigen medizinischen Versorgung mehrmals täglich hat sie sich auch gut abgefunden. Sie genießt es, jeden Tag von Pilgern und Herbergseltern gestreichelt und verhätschelt zu werden. Ihre Decke hat sie als Zuhause auf Zeit akzeptiert, freut sich aber über jede weichere Unterlage. Auf ihr Sofa mit ihrem Herrchen muss sie allerdings noch ein Weilchen warten.

Während wir weiter durch Felder und Wäldchen wandern, stellen wir wieder Veränderungen der Umgebung fest. Wir laufen wieder durch blühende Landschaften. Immer wieder strömen uns benebelnde Blütendüfte in die Nase. Die Löwenzahnfelder entwickeln sich so langsam zu Pusteblumenteppichen. Die Sonne hat auch auf unseren Pfaden ganze Arbeit geleistet. Wo man vor einer Woche noch durch Matsch gewatet wäre, ist der Lehmboden nun spröde, ausgedörrt und aufgesprungen. Der Weg sieht aus wie in der Wüste. Als habe es Wochen nicht geregnet.

Als wir nach einem geeigneten Plätzchen zur zweiten Rast Ausschau halten, erreichen wir bei St.-Jean-de-Laur die Hinterseite eines alten Waschhauses. Jakobsmuscheln hängen an einer Schnur. Ein Schild ist angebracht: "Pause" ... "Cafeteria" ... Yes! Genau das Richtige! Als wir die Vorderseite des Häuschens sehen, werden wir allerdings enttäuscht; Es ist noch nicht bewirtschaftet! Wenigstens können wir von den Plastikstühlen und dem "eau potable" profitieren. Wir ziehen die Schuhe aus und lümmeln uns in der Sonne. Nach einer Weile stelle ich fest, dass sich immer mehr Fliegen im Dunstkreis meiner Füße versammeln. Was wollt ihr mir damit sagen, Leute?!?

Grundsätzlich entwickle ich auf dieser Tour ein anderes Ekelempfinden als zu Hause. Mich schockiert so leicht nichts mehr... Vor allem, was Sira betrifft. Andauernd Kackebeutel bestücken, Umgang mit Siras Eiterohr und der Tatsache, dass sie ganz wild darauf ist, Kruste oder Eiter zu fressen. Der Moment, in dem sie eine Überdosis Gras wieder hochwürgt. Das begeisterte Fressen von Pferde- und Kuhmist. Papa findet das alles ziemlich ekelig (verständlicherweise). Tja, ein Hundeleben ist nicht immer appetitlich...

Bald erreichen wir unsere "gite communal" in Limogne-en-Quercy. Wir schlafen direkt über einer Art lateinamerikanischer Tanzschule. Man hört immer wieder die gleichen dreißig Sekunden eines Liedes und eine Frau, die immer "Hey! Hey!" schreit. Wir lachen herzhaft.

Bis auf Anne haben wir unsere Pilgertruppe der ersten Tage aus den Augen verloren. Es gibt auf der Strecke sehr viele Übernachtungmöglichkeiten, aber leider nicht für uns. Da wir auf bestimmte Unterkünfte angewiesen sind, sind wir vermutlich allen davongelaufen. Schade! Aber das ist eben der Preis, den wir für unsere ungewöhnliche Expedition zahlen. Eine schwer siraverliebte Französin kreuzt seit einigen Tagen mehrfach täglich unseren Weg. Mal sehen, wie lange das so bleibt.

Wie Ihr seht: die Leute kommen und gehen. Genauso wie die guten und die schweren Tage. Und wir gehen auch: Durch Schmerz, Angst, Leid und Zweifel, ebenso wie durch Begeisterung, Muße, Spaß und Genuss.

Weiter geht's!

Bereit für die zweite Hälfte!

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Di

23

Apr

2013

Reinhard: Genusswandern

Von Figeac nach Grealou, 23 km

Den heutigen Pilgertag kann man eigentlich nur unter einem Begriff zusammenfassen: Genusswandern.

Doch vor das Wandern hat der liebe Gott das Frühstück gesetzt. Aber ohne Baguette ist das auch blöd und die Boulangerie neben unserer Gite ist am heutigen Montag geschlossen, obwohl wir gestern Abend vom Gite-Betreiber noch eine andere Auskunft bekommen haben. Also können wir unsere Butter und den Camembert auch wieder in den Rucksack packen. Ohne Frühstück losgehen? Auf der anderen Seite der Gasse unsere Rettung: Ein kleiner Art-Decor-Laden bietet auch zu dieser frühen Stunde zusätzlich die Möglichkeit zum Frühstück an. Wir packen in der Gite schnell unsere Siebensachen zusammen und wechseln die Lokalität. Zwischen allerlei Krimskrams, von dem einiges durchaus Annis Wohlgefallen findet, beißen wir zufrieden in die mit Marmelade beladenen Baguettestücke und schlürfen an Kaffee bzw. Tee.

Als die Sonne es bereits schafft, ihre Strahlen bis in die enge Gasse zu werfen, machen wir uns auf die Socken. Ach ja, Stichwort "Socken". Beim Anziehen meiner Wandersocken muss ich heute früh feststellen, dass nun auch beim zweiten Paar die großen Zehen freien Ausgang wünschen. Ich werde ihnen dies noch ein paar Tage gewähren, dann kommt das dritte Paar zum Einsatz.

Beim Ausgang aus Figeac haben wir etwas Mühe. Entweder ist die Wegbeschreibung im Wanderführer nicht mehr auf dem neuesten Stand oder wir übersehen eine Markierung, jedenfalls gibt uns die Wegführung anfangs etwas Rätsel auf. Doch dank Anni und GPS sind wir schnell auf der richtigen Strecke und kürzen sogar noch etwas ab.

Unsere Etappe führt heute über die Causse Quercy, eine Kalkhochfläche zwischen dem Cele- und dem Lot-Tal. Weiden und Eichenwälder dominieren diese Landschaft, kleine Weiler liegen vereinzelt und weit verstreut. "Hochfläche" ist hier aber nicht gleich "Ebene", denn das Relief ist immer leicht wellig. Steinmauern grenzen die Weiden ein und in Senken wird auf oft winzigen Flächen intensiver Ackerbau betrieben. Kleine und manchmal auch etwas größere runde, nach oben hin spitz zulaufende Steinbauten stehen oft mitten auf oder am Rande der Weiden, zum Teil sogar efeuüberwachsen. Schafhirten haben ehemals hier bei Bedarf Unterschlupf gefunden. Manchmal schlüpfen heutzutage Pilger in ihnen unter, zur Rast bei sengender Sonne, zum Schutz bei Regen oder Gewitter, vielleicht sogar schon mal zum Übernachten.

Heute ist das Wetter einfach nur zum Helden zeugen. Die Sonne strahlt über das ganze Gesicht, Schäfchenwolken sind auf der Reise und die Temperaturen sind angenehm. Der Blick geht oft zu beiden Wegseiten über Löwenzahnteppiche ins Tal, entlang der hellen Kalksteinmauern lachen einen die verschiedensten Frühlingsblumen und -stauden freudig an, Vögel singen besonders laut und schön und diverse Insekten summen um die Wette. Die Glückshormone schlagen Purzelbaum.

  Annis Tief von gestern scheint auch überwunden. Sira läuft recht passabel an der Leine und gibt sich Mühe, nicht mehr jedem Pilger nachzuhechten. Ich versuche, meiner Tochter etwas die Zweifel an der Zukunft ihres Jakobsweges zu zerstreuen, was mir hoffentlich ein wenig gelingt. Beißende Schäferhunde kommen heute auch nicht vor, Anni ist sehr zufrieden mit dem Heilungsprozess von Siras Ohr und freut sich sehr über die aufmunternden Kommentare zu ihrem Blogeintrag. Die Tipps zur Anschaffung von Pfefferspray zieht sie bei einer Rast ernsthaft in Erwägung und denkt schon, bis zu dessen Erwerb, über die Verwendung eines einfachen Pfefferstreuers nach. Ich bringe eine Pfeffermühle ins Spiel, gebe aber dabei zu bedenken, dass man bei deren notwendigem Einsatz zusehen müsste, sich immer senkrecht über dem angreifenden Hund zu positionieren. Und das gäbe ja wohl irgendwie keinen Sinn. Wir können herzlich bei diesem Gedanken lachen.

Bei der gleichen Rast begeistert Sira wieder mal vorbeikommende Pilgerinnen. Die eine fragt uns, ob sie die feine Hundedame fotografieren dürfe, eine andere zückt direkt aus ihrem Rucksack die angefangene Dose mit Entenpastete und bietet sie der vierbeinigen Pilgerin an - für die kleine Mahlzeit zwischendurch. Siras Zunge kann gar nicht so schnell schlecken, wie sie eigentlich will. Zum Schluss beißt sie noch vor Wonne ins Blech.

Im kleinen pittoresken Ort Faycelles treffen wir eine "alte Bekannte" wieder. Anne, die muntere Deutsch-Schweizerin, läuft uns auf dem kleinen Platz vor der Mairie wieder in die Arme. Zwei Tage lang haben wir uns jetzt unterwegs nicht mehr gesehen. Und es gibt doch so viel zu erzählen ... Die Rast dauert länger. Bevor wir uns wieder trennen, erfahren wir noch, dass sie in Grealou in der selben Unterkunft übernachten wird wie wir.

  Tatsächlich sitzen wir ein paar Stunden später gemeinsam vor der schönen Gite von Esther, einem schweizerischen Wirbelwind, der herzlich um das Wohl der Pilger bemüht ist. Selbst Sira bekommt von ihr einen Hundekorb für die Nacht und eine Extraration Futter. Zu ihren Diensten steht noch Joze, guter Geist und Koch des Hauses. Abends zaubert er uns allen ein leckeres Essen, das wir in der Küche am großen Tisch gemeinsam einnehmen. - Gelebte Pilgergemeinschaft.

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So

21

Apr

2013

Annika: Es könnte besser gehen...

Von Livinhac-le-Haut nach Figeac, 24 km

Das morgendliche Vogelkonzert versucht, mir das Aufstehen zu erleichtern. Mit einem desserttellergroßen Bluterguss am Oberschenkel ist es allerdings gar nicht so leicht, sich aus seinem Schlafsack zu schälen.

Sira ist froh, den Campingplatz in Ruhe verlassen zu können, ohne dass das Riesenkalb von Bernhardinerdame wieder auf sie zugestürmt kommt. Frei nach dem Motto: "Wer aus dem Sattel fliegt, muss sofort wieder aufsteigen" haben der Campingplatzbetreiber und ich nach dem Abendessen noch versucht, unsere beiden Damen einander anzunähern. Die Gegenseite wollte nichts anderes als Sira beschnuppern, Sira hat diesen Versuch nur panisch verbellt und immer wieder die Flucht ergriffen. Mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen seitens des Campingplatzbetreibers konnte die verständnislose Bernhardinerin am Ende wenigstens kurz an Sira schnuppern, ohne dass sie völlig durchgedreht ist. Immerhin.

Wie immer schlägt meine Blase bereits Alarm, als wir gerade mal zehn Minuten unterwegs sind. Die öffentliche Toilette von Livinhac kommt mir da gerade recht. Ist wie immer keine Augenweide, aber in Ordnung. In Sambia habe ich Schlimmeres gesehen. Ich schließe die Tür ab, schalte das Licht an - und sehe direkt unterm Schalter eine friedlich schlummernde Fledermaus. Schlafende Hunde soll man nicht wecken. Unverrichteter Dinge ergreife ich die Flucht.

Als wir einen Blick zurück auf den Ort werfen, sehen wir bereits mehrere weitere Pilger, die ihre Tagesetappe in Angriff nehmen. Noch sind sie weit hinter uns. Nach fünf weiteren Minuten überholen sie uns. Mann, sind die schnell. Zwei von ihnen haben wir schonmal gesehen, zwei sind "neu". Der eine spricht uns auf deutsch an. Er habe seit Tagen Franzosen, Holländer, Kanadier, Deutsche und Schweizer getroffen und alle haben sie von uns und unserem Hund erzählt. Er sei so froh, uns zu sehen und brauche unbedingt ein Foto. Kein Thema. So langsam sollten wir Geld dafür verlangen. Wir könnten uns so ganz gut finanzieren... Der junge Mann erzählt, er habe heute 35 km vor sich. Meine Herren! Und das ist seine reguläre Etappenlänge. Na, kein Wunder, dass der so rennt... Als die flotte Truppe weiterzieht, ist Sira erstaunlich ruhig und zieht kaum an der Leine. Na endlich, geht doch!

Bald erreichen wir nach stetiger, sanfter Steigung Montredon. Am Ortsausgang taucht vor uns auf einmal eine Herde von zwölf Pilgern auf. Hier ist es vorbei mit Siras Ruhe. Dieses Trüppchen will sie einfach nur kriegen. Mal wieder ein Geziehe und Gezerre... Wir entscheiden uns bald für eine Pause und lassen die "Reisegruppe" aus Siras Geruchsfeld ziehen. Das Wetter gestaltet sich heute freundlicher als in den letzten zwei Tagen. Der Wind ist weitaus milder und es ist bedeckt, aber nicht mehr regnerisch.

Der gestrige Tag hat bei Sira und mir deutliche Spuren hinterlassen. Unser behutsam Tag um Tag aufgebauter lockerer Umgang mit und Vertrauen in andere Hunde wurden gestern mit einem Mal "zerbissen". Jeder Hund, der jetzt hinter einem Gartenzaun erscheint, lässt mein Herz höher schlagen und Sira panisch auf die Straße ausweichen. Ich bete jedes Mal, dass der Zaun dicht ist und der Feind nicht drüber springt. Und warum haben hier eigentlich alle Leute nur deutsche Schäferhunde oder Bullmastiffs? Wo sind die freundlichen Australian Shepherds und Siras geliebte lustige Jack Russell Terrier, wenn man sie mal braucht?!?

Als wir der Landstraße folgen, ist es auch schon wieder so weit: Schon auf 100 m Entfernung sehen wir einen Schäferhund, der aufgeregt bellend hinter seinem Zaun auf- und abläuft. Sira hat er bereits fest im Visier. Zwei alte Männer bewegen sich in Zeitlupe und mit Gehhilfe auf das Tor zu. Natürlich werden unser aller Befürchtungen war, die Männer öffnen das Tor und das riesige Ungetüm schießt bellend auf uns zu (waren Schäferhunde schon immer so groß???). Ich bin wie gelähmt, Sira versucht, panisch bellend zu flüchten und Papa versucht, mit "Ruhig, ruhig..." die Situation zu entschärfen. Der Schäferhund bellt aber immer noch, die Männer brüllen und Sira und ich sterben bald vor Angst. Schließlich gelingt es den Herren, den Riesen zurückzupfeifen, natürlich nicht ohne zu beteuern, wie lieb der ist und dass der außer Bellen ja gar nichts tun würde. Ist klar... An dem eingefangenen, jetzt sehr ungehaltenen Ungetüm vorbeilaufend, bete ich mal wieder, dass der Zaun dicht ist.

Den weiteren Weg über die Landstraße bin ich sehr in mich gekehrt. Ich frage mich, wie das weitergehen soll. Klar, es gibt tausend andere nette Hunde. Klar, ich kann es sowieso nicht verhindern, wenn uns ein Hund angreifen will. Klar, dass Sira und auch jeder Hund, der uns begegnet meine Panik spüren. Trotzdem kann ich genau das nicht verhindern. Es ist die nackte Angst. Mein Herz schlägt. Die Knie werden weich. Ich zittere. Ich fühle mich wie gelähmt. Und das Schlimmste daran ist, dass uns nicht nur weitaus mehr Hunde begegnen werden, sondern auch weitaus mehr feindlich gesinnte Hunde, auch Straßenhunde. Ich weiß nicht, wie ich das in den Griff kriegen soll. Und ich weiß auch nicht, wie ich meinem Hund in einer solchen Situation die heile Welt vorspielen soll. Blöd ist er  ja nun nicht...

Die ganzen Schwierigkeiten, die uns in den letzten Tagen begegnet sind, zehren an meinen Nerven und meinen Kräften. Ich fühle mich wie ein dick geflochtenes Seil, an dem seit Tagen jemand mit einem stumpfen Messer sägt. Jeden Tag wird das Seil etwas schwächer und vielleicht reißt es irgendwann ganz. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht ist das Seil auch stark genug, bis nach Spanien durchzuhalten. Im Moment weiß ich es wirklich nicht. Vielleicht ist ja auch Jakobus der mit dem stumpfen Messer. Vielleicht will er mich prüfen oder mir etwas sagen. Oder Gott. Ob ich diese Prüfungen bestehen werde, werden wir sehen.

Eine Gruppe Pilger überholt uns bald. Es sind die Jungs vom Morgen, die wohl zwischenzeitlich lange gerastet haben. Wir laufen über grobes Geröll und die Jungs laufen im gleichen Tempo wie heute morgen. Einer von ihnen stolpert und stürzt. Ich erwarte gebrochene Knochen, aber er steht einfach auf, klopft sich den Staub ab und gibt Entwarnung: "Nichts passiert!" Andere haben nicht soviel Glück: Kürzlich haben wir von einer Pilgerin erfahren, die bei einem solchen Stolperer mit ihrem Gesicht auf dem Wanderstock gelandet ist und sich die Schneidezähne mitsamt Wurzeln rausgehauen hat. Da kann ich mich über meinen "harmlosen" Hundebiss kaum beschweren.

Auf dem weiteren Weg bleibt Sira plötzlich wie angewurzelt stehen und fixiert einen Hauseingang. Die Vorsteher-Pfote bringt sich in Position. Ihrer Meinung nach hat sie eine Katze entdeckt. Naja, so ähnlich... Sie taxiert drei Scheite Holz.

Bald erreichen wir unsere Unterkunft. Ich rolle mich auf meine nichtblaue Seite und verbringe die nächsten drei Stunden mit meinem berühmten Protestschlaf. Dieser tritt in Kraft, wenn ich alles doof finde und so lange schlafe, bis alles wieder gut ist. Das kann ich bis zu neunzehn Stunden am Stück. Diesmal waren es nur drei. Ist doch ein gutes Zeichen.

Immer wieder versuche ich mir zu sagen: es kommen wieder bessere Tage!

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Sa

20

Apr

2013

Reinhard: Hälfte geschafft!

Von Conques nach Livinhac-le-Haut, 24 km

Bitte mal zu Hause die Fanfaren blasen! Wir Jakobspilger haben die Hälfte geschafft!!! Und das in doppelter Hinsicht: Wenn wir davon ausgehen, dass Santiago de Compostela zwar unser Hauptziel ist, wir uns aber als kleinen "Nachschlag" noch eine Handvoll Tage bis zum Kap Finisterre bzw. bis Muxia auferlegen wollen, dann haben wir gestern von der Kilometerzahl und morgen von den Wandertagen her tatsächlich "nur noch" nochmal so viel vor uns. Gigantisch!

Kleines Zwischenfazit: Der Jakobsweg hat für mich bisher nichts von seiner Faszination eingebüßt. Die Landschaften, Städte und Dörfer, durch die wir gezogen sind, begeistern mich immer aufs Neue, halten ständig andere Überraschungen für mich bereit. Die Menschen sind freundlich, grüßen, haben Spaß an Sira, wünschen "Bon route!". Die Zahl der Mitpilger steigt beständig und jeder hat für den anderen ein gutes Wort. Das leibliche Befinden ist sehr zufriedenstellend. Die Hornhaut unter den Füßen wird zusehends dicker. Eigentlich könnte ich mir noch ein Profil reinschnitzen und die Schuhe wären überflüssig. Blasen - Fehlanzeige! Verdauung - komplikationslos! Die Gelenke der Knie und Hüften arbeiten inzwischen reibungslos und auch bei der "goldenen Schraube" am Rücken setzt deutliche Besserung ein. Nur die Schultergelenke singen schrill das Hohelied vom leise rieselnden Kalk und haben etwas dagegen, vom Rucksack weiterhin derart malträtiert zu werden. Die Schultermuskulatur schließt sich dem gerne an und sorgt für Verspannungen. Mein Körpergewicht geht wunschgemäß herunter und ich kann so langsam damit beginnen, auf meinen Rippen Klavier zu spielen. Kopfhaar und Bart sprießen und irgendwie sehe ich struppig aus. So muss es als Pilger sein.

Und was habe ich über solch eine lange Strecke über mich selbst erfahren? Zu welchen Erkenntnissen bin ich gekommen? Zunächst einmal, dass das Geld ganz schön schnell weniger wird, dass man sich beschränken muss, dass man mit wenig auskommt, wenn man es nur will. Auf die großen, zukunftsweisenden Gedanken warte ich (noch) vergebens, erst recht auf die spirituellen Erkenntnisse. Ersatzweise kommt mir in den Sinn: Boah, ist das schön hier! - Huch, da ist er ja wieder, unser Kuckuck! - Verdammter Schotterweg! - Jippiihh, nur noch zwei Kilometer! ...

Das tägliche Zusammensein mit Annika ist eine Freude. Ein zwischenmenschlicher Lagerkoller ist noch nicht eingetreten. Ich bewundere ihren Umgang mit Sira: voller Liebe, aber auch großer Konsequenz. Ihr Weg mit Sira ist körperlich und nervlich anstrengender als meiner. Ich hoffe nur, dass sie das nicht überfordert und sie wenigstens zum größten Teil die Natur so genießen kann wie ich.

Ich freue mich riesig auf die zweite Hälfte!

Es ist empfindlich kalt, aber sonnig, als wir unser Mobil-Home auf dem Campingplatz von Conques verlassen. Unmittelbar hinter der Pilgerbrücke beginnt der Aufstieg, und zwar einer, der sich gewaschen hat. Über Felsen und Baumwurzeln mühen wir uns hoch und kommen trotz der Morgenfrische bald ins Schwitzen. Vielfach ausgetretene Stellen im Fels zeugen von Hunderttausenden von Pilgern, die hier ebenfalls schon geschwitzt haben.

Oben auf der Höhe dann ein leichter Weg. Wir nehmen nicht die Hauptroute, sondern die Variante. Aber gerade sie folgt dem historischen Verlauf des Jakobsweges - auf kleinen, aussichtsreichen Straßen. Je länger wir unterwegs sind, umso mehr zieht es sich zu. Der Wind wird immer stärker, ja eisiger. Die Fleecejacke kommt unter meinem Anorak wieder zum Einsatz, ebenfalls Ohrenschutz, Hut und mein Buff als Halstuch. Wie seinerzeit in der Schnee-Eifel. Die Aussicht nach links und rechts in die Täler ist beeindruckend, könnte aber noch besser sein, wenn der Dunst in der Ferne nicht immer weiter zunähme. Der Wind wird immer stärker, beutelt uns manchmal richtig hin und her. Zur Rastzeit kommt zwar ein schöner, kleiner Rastplatz wie gerufen, jedoch ganz windgeschützt ist er auch nicht. Also weiter!

Ein langer Abstieg schont den Kreislauf, aber lässt die Oberschenkelmuskulatur jubilieren. Noch vor Decazeville dann der Schock! Ein großer Schäferhund kommt von einem Gehöft bellend zu uns an die Straße gejagt und baut sich drohend vor uns auf. Sira gefällt ihr Artgenosse nicht und sie kläfft ein Mal kurz auf. Sekundenbruchteile später springt der Köter vor - und beißt Anni in den Oberschenkel. Anni schreit erschrocken auf und gleichzeitig versucht das Mistvieh, Sira zu packen, was ihr aber glücklicherweise nicht richtig gelingt. Mit Fußtritten und Geschrei versuche ich, den Beißer und meine Pilgergenossen auseinanderzuhalten. Zusätzlich reiße ich meinen großen Schirm aus dem Rucksack, für den Fall, dass der Schäferhund den nächsten Angriff startet. Ob es mein Geschrei, mein Schirm oder dann doch die gellenden Rufe der Bäuerin sind, die den Angreifer abdrehen lassen, wird sich nicht eindeutig klären lassen. Sira ist verschreckt, ich auch, Anni ist stinksauer. Und als die herbeieilende Bäuerin sich nach Annis Befinden erkundigt, bekommt sie von ihr die passende Antwort, im besten Französisch. Ein blutiger Kratzer und eine heftige Schwellung bleiben bei Anni zurück. Gut, dass noch Tetanusschutz besteht.

  Beim Gang durch Decazeville dann fast eine Duplizität der Ereignisse: Links hinter einem Gartenzaun spielt der nächste Schäferhund verrückt. Wir wähnen uns vor ihm sicher und gehen vorbei. Von Sira kommt kein Ton, sie verhält sich vorbildlich. Im selben Moment rast rechts hinterm Gartenzaun der nächste Schäferhund heran - und springt mit einem Riesensatz über den Zaun. Anni und Sira stehen wie angewurzelt. Aber unser nächster vierbeiniger Freund ist harmlos, er will eigentlich nur spielen. Sira hat jetzt die Schnauze voll und hält sich drohend den verliebten Verehrer vom Leib.

Dass auf dem Campingplatz in Livinhac-le-Haut, wo wir mal wieder in einem Mobil-Home übernachten, ein riesiges, aber treudoofes Ungetüm von Bernhardiner auf sie wartet, kann sie zu dem Zeitpunkt noch nicht ahnen. Doch das erzählt euch morgen Annika.

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Fr

19

Apr

2013

Annika: Glockenruf

Von Golinhac nach Conques, 25 km

  Gestern Abend haben wir entschieden, wieder früh loszugehen. Mein Wecker steht auf sechs Uhr. Als ich beim ersten Klingeln meine Ohropax herausnehme, höre ich den Regen auf unser Dachgeschossfenster fallen. Bei dem Wetter fängt kein früher Vogel den Wurm. Ich stelle den Wecker auf sieben und schlafe weiter.

  Beim zweiten Alarm ist das Wetter nicht besser, aber irgendwann müssen wir uns aufraffen. Im großen Gemeinschaftszimmer am Ende des Flurs ist schon Palaver angesagt. Man packt. Wir sind die Letzten, die, in Pelerine gehüllt bzw. mit Regenschirm bewaffnet, die Gite verlassen.

In gleichmäßigem, mittelstarkem Regen erklimmen wir unsere erste Höhe.

Nach einer halben Stunde gönnt man uns eine kleine Pause, bevor das Gefissel die nächste Runde einläutet.

Dem Löwenzahn gefällt das Wetter wohl auch nicht. Wo gestern noch weite gelbe Blütenteppiche die Landschaft schmückten, hat sich nun wieder alles verkrümelt. Kann ich verstehen, hätte ich am liebsten auch so gemacht!

  Beim Abstieg nach Espeyrac kommen wir durch die kleine Siedlung Le Soulié, wo ein Häuschen äußerst sympathisch für seine Pilgerfreundlichkeit wirbt: Unterkunft auf Spendenbasis, Kaffee und Tee hier erhältlich... Boah, hier könnt ich bleiben und den Regentag verstreichen lassen. Aber nix da! Wir haben gerade mal eine Handvoll Kilometer geschafft, also weiter...

In Espeyrac haben wir erstmal genug vom Nasswerden und rasten in einer Bar. Im TV dröhnt eine 80er-Jahre-Chart-Show, der die Inhaberin begeistert folgt. Wir trinken eine heiße Schokolade und Sira schlummert auf ihrer Decke. So ein nasser Hund stinkt schon gewaltig. Keiner verliert ein Wort darüber. Dann können wir das auch ignorieren.

  Als wir nach unserer Pause den Ortsausgang erreichen, läuten, wie auch bei unserer Ankunft im Ort, die Glocken. Es ist schon irgendwie auffällig. Wir haben das Gefühl, dass wir die Glocken jedes   Ortes bis jetzt haben läuten hören, sei es beim Ein- oder beim Auszug. Will uns auch damit Jakobus etwas sagen, ebenso wie mit dem immer noch täglich grüßenden Kuckuck? Vielleicht erfahren wir es irgendwann.

  Nach einem Anstieg erreichen wir Sénergues und folgen bald der Landstraße über weite Felder, über die der Wind pfeift.

  Auf einem steilen, rutschigen Pfad mit Geröll erreichen wir die ersten Häuser von Conques. Eine Katze sitzt auf der Mauer und taxiert Sira. Papa versucht, das Tier durch Klatschen zu verscheuchen, bevor Sira sie entdeckt. Und ich habe da so ein Gefühl... Ich sage Papa, er soll sie einfach mal in Ruhe lassen und hoffe auf absolute Unbeweglichkeit der Katze. Das hat schon öfter funktioniert. Katze und ich schauen uns an und hoffen in tiefer Einigkeit auf Siras Döseligkeit. Heute funktioniert das mal wieder. Sira ist hiermit und damit beschäftigt und trippelt unwissend einen Meter an einem köstlichen Mittagssnack vorbei.

  In die historische, am Hang errichtete Stadt Conques könnte ich mich sofort verlieben. Wohin man sich wendet, sieht man alte Steinmauern. Auf den alten krummen Treppen fühlt man förmlich die Schritte der Menschen eines Jahrtausends. Die Gassen sind schmal und gewunden, überall geht wieder nach rechts oder links ein Gässchen oder eine Treppe ab. In den Mauern blüht es schon jetzt pink, blau, gelb oder rot. Wie wunderschön muss es hier im Sommer sein, wenn auch der Wein an den Hauswänden Blätter trägt!

Als wir durch den Ort schlendern, sind wir bereits wieder die Hauptattraktion. Fotos und Gespräche noch und nöcher.

Wir treffen endlich wieder bekannte Gesichter; aus der Bücherei tritt der Franzose, mit dem wir die Unterkunft vor Le Puy, also vorm Hauptpilgerstrom, geteilt haben. Er wirkt nicht mehr so schmerzverzerrt wie in Le Puy.

Außerdem treffen wir auf die deutschsprachige Pilgerin, die seit Tagen immer wieder unseren Weg kreuzt. Sie ist die einzige, die wir schon so viele Tage lang immer wieder sehen. Jedes Mal, wenn wir uns treffen, reden wir ein bisschen und erfahren mehr übereinander. Was wir bisher nicht erfahren haben, ist ihr Name. Komisch, da redet man miteinander wie alte Bekannte, aber weiß noch nicht mal den Namen...

Jetzt sitze ich hier in unserem Mobilheim auf dem Campingplatz, freue mich über das (minimal) besser aussehende Ohr von Sira und Papa reserviert mit einem lustigen Französisch-Deutsch-Englisch- Mix weitere Unterkünfte.

Und endlich wird die Heizung warm!!!

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Do

18

Apr

2013

Reinhard: Frühling gefunden?! - oder was?

Von Espalion nach Golinhac, 28 km

Wie soll man einen Blog schreiben, wenn die Tochter zwei Meter neben einem im Bett liegt und mit ihrem Freund telefoniert??? Ohne Punkt und Komma erzählt sie von den Ereignissen der letzten Tage, von Siras Ohrproblemen und hört auch mal zu, was es zu Hause für Neuigkeiten gibt. Ich will ja gar nicht zuhören, aber wie soll das gehen?

Jetzt mal Konzentration! Der heutige Morgen beginnt, wie der gestrige Abend aufgehört hat - sonnig, blauer Himmel. Das heißt, wir sehen erst gar nichts davon, denn als wir um 6 Uhr aufstehen, ist es noch dunkel. Wir wollen heute wieder etwas schneller wegkommen, denn 27 Kilometer liegen vor uns. Annis Outdoorkocher steht seit gestern abend auf dem alten Holztisch auf der Terrasse und wird von mir umgehend zum Kaffee- bzw. Teekochen sowie zur Herstellung einer weiteren Porridgemahlzeit genutzt. Mit Porridge (oder auch Haferschleim) haben wir nur gute Erfahrungen gemacht. Er fällt im Magen nicht sofort so zusammen wie das französische Baguette, sondern kleidet die Magenwände prima aus und hält eine Weile vor.
Als wir mit diesem gehaltvollen Frühstück fertig sind, leuchten die Hänge auf der anderen Seite des Lot-Tales golden in der Morgensonne, ein Esel trompetet hingebungsvoll sein Iiiiaaaaa - es wird Zeit zum Aufbruch.

Espalion liegt noch etwas verschlafen da, als wir es kurz nach 8 Uhr durchqueren. In den Gärten etwas außerhalb blühen die Bäume und viele Zierbüsche, die Wiesen sind bedeckt von Löwenzahnteppichen, es ist eine Pracht! Löwenzahn gab es auf den Hochweiden der Aubrac auch schon, von einer Baumblüte war aber noch nichts zu erkennen. Im tiefgelegenen Lot-Tal ist das anders. Hier haben wir endlich den Frühling gefunden.

27 Kilometer sind nicht wenig, aber machbar, wenn die Strecke nicht zu viele Höhenmeter hat und die Wegebeschaffenheit einigermaßen fußfreundlich ist. Für heute sind laut Wanderführer aber einige steile Schotterpfade angekündigt - und ich hasse sie. Vor allem sind sie heute größtenteils unnötig. Kleine Straßen führen um Berge herum, helfen, mühsame Auf- und Abstiege zu vermeiden. Die Strecke wird geringfügig länger, doch zeitlich ist man kaum schlechter dran. Ich bin mir sicher, die Pilger des Mittelalters haben sich immer die einfachere von zwei Wegvarianten ausgesucht, nicht die kürzeste. Sie mussten mit ihren Kräften haushalten, aufpassen, sich nicht zu verletzen. Uns geht es doch nicht anders. Wir wollen nach Santiago und kein Kraxel-Diplom erwerben. Also wählen wir heute öfter die bequemere Straßenlösung und fahren gut damit.

Auf diese Art und Weise erreichen wir bereits nach etwas mehr als zweieinhalb Stunden das schmucke Örtchen Estaing. Auf der Pilgerbrücke aus dem Jahr 1520 überqueren wir die Lot und ziehen so in eins der Vorzeigedörfer Frankreichs ein. Die Häuser stehen dicht in den engen Gassen und allesamt werden sie überragt vom Schloss der einst einflussreichen Familie d'Estaing. Uns interessiert im Moment aber eher ein Laden zum Einkaufen. Da es in der Altstadt anscheinend nur eine Epicerie gibt, ist diese auch schnell gefunden. Während Anni das Nötigste holt, stromere ich mit Sira noch etwas durch die Gassen, werfe einen Blick in die schöne kleine Kirche und in den nahegelegenen Schlosshof. Als Anni mit einem frischen Baguette aus dem VIVAL kommt, bricht bei mir gnadenlos der Hunger durch. Wir setzen uns auf eine schöne Bank wieder jenseits der Pilgerbrücke und packen zum Baguette den wieder reifenden Käse aus dem Rucksack aus. Alles passt - nur das Wetter hat sich verschlechtert. Eine dunkle Wolkenwalze ist inzwischen über den eben noch blauen Himmel hinweggezogen und lässt uns frösteln.

Während der Camembert-Duft uns einhüllt, ziehen wieder Pilger an uns vorbei. Meist sind es andere als in den letzten Tagen. Vielleicht sind es diesmal die der frühen Stunde und die bekannten Gesichter kommen etwas später. Einer fällt uns aber besonders auf. Ein junger Bursche rauscht an uns vorbei. Hinten hat er sich eine Gitarre zusätzlich auf den Rucksack geschnallt. In unserer Unterkunft werden wir erfahren, dass er sein Instrument sehr gut beherrscht und sich mit Spiel und Gesang seinen Jakobsweg finanziert. Irgendsoetwas sollten wir auch tun. Vielleicht Sketche vorspielen?

Bald hinter Estaing geht es aufwärts, jetzt gibt es kein Entrinnen. 400 Höhenmeter, was ist das schon?! Und das ohne Sonne, auf einem Sträßchen, das sich in Serpentinen einen steilen Waldhang emporwindet. Die Steigung ist gerade so, dass ich richtig "hochpumpen" kann. Ich gebe Gas, Anni staunt, was der alte Sack noch so fertigbringt. Oben angekommen dampft zwar der Kessel, aber ich fühle mich gut. Doch welch anderes Bild: Heute morgen noch bei strahlendem Sonnenschein losmarschiert, jetzt bewegen wir uns in den tief hängenden Wolken, mit kaum 50 Metern Sicht, dazu ist es recht kühl. Ich bin froh, dass ich wieder meinen Anorak anhabe.

Wenn man genug hat, ziehen sich die letzten Kilometer wie Strumpfbänder. Endlich, um kurz vor 16 Uhr sind wir in der Ferienanlage von Golinhac. Ferienhütten, Snack-Bar, Kinderspielplatz, Swimmingpool. Im Rezeptionsgebäude auch eine Gite für müde Jakobspilger. Einer von ihnen, nämlich ich, macht direkt nach Ankunft (und noch vor der Dusche) ein Entspannungsnickerchen. Irgendwo muss die Kraft für's Bloggen doch herkommen.

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Mi

17

Apr

2013

Annika: Sorgenohr!

Von Nasbinals nach St-Chely-d'Aubrac, 18 km

Von St.-Chely-d'Aubrac nach Espalion, 27 km

In der Nacht von Montag auf Dienstag schlafen Sira und ich nicht besonders viel. Ihr Ohr scheint schrecklich zu jucken und ich kriege sie kaum vom Kratzen abgehalten. Trotzdem gebe ich mein Bestes.

Als wir die Gite verlassen, bin ich immer noch glücklich, dass der Aufenthalt gut verlaufen ist. Dass Sira ohne jeden Einwand mit im Zimmer schlafen durfte. Dass die Männer auf unserem Zimmer kein Problem damit hatten. Dass der eine freundliche Herr sogar so nett war, unaufgefordert sein Bett mit mir zu tauschen, damit Sira davor schlafen konnte. Dass Sira uns auch in die Gemeinschaftsküche begleiten durfte. Es war einfach so, als gehöre sie dazu.

Ich bin froh, dass ihr wenigstens das vergönnt ist, wo doch sonst das Glück zur Zeit nicht unbedingt auf ihrer Seite ist. Wie Papa schon gesagt hat, möchte ich jetzt noch einmal genauer über Siras gesundheitlichen Zustand berichten. Vorneweg: Es geht ihr gut! Sie hat außer ihrem blöden Ohr keinerlei Beschwerden und läuft immer noch jeden Tag mit Freude. Der Tierarzt hat gesagt, die täglichen Wanderungen stellen kein Problem dar und wir dürfen weitergehen. Die gesamte Geschichte: Wie Ihr noch wisst, hat Sira sich vor sechs Wochen am Stacheldraht eine Verletzung am Ohr zugezogen. Die wurde nicht größer und hat sich auch nicht entzündet, ist aber jeden Morgen aufs Neue aufgeplatzt, wenn sie sich geschüttelt hat und konnte dadurch auch nicht abheilen. Am Freitag in Saugues musste ich sowieso zum Tierarzt für ein neues Halsband, also sollte der bei der Gelegenheit einen Blick auf Sira werfen, im Allgemeinen und auf das Ohr.


Er sagt, dem Hund geht es allgemein super und das Ohr will er fixieren, damit sie es sich nicht mehr "aufschütteln" kann. Dafür benutzt er etwas, was für mich wie Teppich-Klebeband aussieht. Ich denke: "Das geht nie wieder ab!" Er sagt: "Das soll ja auch halten..." Nagut, er wird ja wissen, was er tut. Sechs Tage soll der Verband draufbleiben. Mit einer verängstigten Sira und um Einiges ärmer verlasse ich die Praxis. Am nächsten Morgen hat sie die ersten wunden Stellen am Inneren des Ohres, das jetzt ungeschützt nach außen geklappt ist. Im Laufe der nächsten Tage kann ich zusehen, wie das offengelegte Innere des fixierten Ohres sich verändert. Es eitert und wird größer, und das rapide. In meinem Kopf hämmert leise, aber unaufhörlich der Gedanke, dass sich die Kompresse am Stacheldraht-Katschen festwächst und ich die tierärztliche Behandlung infrage stellen sollte. Vorgestern war ich beim nächsten Tierarzt. Der erzählt mir was von Entzündung, gibt mir antibiotische Tropfen fürs Innenohr und eine Salbe für die neue und eiternde Wunde. Den Verband des Kollegen stellt er nicht infrage, sondern rät mir, der Anweisung zu folgen und das Ganze bis Donnerstag so zu lassen. Als ich dem herpesähnlichen eiternden Ausschlag (der trotz Salbe schlimmer wurde) noch einen weiteren Tag beim Wachsen zugesehen habe, reicht es mir. Da wir die Nacht wieder mit Virginie, einer medizinisch-technischen Assistentin verbracht haben, sehe ich das als meine Chance an, den Hund mit vereinten Kräften von seinem Verband zu befreien. Virginie übernimmt fast das  meiste. Mit einer Engelsgeduld und ganz viel Liebe löst sie den Verband Stück für Stück. Der Arzt hat ganze Stümperarbeit geleistet. Das Material klebt wie die Hölle, er hat die dicken, extrem empfindlichen Haare und ein dickes Stück Haut mit festgeklebt und als wir die Mullbinde von der Stacheldrahtverletzung abziehen, ist alles wieder offen. Am Ende schüttelt sich Sira einmal und sie und wir und die ganze Terasse sehen aus wie frisch nach einem Mord.

Wir halten fest: Es ist alles nicht besser als vor dem ersten Tierarztbesuch. Ich hätte mir viel Geld und dem Hund eine Infektion und eine Menge Stress ersparen können. Da meint man es gut und geht zum Arzt und dann das! Naja, jetzt kämpfe ich weiter gegen ihre Leiden an und irgendwann werden wir die Lösung finden.

Als wir gestern Morgen Nasbinals verlassen, ist Sira jedenfalls fidel wie immer. Den einen oder anderen Pilger hat sie schon in der Nase, als wir uns die Höhen des Aubrac erkämpfen. Hier ist es wirklich sehr einsam. Keine Siedlungen, keine befestigten Straßen, nur wir, die Sonne und die schroffen Weiten. Papa liest aus seinem Reiseführer vor, dass diese Gegend hier früher als "Ort des Schreckens und weiter Einsamkeit" bezeichnet wurde. Räuber trieben ihr Unwesen und ermordeten wehrlose Pilger, woraufhin Mönchsritter ein Kloster und Hospiz zum Schutze der Pilger bauten, das inzwischen abgebrannt ist. Durch das "Tor der Brotlaibe" kam man und wurde versorgt, bei Nacht und Nebel wies die undurchdringliche Nebelglocke den Weg. Wenn ich diese Geschichten höre, schaudert es mich. Und ich fühle mich schuldig, weil wir scherzen, wenn die Glocken uns bei Ankunft grüßen, wo sie doch früher so manches Leben gerettet haben.

Wir müssen einige Bäche und breite, moorige Flächen überqueren, um auf den Weideflächen vorwärts zu kommen. Irgendwie kommt alpines Feeling auf; die Höhenluft, die Weite, Sonne, Schneefelder... Einfach schön!

Bald holen wir die ersten Pilger ein, Schweizerinnen, Holländerinnen, Luxemburger, Franzosen... Alles ist dabei. Jeder quatscht uns an. "Ah, die Kölner!", "Wie geht's dem Hundeohr?" Mit jeder/jedem reden wir ein wenig. Es tut gut, wenn man merkt, dass man so langsam in einer Gemeinschaft ankommt. Und irgendwie ist es auch cool zu wissen, dass wir hier schon fast ein bisschen berühmt sind. Wobei wir uns natürlich ein bisschen in Siras Ruhm baden. Alle sind ganz verliebt in sie. Virginie bezeichnet sie später als "das Maskottchen des Camino".

Als wir wieder unter uns sind, besteigen wir den höchsten Punkt der Via Podiensis auf 1368 m. Obenauf steht eine Notunterkunft, ein Bretterverschlag, in dem eine Bank an die Wand genagelt ist, sonst gibt es hier nichts. Man mag mich als Weichei bezeichnen, aber wenn hier der Wind so pfeift, bin ich doch froh, noch immer jede Nacht in einem warmen und weichen Bettchen schlafen zu dürfen.

In Aubrac entscheiden wir uns für eine Pause. Papa hat den richtigen Riecher; das Hotel mit zugehörigem Restaurant sieht geschlossen aus. Er schaut um die Ecke in den Garten und siehe da! - voller Pilger, größtenteils bekannte Gesichter. Schön, da macht man gern Pause! Wir gönnen uns einen Leckerbissen, eine Platte mit Quiche, Käse, Salat, Salami und irgendetwas Leberiges. Wir sitzen kaum, schon sind wir von Paparazzi umgeben. Jeder will endlich ein Bild von Sira machen. Ja, gut, ist nicht schlimm, wenn wir mit drauf sind... Na toll, herzlichen Dank. Jeder, der sie noch nicht kennt, bekommt von anderen Pilgern unsere Geschichte erzählt. Anerkennendes Nicken allerseits. Dankeschön!

Das alte Hotel d'Aubrac, in dessen Garten wir pausieren, war wohl einmal DER Treff für Berühmtheiten. Französische Schauspiel-Größen sowie Zinedine Zidane, Johnny Depp. Da reiht sich Sira gern mit ein...

Mich erinnert das Innere des Hotels mit seinem hochkarätigen Interieur, seiner etwas kauzigen Besatzung und seinem gesamten Flair an unser gutes altes Elmoresland am Schladerner Wasserfall. Unheimlich schön!

Nach der Pause steigen wir kontinuierlich ab nach Saint-Chely. Wir passieren einen unwirklich wirkenden, aus der Landschaft herausragenden Basaltschlot. Die Natur denkt sich manchmal Sachen aus... Tsts...


In Belvezet treffe ich auf Els, die in diesem toten Ort verzweifelt nach Wasser sucht. Ich gebe ihr etwas von meinem, da ich in Aubrac noch für Nachschub gesorgt hab. Gute Tat des Tages: Check!

Da wir keine Eile haben und fast am Ziel sind, machen wir nach einem harten Abstieg über übles Geröll noch einmal Pause. Eine Holländerin kommt gehetzt herauf: "Habt ihr Els gesehen?" Sie ist wohl falsch abgebogen. Wir können nicht wirklich weiterhelfen und die Frau zieht von dannen.

Nach einer weiteren Weile Abstieg erreichen wir direkt am Eingang von Saint-Chely-d'Aubrac unsere Gite. Ich checke schon auf die Entfernung: Yes, eingezäunter Garten! Wir folgen den Hinweisschildern bis auf die Terrasse und hauen uns in die Sonne, während wir auf Virginie warten. Die soll klären, wie wir ins Haus hineinkommen. Dummerweise reicht unser Französisch immer noch nicht für die komplizierten Hinweisschilder...

Sira läuft bereits ohne Leine durch den Garten und kann es kaum fassen. Ich auch nicht...

Während wir warten, kommen die Holländerinnen den Berg hinunter, mit Els im Schlepptau. Also ist das auch wieder gelöst.

Als Virginie kommt, besorgt sie mit Papa den Schlüssel und unser Abendessen und wir bestaunen unser Heim für eine Nacht. Es ist wirklich schön hier! Wir sind ganz unter uns, das gesamte Haus wirkt neu gemacht und man fühlt sich einfach wohl.

Als wir Sira fertig gequält haben (s.o.), verbringen wir noch eine Weile damit, die Terrasse auf Knien zu reinigen, weitere Unterkünfte zu besorgen und etwas zu kochen. Bei Cidre sitzen wir noch eine Weile zusammen und die Gespräche werden persönlicher. Schade, dass dies unser letzter Abend auf dem Jakobsweg mit Virginie gewesen sein wird. Sie beendet ihre Pilgerschaft morgen wie geplant. Schade! Wir sind der festen Überzeugung, dass auch sie definitiv zu Jakobus' Bodentruppen gehört, so sehr, wie sie uns mit Sira und unseren Übernachtungen immer wieder aufopferungsvoll geholfen hat...

Heute morgen steht eins fest: Mein Hund gefällt mir weitaus besser ohne den blöden Verband! Ok, ihr Ausschlag sieht immer noch nicht besser aus und das pinkfarbene Eosin am Ohr, eine Tinktur aus der Apotheke, lassen sie auch irgendwie bekloppt aussehen, aber sie fühlt sich zusehends wohler. Während des gesamten Morgens liegt sie vor dem Haus in der Sonne und bewacht ihr neues Domizil. Ich glaube, hier könnten wir bleiben.

Als ich sie für ihre letzte morgendliche medizinische Versorgung zu mir rufe, ist sie mehr als misstrauisch. Uns zwei Weibern traut sie nicht mehr! Hilft nichts, da müssen wir durch.

Nachdem alles geregelt ist, machen wir uns heute um zehn, über eine Stunde später als sonst, auf den Weg. Die Sonne gibt bereits richtig gut Gas. Wir verabschieden uns im Ort herzlich von Virginie und ziehen unserer Wege.

Unsere übliche Pilgertruppe ist vermutlich längst über alle Berge. Sira geht keiner Fährte nach, sondern gemächlich neben mir her. Wir folgen eine Weile der Landstraße, bis wir bei Cambrassats die ersten, uns fremden Pilger treffen. Das zweite uns unbekannte Paar, das am Wegesrand rastet, begrüßt uns direkt mit einem Wortschwall: "Wir haben schon so viel von Euch gehört, endlich sehen wir Euch. Der Hund ist so schön, was ist mit dem Ohr? Etc..."

Hach ja, Stars haben es schwer...


Auf dem weiteren Weg wandern wir, wie immer, mit allen Sinnen. Fotos oder unsere Berichte hier können das Gesamtbild gar nicht so wiedergeben; der Ruf des Kuckucks, der uns jeden Morgen grüßt. Der Geruch frisch gestreuter Gülle. Der Bach, der in der Ferne rauscht. Wind, der in den Bäumen rauscht. Vögel, die eigenartig zwitschern. Der Geruch frisch gemolkener Milch. Die Sonne, die die Haut wärmt. Einfach schön!

In L'Estrade eine freudige Überraschung: Der alte Dorfbackes wurde vom pilgerfreundlichen Bauernpaar zum Pilgerstopp umgestaltet. Es gibt Kaffee, Tee, O-Saft, kaltes Wasser, Kekse, Sitzgelegenheiten, und sogar Pilgermuscheln und -stäbe, alles mit Honor-Box. Und Herr Bauer und Frau Bäuerin gesellen sich gern zu einem Schwätzchen dazu!

Die Pilger des heutigen Tages sind auch weiterhin nicht die der letzten Tage. Lustig, wieviel ein verspäteter Aufbruch ausmacht.

Als wir weiterlaufen, sitzt ein Pilger am Wegesrand, einen Block auf dem Schoß und einen Bleistift in der Hand. Er zeichnet. Wo er Pause macht, da zeichnet er. Auch eine sehr schöne Art der Erinnerung! Hätte ich aber keine Ruhe für...

An Kastanien entlang laufen wir hinab ins Lot-Tal. Links neben uns eine gelb leuchtende Wiese: Der Löwenzahn blüht! An einem rauschenden Bachlauf kann Sira reichlich trinken und kühlt sich überraschenderweise sogar noch die Beine bei einem Spaziergang ans andere Ufer. Aber so richtig outdoortauglich ist der Hund immer noch nicht. Die Zunge hängt bis auf den Boden, aber Madame trinkt ja noch lange nicht aus jeder Pfütze. Wenn Frauchen die Schüssel mit gutem Leitungswasser vollmacht, hat das schon mehr Stil und es trinkt sich viiiiel besser.

An einer Kreuzung überlegen wir, welchem Weg wir folgen sollen. Der Teerstraße, vielleicht flacher ansteigend, aber scheinbar in der prallen Sonne oder den längeren, steilen, aber schattigen Waldweg? Ich entscheide mich dem Hund zuliebe für den Schatten. Keine gute Idee! Nach der ersten Kurve laufen wir durch die pralle Sonne. Na toll! Und dann auch noch steil bergauf!

Auf der Höhe werden wir belohnt mit einem Trinkwasserbrunnen mit kaltem Wasser und einer Bank im Schatten. Sira streckt alle Viere von sich und schläft tief und fest ein.

Vor uns laufen Hühner durch die Wiese. Ein Hahn führt ein eitles Tänzchen für seine Henne auf. Wie im wahren Leben...

Plötzlich Lärm im Gehege. Laut Papa wurde ein Ei gelegt. Pah, wenn da bei uns zu Hause immer so eine Aufregung wäre...

In Siras Tiefschlafphase kommt eine Katze herangeschlichen. Sie steht einen guten Meter von Sira entfernt. Papa und ich staunen nicht schlecht. Lautlos umfasse ich die Leine fester. Umsonst. Die Katze trollt sich.

Als wir weiter gehen wollen, kommt sie noch einmal provokativ herangetänzelt, diesmal nicht unbemerkt von Sira. Da ich vorbereitet bin, ist das Thema schnell erledigt und wir laufen hinab nach St-Come-d'Olt.

 

Die alte Stadt gefällt mir sehr gut, anders als die merkwürdigen Menschen hier. Niemand grüßt uns oder nickt zumindest wohlwollend, wie wir es gewohnt sind. Auch die Pilger, die wir an der Kirche treffen, wirken abweisend. Soll mir egal sein...

Im Folgenden laufen wir immer an der Lot entlang über die Straße. Nur wenig Schatten ist uns vergönnt und Sira hechelt ordentlich. So langsam fürchte ich mich vor Sonnenbrand. Und vor der Hitze Spaniens. Hier sind es noch nicht einmal 30 Grad und ich schmilze schon.

An der alten Kirche St. Perse von Espalion treffen wir endlich ein bekanntes Gesicht der letzten Tage wieder. Sie geleitet uns ein Stück bis zu unserer Unterkunft, bevor sie Kurs auf ihre nimmt.

In unserer Gite haben wir das 6er-Zimmer mit eigenem Balkon ganz für uns allein. Sira inhaliert bereits die Katze, die sich für gewöhnlich auf dem Balkon aufhält, während wir uns einrichten.

Sira lässt sich ihr Sorgenohr erstaunlich gut von uns versorgen und den Rest des Abends verbringe ich nuuuuur mit Bloggen. Ein Pilgerleben kann so einfach sein!

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Di

16

Apr

2013

Heute kein Eintrag!

Hallo, ihr Lieben! Es geht uns allen gut und das Wetter ist auch ganz in unserem Sinne, inklusive Sonnenbrand. Aufgrund veterinärer Tätigkeiten den ganzen Abend und unserem letzten bisschen Zeit mit Virginie habe ich jetzt keine Zeit und Lust mehr zu bloggen. Nur, damit ihr das schon mal wisst und nicht eventuell auf einen Eintrag hofft. Morgen werdet ihr dafür auch entschädigt, denn es gibt Einiges zu erzählen. Seid gespannt. Bis morgen!

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Mo

15

Apr

2013

Reinhard: Traumlandschaft

Von Aumont-Aubrac nach Nasbinals, 27 km

Heute ist Montag und Montage sind gefürchtete Tage. An Montagen ruht der örtliche Handel und wer daran nicht denkt, steht vielleicht ohne Lebensmittel da. Es sei denn, er hat noch versteckte Reserven, auf die er im Notfall zurückgreifen kann. Oder man hat das große Glück, dass eventuell doch ein kleiner Laden auf hat. Dieses Glück haben wir tatsächlich. Ein Minisupermarkt direkt in der Nähe unserer Gite kennt wohl die Nöte der Pilger und macht mit ihnen sein gutes Geld. Genau wie die anderen Herbergsschläfer würden wir gerne noch vor dem Frühstück dort einkaufen, aber geöffnet wird erst um 8 Uhr. Wir wollen aber früh los, die Etappe von heute ist recht lang. Also heißt es die letzten Reserven aufzubrauchen und nach dem Aufbruch den Rucksack zu füllen.

Wir haben noch Haferflocken, etwas Milch und Ovomaltine, damit ist unser Frühstück schnell "gezaubert". Am Geschmack von unserem Porridge fällt aber auf, dass die Milch das Geschaukel über zwei Tage am Rucksack und in der Sonne etwas übel genommen hat. Das Porridge schmeckt anders als sonst, leicht sauer. Aber wir ollen Surviver haben damit ja nix am Kopp. Rein in den Schlund und dann rein in die Schuhe!

Im VIVAL-Lädchen bekommen wir alles, was wir für heute brauchen. Für eine halbe Stunde herrscht hier ein reges Pilgertreiben. Man trifft und begrüßt sich, kauft ein, hält ein kurzes Schwätzchen und verabschiedet sich wieder. Viele wird man wiedersehen, bei einer Rast oder am Zielort, andere nicht.

Einige Pilger gehen schon fußlahm los, da möchte ich nicht wissen, was der Tag so für sie bereithält. Andere marschieren munter und unternehmungslustig zum Ort hinaus, zu den letzteren gehören wir. Direkt am Ortsausgang nehmen wir eine Variante. Wir sparen drei Kilometer ein und nehmen statt des Schotterweges die kaum befahrene Landstraße. Die kürzere Tagesstrecke ist der eine Vorteil, der andere wiegt fast mehr: Sira nimmt keine Pilgerfährte auf und trottet zufrieden neben Annika her. Annika ist daher gut gelaunt und trottet zufrieden neben ihrem Vater her. Die Straße, auf der wir nun alle gemeinsam dahertrotten, ist die "Route d'Aubrac", die uns in eine der einsamsten und am wenigsten besiedelten Landschaften Frankreichs bringt, die Aubrac.

Hier ist die ländliche Idylle noch perfekt: grüne Wiesen, Heide und Ginster, glückliche Kühe und Esel, kleine Seen, murmelnde Bäche und viele, viele Steine, manche so groß wie kleine Einfamilienhäuser. Die trutzigen Häuser der Ansiedlungen aus grauem Basaltstein mit ihren meist kleinen Fenstern zeugen von der jahrhundertealten Architektur der Region.

Als wir unsere Abkürzung hinter uns haben und die Landstraße verlassen, folgen wir für einige Zeit einem herrlichen Wanderpfad, der uns, flankiert von Steinmäuerchen, durch das Herz der Aubrac führt. Ich kann oft nur andächtig umherschauen oder fotografiere, was das Zeug hält. Das meiste aber speichere ich im Kopf, Bilder alleine können das nicht wiedergeben. Die Stille, das Zwitschern der Vögel, das Gesumm der ersten Insekten. Ich bin begeistert.

    Anni erfreut sich wohl auch an der Landschaft, aber inzwischen nicht mehr an ihrer Sira. Kaum waren wir wieder auf dem offiziellen Jakobsweg, spielt sie wieder Pilgerjagen. Sie zerrt an der Leine, zieht ihre Nase in Staubsaugerart über den Boden und gibt manchmal Laute von sich, die an einen Jagdhund auf der Hatz erinnern. Sie will das Pilgerrudel zusammenführen, auch wenn ihr Frauchen das nicht einsehen will.

In Finieyrols hängt ein kleines Schild am Ortseingang. Dank unseres fortgeschrittenen Französischs können wir ihm entnehmen, dass  die lieben Dorfbewohner im Ort den Pilgern eine Picknick-Möglichkeit und eine Toilette hergerichtet haben und man darum bittet, nicht private Grundstücke fremdzunutzen. Am angegebenen Ort finden wir in der Tat klobige Tische und Bänke aus Naturstein - nur eine Toilette kann ich nicht ausmachen. Zwar steht eine winzige Kapelle mit einem kleinen Steinkreuz auf dem Dachfirst neben einem plätschernden Brunnen, das war's aber. Anni wirft einen Blick hinein ... und teilt mir grinsend mit, dass die Kapelle vielleicht mal eine Kapelle war, jetzt aber eine Toilette ist. "Tja, Papa, so bekommt der Ausruf 'Ach du heilige Scheiße!' eine ganz neue Bedeutung." - Typisch Anni!

Bei unserer letzten Rast in Rieutort d'Aubrac klingelt mein Handy. Kronprinz Daniel ist dran und fragt nach unserem Befinden. Wir geben einen Lagebericht und schwärmen ihm von unserem Pilgerleben vor. Ich erkundige mich auch nach dem Stand der Dinge zu Hause und bin größtenteils mit dem zufrieden, was ich höre. Fast neun Wochen sind wir nun unterwegs, da bin ich schon für jede (positive) Nachricht aus der Heimat dankbar.

Beim Eintreffen an unserem Etappenziel Nasbinals laufen wir direkt auf eine Tierarztpraxis zu. Siras Ohr ist immer noch nicht in Ordnung und Anni steuert schnurstracks auf die Praxis zu. Aber diese Geschichte soll Anni selbst erzählen.

Das Centre d'Accueil Nada, unsere Unterkunft für heute, liegt ganz in der Nähe. Es liegt in der einen Hälfte eines kleinen Schulgebäudes, die andere Hälfte wird immer noch als Schule genutzt. Auf dem Schulhof spielen viele Kinder und machen beim Fußballspielen ein herrliches Spektakel. Mensch, wie ich das vermisse!

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Sa

13

Apr

2013

Annika: Zip-off-Wetter!

Von Le Rouget nach Aumont-Aubrac, 22 km

Als ich nachts um zwei wach werde, ist mir kalt. Der Kamin ist ausgegangen. Ich schaue aus dem Fenster an meinem Kopfende und sehe die Sterne funkeln. Ich ziehe mir Wollsocken und Fleecejacke an, schlüpfe zurück ins warme Bett. Während ich weiter die Sterne bewundere, schlafe ich wieder ein. Herrlich, dass das nach meiner Augen-OP alles ohne die lästige Brille geht!

Am Morgen werde ich geweckt durch Pacos ansteckendes und anhaltendes Lachen, vier Türen weiter.

Relativ zeitgleich kommt unsere Pilger-WG aus den Federn. Nach einem gemütlichen gemeinsamen Frühstück verabschieden wir uns herzlich. Virginie werden wir am Dienstag wiedersehen, bei Paco und Joseph ist das ungewiss. So ist das mit der Pilgerschaft, man findet sich und verliert sich wieder. Vielleicht finden wir uns ja auch wieder.

Der Bauer verabschiedet sich mit einem "Guten Tag!" auf unsicherem Deutsch und wir laufen in den herrlich sonnigen Morgen. Papa entledigt sich gleich nach einhundert Metern seiner Jacke. Der Himmel ist strahlend blau und wolkenlos. Herrlich! Papa und ich sind schon "gezippt" gestartet (mit Reißverschluss abgetrennten Hosenbeinen) und selbst mir ist nicht zu kalt. Und das will etwas heißen...

Bald erreichen wir St-Alban-sur-Limagnole. Hier sind tatsächlich Menschen unterwegs! Sie kaufen Brot, Fleisch und Obst für die nächsten anderthalb Tage. Denn heute Nachmittag und morgen ist schließlich alles geschlossen. Hier treffen wir auch wieder auf Virginie. So schnell geht das! Ein kurzer Plausch und die Wege trennen sich wieder. Bis zum nächsten Mal!

Wir folgen einem schönen Waldpfad nach Grazieres-Mages, der bald nach dem Örtchen steil ansteigt.

In Chabanes-Planes ist es Zeit für die erste Pause. Wir lümmeln uns an einem Picknickplatz auf eine der Bänke und Sira erspäht schon bald ihre Beute, eine weiße Katze am Bauernhaus gegenüber. Noch ein kaputtes Halsband? Nein, danke! Ich rufe Sira zur Ordnung und - siehe da - es ist Ruhe. Zumindest, bis Paco und Joseph kommen, wir kurz sprechen, Sira sich den Kopf kraulen lässt, und wir ein gemeinsames Foto machen. Dann sind wir wieder unter uns.

Bald laufen wir über vermatschte Waldwege, die nur mit höchster Konzentration begehbar sind. Befahrbar sind sie allemal, wenn ich mir die drei Motocrossfahrer ansehe, denen vor lauter Vorfreude auf die Matschpiste schon die Augen glänzen.

Wir haben es da mal wieder nicht leicht. Die Motocrossfahrer bremsen zwar extra ab und fahren vorsichtig an uns vorbei, allerdings ändert das nichts an dem knietiefen Schlamm vor uns. Als ich mal wieder verzweifelt den weiteren Schritt plane, macht Sira einen 1,50 m-Hechtsprung und setzt auf einigermaßen trockenes Land über. Die Leine spannt sich, ich kann das Gleichgewicht nicht halten und sinke (meinem Gefühl nach) in Zeitlupe Richtung Pampe, als Papa mir gerade noch die helfende Hand reicht und mich wieder ins Gleichgewicht zieht. Puh, Schwein gehabt! Durch einen Rettungsversuch-Ausfallschritt ist mein linker Schuh allerdings trotzdem voller Schlamm. Ach was soll's!

Vor lauter Begeisterung für diesen Beinahe-Unfall verpassen wir wohl an der nächsten Kreuzung den richtigen Abzweig. Über herrliche, ginsterbewachsene Höhen folgen wir dem Wirtschaftsweg immer weiter. Sira ist plötzlich auf Fährte. Wie wir kurz darauf feststellen, geht es zur Abwechslung mal wieder um Wild: drei Hirschkühe kreuzen zehn Meter vor uns den Weg. Dank massiger Erfahrung kriegen wir das Thema schnell in den Griff.

An der nächsten Kreuzung dann: Kein Zeichen mehr. Und auch schon länger war uns keines mehr aufgefallen. Dank Googlemaps ist die Alternativ-Route schnell gefunden und wir laufen immer am Fluss entlang nach Les Estrets. Wir treffen wieder auf unseren Weg und auf rastende Pilger.

Also laufen wir weiter nach Bigose, um dort zu rasten. Solange wir vor den anderen sind, hat Sira möglichst wenig greifbare Fährten vor sich herflattern. Und das ist bedeutend entspannter!

Als wir in Bigose vor dem Restaurant pausieren, laufen einige Pilger an uns vorbei. Inzwischen kennt man sie vom Sehen her alle. Auch das Grüßen verbindet sich immer öfter mit einem freundlichen Lächeln und ein paar Sätzen Smalltalk.

Bald erreichen wir auch unser Etappenziel, Aumont-Aubrac. Vor unserer Unterkunft stehen ein paar bekannte Gesichter.

Die Auberge hat alles, was wir brauchen, Sira ist bei uns im Zimmer und die Dusche ist heiß.

Alles ist gut!

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Sa

13

Apr

2013

Reinhard: Urlaub für Annikas Gemüt

Sira versteht die Welt nicht mehr. Als wir mit ihr über die Terrasse unserer Gastgeber zum Frühstück gehen wollen, steht sie dem Hauskaninchen gegenüber. Wahrscheinlich denkt sie sich dreierlei: Entweder ist das jetzt hier eine Fata Morgana oder Jakobus hat sich verkleidet und will mir jetzt was sagen oder ich bin jetzt total bekloppt geworden. Sie fixiert dieses braune Etwas, das doch tatsächlich aussieht wie ein Kaninchen, und erstarrt zur Salzsäule. Dann explodiert es in ihrem Kopf und sie realisiert, dass das WIRKLICH ein Kaninchen ist. Bevor sie IHR Frühstück zu sich nimmt, schafft es Anni mit einer gehörigen Kraftanstrengung, sie ins Frühstückszimmer zu bugsieren. Das Gelächter bei den anderen Pilgern und bei den Gastgebern ist groß, es hätte aber auch schiefgehen können.

Beim Anziehen meiner Wanderschuhe werfe ich einen kurzen Blick auf die Sohle. Fast 1300 Kilometer haben sie jetzt auf dem Buckel und sie sind ganz schön abgerieben. Nur eins steht fest: Auf meinen Autoreifen hatte ich schon weniger Profil. Und wo wir gerade dabei sind: Ich hatte auch schon mal einiges mehr auf den Rippen, viel mehr. Inzwischen kann ich meinen Gürtel um drei Löcher enger schnallen.

Mittlerweile scheint gesichert, der Frühling setzt sich durch. Bereits heute wird es ein herrlicher Tag, in den nächsten Tagen knacken wir wahrscheinlich die 20°-Grenze. Vom gestrigen Regen ist der Himmel klargewaschen und die Luft ist frisch und rein. Die Landschaft der Margeride, die wir heute durchqueren, ist von der vulkanischen Tätigkeit des Velay verschont geblieben. Abgerundete Granitfelsen ragen wie gigantische Murmeln aus dem Boden und die Oberfläche ist überzogen von einer Heide- und Weidelandschaft. Im gemäßigten Auf und Ab führt unser Weg durch Senken und Ebenen sowie über bewaldete Kuppen. Seit Le Puy bereits stellen wir fest, dass die Infrastruktur des Jakobswegs sich geändert hat. Wer sich jetzt noch auf ihm verläuft, ist wirklich selbst schuld. Die Strecke ist hervorragend ausgezeichnet, häufig finden sich Bänke als Rastplätze und die Anbieter diverser Übernachtungsmöglichkeiten bieten ihre Dienste entlang der Strecke frühzeitig auf Tafeln an.

Auf einer Weide bei einem Bauernhof tummeln sich einige wenige Kühe, jede Menge Kälber - und ein Riesenkabänes von Bulle. Trautes Familienglück! In diese Idylle platzt der Bauer, der die Weide überquert, um ein weiteres Gatter zu öffnen. Was nett vom Bauern gemeint ist, will er doch nur die Weidefläche vergrößern, wird vom Bullen wohl falsch verstanden. Plötzlich brüllt und schnaubt er los, scharrt wütend mit seinen Hufen und setzt sich mit seinem massigen Körper in Richtung Bauer in Bewegung. Der kennt wohl seinen Pappenheimer und hat sich schnell genug in Sicherheit gebracht. Bauer sein hat eben auch seine Risiken.

Das Verhältnis zwischen Anni und Sira ist heute wesentlich entspannter als in den letzten beiden Tagen. Der Grund ist ganz einfach: Einen großen Teil des Tages gehen wir nicht auf dem eigentlichen Jakobsweg, sondern entlang der abkürzenden, kaum befahrenen Landstraße. Und hier fehlt der Geruch, die Fährte der anderen Pilger. Während sie gestern und vorgestern wie jeck unseren Brüdern und Schwestern im Geiste nachhechelte und Anni damit zur Verzweiflung brachte, fehlt ihr heute dieser Drang völlig. Anni genießt diese neugewonnene Harmonie zwischen Frauchen und Hund und ich merke, wie ihr das guttut. Wir stapfen munter voran, erfreuen uns des schönen Tages und unterhalten uns angeregt. All das ist in den letzten Tagen aufgrund Siras schwierigen Verhaltens kaum noch möglich gewesen. Da sieht man doch mal, wozu Asphalttreten nicht alles nützlich sein kann.

Auf der Straße gewinnen wir zügig an Höhe und haben um die Mittagszeit am Col de l'Hospitalet mit 1304 Metern eine Höhe erreicht, die wir erst wieder in den Pyrennäen erklimmen werden. Hier auf der Höhe treffen wir auf die in einem Brunnen eingefasste Rochusquelle, die in früheren Zeiten starken Zulauf gerade auch von Jakobspilgern hatte, sagte man ihr doch heilende Wirkung bei Augenkrankheiten und offenen Wunden nach. Ich empfehle Anni, doch mal Siras Ohr reinzutunken. Darauf will sie sich nun nicht einlassen, ich habe aber genau gesehen, dass sie sich zwei Trinkflaschen damit abgefüllt hat. Sie soll das Wasser mal ganz schnell ihrem Hund verabreichen, vielleicht können wir Sira dann bald wieder diesen entstellenden
Verband abnehmen.

Nach einer entspannenden Mittagsrast an der Chapelle St.-Roch in der wärmenden Sonne verlassen wir bald die Straße und kehren auf den Jakobsweg zurück - und Sira wittert wieder ihre vorwegschreitenden Pilgerfreunde. Bei ihr im Kopf legt sich erneut ein Schalter um und sie zerrt wieder an der Leine. Glücklicherweise ist unsere heutige Unterkunft auf einem Bauernhof bei Le Rouget nicht mehr so weit und bevor es Sira geschafft hat, Anni richtig hochzukochen, sind wir da.

Schon beim Stiefelausziehen begrüßt uns Virgine, ein weiterer Gast unserer Gite und sofort sind sie und Sira ein Herz und eine Seele. Während Anni duscht und (seit langem) schmutzige Wäsche in die Waschmaschine wirft, hilft sie mir als Dolmetscherin bei der Reservierung einiger zukünftiger Unterkünfte. Gastgeber, die wegen eines Hundes Bedenken haben, werden schnell von Siras Harmlosigkeit überzeugt. Danke, Virgine!

Zu vorgerückter Stunde kommen noch Joseph und Paco an, zwei ältere Spanier und pensionierte Lehrer, mit denen wir beim Abendessen noch unsere Freude haben. Die beiden werden morgen ganz früh weiterziehen, mit Virgine werden wir übermorgen nochmal im selben Quartier zusammen sein. Und sie verspricht, uns dann wieder bei der weiteren Quartiersuche behilflich zu sein. Dafür habe ich heute abend ihr schmutziges Geschirr gespült.

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Fr

12

Apr

2013

Annika: Harte Prüfungen, Jakobus!

Von Saint-Privat-d'Allier nach Saugues, 24 km

Meine Nacht in trauter Zweisamkeit mit Sira auf dem Wohnzimmerboden war gar nicht so schlecht... Ein bisschen kalt war mir, aber ansonsten habe ich überraschend gut geschlafen. Zumindest, nachdem ich Sira an der Heizung fest gemacht habe. Sie hatte sich abends vor lauter Freude gegönnt, dem einen Herrn auf den Schoß zu hüpfen. Er war not amused. Außerdem wollte ich nicht, dass Sira jeden, der nachts auf die Toilette muss oder morgens vor uns aufsteht, anspringt und blutig knuddelt. Also angepflockt und gut geschlafen.

Ich hatte ja schon befürchtet, dass die Pilger hier auch schon um fünf Uhr das Haus verlassen und mit ihrem Gekrose die armen Durchgangszimmerschläfer wecken, aber nein, erst um 6:30 Uhr, als ich selbst gerade aufstehen will, geht das Gerödel los.

Trotzdem sind wir mal wieder die letzten, die das Haus verlassen. Auf der ersten Höhe hinter Saint-Privat holen wir die ersten Wanderer aber bereits ein.

Und von da an geht das Spiel "Sira sammelt ihr Rudel" wieder los. Ein Geziehe und Gezerre den Rest des Tages. Das mag ja zu Hause lustig klingen, aber wenn es den ganzen Tag so läuft, raubt es einem die Kraft. Und macht irgendwann stinkwütend. Und dann wieder verzweifelt. Und ich frage mich ernsthaft, wie lange ich das auf diese Art und Weise handhaben kann, bevor ich völlig durchdrehe. Ich hoffe einfach weiterhin auf bessere Tage.

Der anfängliche Streckenverlauf ist fast schon albern. Um den Wanderweg möglichst von der Straße fernzuhalten, führt er in Schlenkern rechts und links von der Straße entlang und kreuzt diese immer wieder. Uns ist das zu blöd. Wir nehmen die Straße bis Rochegude. Dort gibt es mal wieder nur eine Handvoll Wohnhäuser, dafür aber eine winzige, am Felshang stehende Kapelle, ausgestattet mit Jakobsgeschenken ehemaliger Pilger und einem herrlichen Ausblick ins Alliertal und auf die Margeride.

Wir laufen über schmale Geröllhänge steil bergab, durch Pratclaux und bis nach Monistrol-d'Allier.

Nachdem wir die mächtige Stahlbrücke über die Allier überquert haben, machen wir unsere erste Pause. Wir hocken uns einfach vor eine Haustür und genießen die Sonne. Ich sinniere über den ewigen Ärger mit Sira, scheinbar etwas zu offensichtlich. Papa klopft mir in einem Moment des Schweigens auf die Schulter und sagt nur: "Es wird auch wieder bessere Tage geben..." Ich hoffe es!

Nach der Pause schrauben wir uns steil hinauf bis Montaure. 400 Höhenmeter auf 4 Kilometern, nicht schlecht!

Sira zerrt inzwischen auch durchgehend an der Leine. Ich bin wütend und verzweifelt zugleich. Als wir uns in Le Vernet zur zweiten Pause niederlassen, bin ich den Tränen nahe, will nur noch den Hund loswerden und Schokolade in mich reinstopfen.

Hier ist die Welt noch in Ordnung: Hunde bellen uns an, lassen uns aber passieren. Bauern versorgen geschäftig ihre Tiere. Freilaufende Hühner picken auf der Straße vor ihrem Schuppen herum. Und Katzen sind Hunde gewohnt. Na, das ist in unserem Fall nicht unbedingt förderlich für die Gesundheit der Katzen. Die beiden weißen Samtpfoten interessiert das nicht. Sie kommen maunzend auf Sira zu und die ist erstmal so baff, dass sie gar nichts macht. Papa versucht, die Katzen zu verscheuchen und ich sitz inzwischen nur noch teilnahmslos da. Sollen sie machen, was sie wollen. Hund ist angeleint an der Steinbank, Katzen können abhauen. Also macht, was ihr wollt. Tun sie auch... Sira heizt im Vollsprint los und sprengt ihr Halsband. Schnappverschluss zertrümmert, Hund auf der Hatz und ich bin immer noch fast teilnahmslos. Jakobus, hast du heute deinen besonders lustigen Tag?!? Mechanisch erhebe ich mich, schnappe mir die Jägerin und leine sie an ihrem Hunderucksack an. Wir gehen weiter.

Nach einer Weile sehen wir im Tal Saugues liegen, eingehüllt in dicke Regenwände. Klar, bei dem Wind, der uns den ganzen Tag schon bald von der Straße gefegt hat, fehlt uns das natürlich auch noch. Wir schaffen es gerade noch, unsere Rucksäcke einzupacken, da stehen wir auch schon im Hagelschauer.

Da werden Sira und ich immer ganz schnell wieder Freunde: Ich bemitleide sie und zeige Verständnis, sie genießt ihre Rolle. Beim Abstieg geht der Hagel in eiskalten Regen über, der auch mich bald gut durchweicht. Mein Hund tut mir immer noch leid, als  sie sich im Ortszentrum in jeden Hauseingang drängt, um Schutz zu finden.

Tja, vorher führt aber leider kein Weg an der Touri-Info vorbei. Ein neues Halsband muss her! Und die netten Mädels dort sollen uns sagen können, wo wir eins bekommen. Sie verweisen uns auf den Tierarzt und erfragen dort sogar noch telefonisch die Öffnungszeiten.

Jetzt aber erstmal zur Unterkunft. Wir klingeln bei unserer Auberge, aber niemand öffnet. Na gut, dann anrufen. Nur der Anrufbeantworter. Und der nächste Schauer ist im Abmarsch. Wir gehen einfach durch das offene Tor und suchen einen Hauseingang, der uns vorm Regen schützt. Tatsächlich empfängt uns dann aber doch eine Dame, selbst ehemalige Pilgerin. Sie entschuldigt sich, dass sie uns nicht gehört hat, zeigt uns die Unterkunft und zwei weitere uns bekannte Pilgerehepaare. Die einen trafen wir heute kurz unterwegs, die anderen waren gestern Papas Zimmergenossen.

Die Herbergsmutter organisiert schnell, dass ich mit Sira von ihrem Mann zum Veterinaire gefahren werde.

Der Tierarzt könnte sich dann auch gleich Siras Ohr ansehen. Zur Erinnerung: Sira ist vor sechs Wochen mit dem rechten Ohr im Stacheldraht hängen geblieben. Jeden Morgen, wenn wir unsere Tagesetappe antreten, schüttelt sie den Kopf und alles blutet wieder. Der Arzt soll einfach mal nach allem sehen. Ende vom Lied: Ist alles nichts Fürchterliches, allerdings hat Sira für die nächsten fünf Tage einen kompletten Kopfverband. Nervt sie, ist aber noch nichts, was uns davon abhält, weiter zu laufen, immer gen Santiago. Allerdings sieht das echt nicht gut aus.. Was soll's!

Die Herbergseltern sind sehr nett, unsere Mitbewohner auch und auch die nächsten beiden Unterkünfte lassen sich auf Anhieb reservieren.

"Und wenn du denkst, es geht nicht mehr..."

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Do

11

Apr

2013

Reinhard: Neue Erfahrungen

Von Le Puy nach St.Privat-d'Allier, 23 km

Die Toiletten im Grand Seminaire sind klasse! Sie haben sowas Erhabenes. Da bekommt die scherzhafte Formulierung "Thrönchen" eine ganz neue Bedeutung. Die Dinger sind nahezu 20 cm höher als normal, ohne als Behinderten-Toiletten ausgewiesen zu sein. Man/frau muss wirklich draufsteigen. Anni meint ebenfalls, dass sie seit 20 Jahren auf einer Toilette nicht mehr so frei hat die Beine baumeln lassen können.

Hierdurch in der Nacht doch recht erheitert, ist das frühe Aufstehen morgens um 6.30 Uhr für mich kein Problem. Aber für Anni! Mein aufdringlicher Wecker mit dem mörderischen Hahnengeschrei bringt sie aus dem Stand auf Hundert. Sonst hat uns immer ihr Wecker geweckt, mit einer fröhlichen Morgenmelodie.

Um 7 Uhr ist nebenan in der Kathedrale die traditionelle Pilgermesse. Täglich werden im Rahmen dieser Messe die teilnehmenden Pilger auf ihren langen Weg spirituell vorbereitet und mit dem Segen und den guten Wünschen der Kirche auf ihre Pilgerschaft geschickt. Das möchte ich mir natürlich nicht entgehen lassen. Anni bleibt dies verwehrt, Hunde haben keinen Zutritt, aber sie kann damit leben.

Als ich um wenige Minuten vor 7 Uhr die Kathedrale betrete, sitzen nur wenige Pilger in den Kirchenbänken. Eine Ordensschwester bittet uns in eine Seitenkapelle, die Chapelle du Sacramente, möglicherweise ist der Pilgeransturm zu dieser Zeit im Jahr noch nicht groß genug, um die Kathedrale damit zu füllen. Immerhin, als der Geistliche etwas später die Kapelle betritt und sich hinter den kleinen Altar begibt, sitzen ihm etwa 50 Pilger gegenüber, teils bereits mit Rucksack und Pilgerstab, teils nur in ihrer Wanderkleidung.

Was sich jetzt abspielt, entzieht sich mir zunächst völlig. Dank meiner gegen Null tendierenden Französischkenntnisse verstehe ich von der Messe rein gar nichts, was ich aber auch nicht schlimm finde. Die lithurgischen Gesänge der Ordensschwester berühren mich, mehr kann ich nicht erwarten. Das lockere Gespräch im Anschluss vor der großen Jakobusstatue im Hauptschiff ist kurzweiliger. Alle Pilger stehen im Halbkreis um den Geistlichen herum, und erzählen ihm auf seine Bitte hin, wo er oder sie herkommt. Die meisten sind, kein Wunder, Franzosen. Aber es ist international: Kanadier, Spanier, Holländer, Schweizer. Ich bin der einzige Deutsche. Wir alle werden uns heute von Le Puy aus auf den Weg machen. Die meisten werden Anni und ich zumindest in den ersten Tagen wiedersehen, bei einer Rast am Wegesrand, in einem Cafe, einer Bar oder sogar in der gleichen Unterkunft. Vielleicht werden wir mit dem einen oder der anderen interessante oder lustige Gespräche führen, vielleicht uns sogar anfreunden, wer weiß.

Nach dem Frühstück im großen Speisesaal des Grand Seminaire ziehen wir los. Wir sind so ziemlich die Letzten. Von dem Starkregen, der für heute angekündigt war, merken wir nichts. Ganz im Gegenteil: Oft zeigt sich die Sonne und ein frischer Wind verbindet sich mit ihr für mich zu einem idealen Wanderwetter. Wir steigen aus dem Kessel von Le Puy hinauf auf die Höhen und haben ab dann für den Rest des Tages herrlich weite Ausblicke auf die zahlreichen Vulkanketten des Velay. Stetig, aber nicht sehr anstrengend, steigen wir hinauf bis über 1200 Meter, so hoch waren wir noch nicht. Aber die neueste Erfahrung ist: Wir sind nicht mehr allein auf dem Weg. Andere Pilger ziehen allein, zu zweit oder in Grüppchen vor oder hinter uns her, man grüßt sich bei einer Rast - das wird nun öfter so sein. Noch gibt es untereinander Sprachprobleme, aber auch das wird sich geben. An einer noch geschlossenen Bar im kleinen Dorf Monbonnet teilt ein Schweizer mir, als Anni und ich ankommen, im breitesten Schwiezerdytsch mit, dass ich nur um die Ecke rum mal freundlich Bitte! Bitte! sagen solle, dann bekäme ich bestimmt auch ein Bier. Ich folge dem Ratschlag und bekomme auch zwei. Das recht trockene mitgeführte Baguette rutscht so wesentlich besser runter.

Um kurz nach 16 Uhr erreichen wir unsere Unterkunft in St.-Privat-d'Allier, die Gite Kompost' L. Als wir schlafengehen, sind alle Betten belegt, eine ganz neue Erfahrung. Da Anni Sira nicht mit in den Schlafraum nehmen darf, liegt sie jetzt auf einer Matratze neben Sira im Aufenthaltsraum. Noch eine neue Erfahrung.

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Mi

10

Apr

2013

Annika: Zughund

Von Saint-Paulien nach Le Puy en Velay, 15 km

Es gibt Tage, da liebe ich meinen Hund sehr. Und dann gibt es da noch Tage wie heute...

Als wir unsere Unterkunft nach einem vorzüglichen Ovomaltine-Haferschleim mit frischen Erdbeeren verlassen und mich die Sonne anblinzelt, bin ich eigentlich sehr zufrieden fürs Erste.

Heute laufen wir bis zur Pilgerhochburg Le Puy-en-Velay, nur eine kurze Etappe. Und irgendwie soll es auf Höhen liegen... Naja, da wir den ganzen Tag durch Ebenen mit einigen Hügeln laufen, erwarte ich beim Erklimmen jedes Höhenzuges, dass sich dahinter endlich ein erster Blick auf die Madonna von Le Puy werfen lässt. Von diesem Anblick sind wir, wie ich später feststelle, noch weit entfernt. Und sowas kann ich ja schon gar nicht leiden.

Nach der ersten Steigung ist Papa bereits soweit, sein Fleece auszuziehen. Die Sonne gibt alles.

  Von Saint-Paulien ziehen wir über kleine Dörfer und mit ordentlichem  Auf und Ab voran. Ich weiß nicht, was heute mit meinem Hund los ist. Er ist schwer aufgeregt, kriegt die Nase kaum vom Boden hoch, zieht mich hin und her und ignoriert mich inbrünstig. Und das über Stunden. Toller Hund! Vor allem weiß ich gar nicht, was er  da Tolles in der Nase hat. So lang kann kein Reh den gleichen Weg genutzt haben wie wir. Naja, Sira zieht das durch, lässt sich in keinster Weise von meinen Verwünschungen und Flüchen beeindrucken, ebensowenig wie vom Leinenziehen meinerseits. Als ich irgendwann nah vorm Nervenzusammenbruch stehe, drehe ich sie auf den Rücken, um die Rangordnung zu klären. Jakobus hat das wohl nicht gepasst: Ich habe mich, wie ich später feststelle, in Brennnesseln gekniet. Und Sira ist nur sehr kurzfristig beeindruckt. Danke, Jakobus, das habe ich verstanden!

Nach einer Weile überqueren wir wieder einen Bach auf Trittsteinen. Mehr ein Bächlein im Vergleich zu gestern. Und ein dicker Stein in 50 cm Entfernung, auf dem man übersetzt. Kinderspiel! Papa hält den Hund fest, ich mache einen großen Schritt, rutsche auf dem glitschigen Stein aus und mein anderes Bein landet bis zum Knie im Wasser. Ja, ist denn heute alles gegen mich??

Plötzlich läuft Sira wieder ganz kommod, und das bestimmt drei Kilometer lang. Papa sagt, das liegt daran, dass die Jakobsmuschel an meinem Rucksack sich verdreht hatte und er sie mir vor drei Kilometern wieder richtig herumgedreht hat. Ob es wirklich etwas damit zu tun hatte, weiß ich nicht. Als wir nach unserer Pause in Bilhac weiter laufen nach Polignac, zieht sie genauso wie am Anfang des Tages.

In Polignac herrscht geschäftiger Lärm. Bauarbeiter reißen die alte Asphaltdecke auf und verlegen stattdessen schöne Steine. Sieht ja nett aus, doof ist nur, dass sie dafür den Weg sperren. Wir haben keine Lust, woanders herzugehen und stehen solange unschlüssig herum, bis uns einer der Arbeiter einen Weg durch die Baustelle zeigt. Bis wir vor dem nächsten Absperrgatter stehen. Papa klettert drüber, ich stapfe mit Sira zurück. Der Arbeiter zeigt mir einen anderen Weg. Er hält mich wohl für ziemlich bescheuert. Egal, ich ihn auch.

Vor der Kirche ist Markt und ein paar Anwohner halten Schwätzchen an den Ständen. Hoch über uns ragt auf dem Felsen majestätisch und wuchtig das Chateau du Polignac in die Höhe. Ich weiß nicht, was eindrucksvoller ist, der mächtige Basaltfels an sich oder die klobige Burg.

Als wir nach Polignac endlich eine letzte Steigung gemeistert haben, tut sich vor uns doch tatsächlich der Blick auf, auf den ich den ganzen Tag schon hinwandere: Le Puy-en-Velay, eine Stadt mit engen Gässchen und den bizarren Basaltsäulen, die gekrönt sind von der Kapelle St. Michael und einer riesigen Marienstatue. Unterhalb der Marienstatue die Kathedrale Notre Dame le Puy, von der aus seit dem 10. Jahrhundert tausende und abertausende Pilger ihre Reise nach Spanien zum Grab des heiligen Jakobus angetreten haben.

Die Stadt an sich ist ganz nach meinem Geschmack: lauter kleine niedliche Gassen, umrahmt von geschichtsträchtigen, alten Gemäuern. Und der Gang hinauf zur Kathedrale, zunächst über die steile Gasse, dann über unzähligen Steinstufen, hatte schon etwas ganz Besonderes. Oben angekommen, setzen wir uns erstmal auf die Stufen und hängen kurz unseren Gedanken nach, bevor wir uns die Kathedrale von innen anschauen und uns auf die Quartiersuche begeben.

Den allgemeinen Pilger-Spirit, den ich mir von Le Puy versprochen habe, kann ich leider nicht so richtig gewinnen, wohl aber eine Vorstellung davon, was uns in Spanien erwartet: Wir erfahren einiges, was wir mit Hund NICHT dürfen. Keine Pilgermesse, kein Pilgertreff, hier nicht schlafen, da nicht essen. Das kann ja noch was geben!

Am Ende des Tages haben wir dann aber doch noch im Grand Seminaire St. Georges ein günstiges Dach überm Kopf, etwas zu essen im Bauch und die nächsten beiden Nächte in Pillgerunterkünften gesichert.

Was lernen wir daraus? Wo ein Wille ist (und ein paar gute Menschen im Spiel sind), da ist auch ein Weg!

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Di

09

Apr

2013

Reinhard: Frühstück-Franzose

Von Bellevue-la-Montagne nach Saint-Paulien, 13 km

Und jetzt? Was machen wir jetzt? Es ist gerade mal 12 Uhr und wir sind schon in unserem kargen Zimmer im Centre d'herbergement in St. Paulien. Zwar war für heute eine kurze Etappe angesetzt, dass sie aber nun sooo kurz werden würde, damit haben wir nicht gerechnet. In meinem Wanderführer gibt es für die Strecke Bellevue-la-Montagne bis St.-Paulien keine Kilometerangabe und bei Streckenskizzen ist eine Kilometerschätzung eigentlich immer Glücksache. Geschätzt hatte ich für heute 16 Kilometer, geworden sind es 13. Na gut!

Beim allmorgendlichen Blick hinaus aus unserem Zimmerfenster sehen wir - eine schmutzig-graue Hauswand. Das bisschen Himmel, das zu erkennen ist, lässt keine verlässliche Wetterprognose für heute zu. Also geht es erstmal runter zum Frühstück. Der Patron des Hauses empfängt uns persönlich und weist uns ins Frühstücksprozedere ein. Bitte diesen Tisch benutzen, hier sind Teller, Tassen und Besteck, das Brot (Baguette) bitte selbst zuschneiden, hier Marmelade und Kaffee sowie heißes Wasser für Tee, im Kühlschrank die Butter und der Orangensaft. Voila! Nicht zu vergessen: Auf dem Tisch liegt bereits ein Croissant pro Person bereit. Fragen? Bon appetit!

Dieses Sprüchlein lässt er jedem Gast zukommen, der zum Frühstück erscheint. Einer dieser Gäste entspricht so voll und ganz meinem Vorurteil eines Frühstück-Franzosen. Er stellt eine Tasse Kaffee vor sich auf den Tisch, schneidet ein Stück Baguette längs auf, knickt jede Hälfte zusammen und tunkt sie in den Kaffee. Nachdem ca. drei Zentimeter mit Kaffee vollgesogen sind, wird das Stück zum Mund geführt und abgezutzelt. Fünf Minuten später ist das Baguette verzehrt, die Kaffeetasse voll Krümel und das Frühstück beendet.

Bei uns dauert es etwas länger, aber wir haben es ja auch nicht eilig. Um kurz nach halb neun stehen wir in voller Montur vor dem Hotel und können endlich einen kritischen Blick zum Himmel werfen. Richtung Südosten ist der Ausblick klar und sehr weit. Die Berge dort sind noch von der Morgensonne beschienen und teilweise schneebedeckt. Richtung Südwesten sieht es schlecht aus, grau, wolkenverhangen, trübe. Ich sage bald einsetzenden Regen voraus. Anni mag diese Voraussagen gar nicht und meint, dass ich damit schlechtes Wetter immer nur heraufbeschwöre. Das mag ja alles sein, trotzdem kommt der Regenschutz schon mal sicherheitshalber über den Rucksack.

Eine halbe Stunde später regnet es, erst leicht, dann immer heftiger. Zunächst verzichte ich noch auf meinen Regenschirm, um damit zu signalisieren, dass es so schlimm schon nicht werden wird. Als es dann doch soo schlimm wird, zücke ich ihn dann doch und marschiere den Rest der Strecke unter ihm dahin.

Ach ja, mein Regenschirm! Wohin hat er mich schon alles auf meinen Wanderungen begleitet, wie oft bin ich wohl schon seinetwegen belächelt worden. In den Alpen, in Schottland oder Irland z.B. machte es die Runde: "Da kommt einer mit einem riesigen Regenschirm!" Stimmt! Aber ich war obenrum meist relativ trocken, die anderen klitschenass.

Anni ist da knallhart. Bei ihr muss wohl schon ein Wolkenbruch kommen, bis sie mal ihren Poncho benutzt. Einen Schirm hat sie aus Gewichtsgründen sowieso nicht mit. Ihr Anorak scheint gut wasserdicht zu sein. Ob das bei dem Fell von Sira genauso ist, wissen wir nicht. Es wäre schön, wenn sie uns da mal was zu sagen könnte. Trotzdem haben wir nicht den Eindruck, als würde sie der Regen nachhaltig stören. Sie läuft, hüpft, springt genauso vor uns her wie immer, schnuppert am Boden lang oder zeigt wachsames Interesse an der jeweiligen Umgebung wie eh und je. In der Unterkunft kann sie sich dann außerdem der besonderen Zuwendung ihres Frauchens sicher sein, das sie anhaltend trockenrubbelt und ihr zusätzliche Streicheleinheiten zukommen lässt. Außerdem ist ihr ein Platz an der warmen Heizung immer sicher.

Mit einem Phänomen, mit dem Anni und ich zu kämpfen haben, hat Sira mit Sicherheit nichts am Hütchen: Der laufenden Nase! Bitteschön, warum ist das so??? Wir sind beide nicht die Spur von erkältet. Eigentlich ist das ja ein Wunder, bei Regen, dicker Nebelsuppe und Kälte, trotzdem oft verschwitzt von den Aufstiegen, dann Pausen bis zum einsetzenden Frösteln. Aber nichts da, wir sind gesund ... und trotzdem läuft die Nase. Ich habe da schon mal an ein Tampon gedacht, aber wie sieht das denn aus? Der endlose Einsatz von Taschentüchern ginge mir auch auf den Senkel, das macht doch nur die Nase wund. Also da warte ich jetzt mal auf Tipps aus der Heimat.

Um 11.30 Uhr stehen wir drei begossenen Pudel vor der Mairie (Bürgermeisteramt) von St. Paulien. Da das Centre d'herbergement, wo wir für heute zwei Betten vorreserviert haben, eine kommunale Einrichtung ist, glauben wir uns an der richtigen Stelle und fragen drinnen nach. Und richtig! Sofort wird eine Mitarbeiterin abgeordnet, die uns zu unserer Unterkunft begleitet, uns aufschließt und einweist. Wir bekommen unser eigenes Zimmer mit zwei Stockbetten und einem kleinen Heizlüfter, der dieses schnell aufheizt. Dusche und Toilette sind über dem Flur und eine kleine Kochecke gibt es auch. Die Pilger sind zufrieden. Hier können wir problemlos den Rest des Tages verbringen.

Bei dem Haus handelt es sich übrigens um die alte Dorfschule. Das ist doch eine gute Idee! Alte, nicht mehr für schulische Zwecke nutzbare Schulgebäude in Herbergen umwandeln, das wäre doch was! Vielleicht kann man ja auch mal in Windeck über eine spätere Nutzungsänderung der einen oder anderen kleinen Grundschule nachdenken, vorausgesetzt die Schülerzahlen gehen weiter so erschreckend zurück. Da die Grundschule im Gemeindeteil Schladern in unmittelbarer Nähe zum neuen Natursteig Sieg liegt, könnte dort doch eine preisgünstige Übernachtungsmöglichkeit für Wanderer eingerichtet werden. Die Grundschule im Gemeindeteil Herchen schreit förmlich danach, eine Pilgerherberge zu werden. Immerhin ist in der dortigen Kirche auf einer Freske die Legende vom sog. Hühnerwunder von Santo Domingo della Calzada zu bewundern, wodurch als gesichert erscheint, dass im Mittelalter Jakobspilger auch ihren Weg durch das Siegtal genommen haben. Ich würde mich sogar bereiterklären, dort als Herbergsvater zu fungieren.

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Mo

08

Apr

2013

Annika: Römerstraße mit Hindernissen

Von Pontempeyrat nach Bellevue-la-Montagne, 20 km

"Ein Bach muss auf Trittsteinen gequert werden." Na super. Noch am Abend liest Papa mir diese Zeile aus unserem Wanderführer vor und beschert mir eine schlaflose Nacht. Ich frage mich, wie ich und meine Schissbutz Sira das wohl machen werden.

Der Morgen begrüßt uns mit Schneefall. Erst nur ein bisschen, dann immer mehr. Mit Regenschutzhülle um den Rucksack steigen wir von Pontempeyrat steil über einen Feldweg auf in den "Parcours Naturel Régional Livrandois Forez".

Hinter Orcerolles, einem Dörfchen auf der Anhöhe, folgen wir bald dem "Chemin de César", einem Teil der alten Römerstraße. Bis kurz vor unserem Tagesziel Bellevue-la-Montagne folgen wir ihr stetig, quasi immer geradeaus.

Als wir in Orcerolles den Holzlader sehen, der am Beginn "unseres" Feldweges parkt, schwant uns Übles. In der Regel heißt das, Waldfahrzeuge und Forstmaschinen haben den weiteren Weg zerfurcht, der Regen hat alles aufgeweicht und wir müssen durch Matsch waten.

Wir haben ja so recht! Keine zweihundert Meter später ist der Forstweg so unangenehm matschig, dass wir auf die Seitenränder ausweichen, sofern es welche gibt. Sira ist da ein bisschen gelackmeiert. Die Seiten des Weges sind oft voller Brombeerranken, also hat sie die Wahl zwischen gepiekst und eingesaut werden. Rosige Aussichten! Da fände ich mich als Frauchen auch manchmal blöd... Sie hält es wie immer und hüpft leichtfüßig um den tiefsten Matsch herum und ich fliege am Ende der Leine hinterher. Eine angemessene Form von Rache, finde ich...

  Nach einer Weile laufen wir auf einen Bach zu, der sich über den Weg ergießt, vielleicht zwei Meter breit und mit einem dicken Stein in der Mitte. "Na, wenn das die Flussüberquerung mit Trittsteinen ist, hätte ich mich gar nicht so bekloppt machen müühühüüüü......!!!" Und schon hat Sira einen Satz über das kühle Nass gemacht und ich erwische so gerade noch den Trittstein. Papa lacht sich kaputt und ich wünsche ihm, dass er sich mindestens ein nasses Bein holt. Vergebens!

  Wir trotten weiter über teils schlammige, teils grausigen Pfade und ich atme gerade innerlich auf, weil Sira und ich diese Schikane so gut überwunden haben, da tut sich vor uns ein rauschender, ca. vier Meter breiter Fluss auf, vielleicht einen halben Meter tief, rechts und links mit Stacheldraht umrandet und links am Draht entlang mit ein paar wackeligen, nicht vertrauenswürdigen Steinen ausgelegt. Ich wäge kurz ab. Für alle Scherzkekse zu Hause: Nein, da kann ich NICHT einfach so drüber springen! Das konnte ich schon zu Schulzeiten nicht, dann wohl hier mit Rucksack und Hund erst recht nicht. Ok, ein Absturz wäre nicht lebensbedrohlich, aber bei der Kälte klitschnass weiterlaufen zu müssen, grenzt ziemlich nah ans Lebensbedrohliche.

  Also ran an die Sache! Der Hunderucksack wird ausgezogen, der Hund kommt an die Schleppleine, Papa hält Sira fest und ich mache mich mit Hunderucksack und Leinenende in der Hand an die Überquerung. Mithilfe des Stacheldrahtes, an dem ich mich entlanghangele, geht das Ganze einfacher als erwartet und Papa, der schon sensationslüstern die Kamera im Anschlag hat, wird enttäuscht. Ha! Sira macht sich auch erstaunlich unerschrocken auf den Weg und hat das Ganze schnell und unbeschadet hinter sich. Als auch Papa mehr oder minder trockenen Fußes den Bach überquert hat, ist Sira allerdings so nachträglich beeindruckt von ihrer eigenen Courage, dass sie kurz an der Schleppleine durchdreht. Sie rennt vier- oder fünfmal wie ein aufgestochenes, albernes Huhn hin und her, bis sie sich wieder einkriegt und wir mit stolz erhobenen Häuptern weiterlaufen. Ha! Flussüberquerung: Check!

Nach einer Weile, genauer gesagt nach knapp drei Stunden Marsch, gibt der konstante Regen-Schnee-Mix endlich auf und wir machen unsere erste Pause auf gefällten Bäumen. Na also, ist diese ganze Matsch erzeugende Forstarbeit doch zu etwas nutze!

Heute passieren wir extrem wenig Orte! Durch Wald und Weiden folgen wir der Römerstraße immer weiter, bis es Zeit ist für unsere zweite Pause, wieder auf Forstgut.

  Während wir uns unsere Brote schmecken lassen, geht Sira ihrer neusten und liebsten Pausengestaltung nach: Buddeln! Mit Vorsicht fängt sie an zu scharren, bis sie schließlich Drecksklumpen um sich schmeißt und mit den Vorderbeinen komplett in ihrem neuen Meisterwerk liegt, den Hintern in die Höhe gestreckt. Wir sind amüsiert von diesem Vogel-Strauß-Anblick und Papa zückt seine Kamera.

Ich weiß nicht, ob das am Tier Hund im Allgemeinen liegt oder ob es eine Sira-Spezialität ist, aber wie so oft auf unserem Weg beendet sie ihre Aktion ab dem Moment, in dem Papa auch nur ans Fotografieren denkt. Man lässt sich schließlich nicht von jedem ablichten...

Als uns wieder mal die Kälte hochtreibt, ist es Nachmittag. Und auch nach der Pause bleibt uns nichts erspart: in einer Senke dürfen wir uns wieder einen Weg suchen, der uns trotz breitflächiger Bachläufe und moorähnlichen Weideflächen einigermaßen trockenen Fußes vorankommen lässt. Als ich kurzzeitig keinen Ausweg mehr sehe, begebe ich mich in die offensichtlich schlammigen Untiefen unseres "Weges" - und stehe gleich darauf knöcheltief im Modder. Sira ackert sich gefasst durch das Kneipp-Bad. Ich glaube, gerade ist sie froh, dass sie kein Chihuahua ist. Papa findet dann dummerweise doch noch einen trockeneren Weg. Gemeinheit!

  Bald verlassen wir den Wald und gelangen bei Monthiol kurzzeitig auf eine Teerstraße. Und siehe da: es ist hell! Die Sonne scheint! Und wir haben Fernsicht! In zig Kilometern Entfernung können wir die Berge mit ihren schneebedeckten Satteln erkennen. So weit konnten wir lange nicht mehr sehen.

Wenig später erreichen wir unser "Hotel des Voyageurs" in Bellevue-la-Montagne.

Und jetzt lieg ich hier und schreibe, während rechts von mir Papa unsere weitere Route plant und links von mir ein vollgefressener Hund zufrieden schläft, stöhnt und pupst. Was ein Pilger halt abends so macht...

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So

07

Apr

2013

Reinhard: Markttreiben

Von Montarcher nach Pontempeyrat, 20 km

Das Thermometer vor "Le Clos Perche", unserer Unterkunft in Montarcher, zeigt -3°C, als wir zur Tür heraustreten. Zwar sind wir hier auf einer Höhe von über 1.100m, aber so langsam reicht es jetzt mit diesen Temperaturen. Der Himmel ist mal wieder grau und ganz vereinzelt fallen sogar ein paar dünne Schneeflocken. Aber es regnet nicht, deshalb haben wir doch eigentlich schönes Wetter.

Heute können wir es wieder gemächlich angehen lassen. Viel mehr als 20 Kilometer werden es nicht und wenn man den höchsten Punkt des Jakobswegs zwischen Trier und Le Puy kurz vor Montarcher bereits erreicht hat, kann es sooo schlimm nicht mehr kommen. Der Weg führt uns hinauf zur Kirche, von wo man bei klaren Tagen schon mal einen Blick bis zu den Alpen haben soll. OK, sooo klar ist es heute nicht, aber bis ins nächste Tal, in das wir nun hinuntersteigen müssen, reicht der Blick allemal.

Direkt neben dem Kirchenvorplatz führt eine steile Steintreppe zu einem Wiesenpfad, der uns schnell Höhe verlieren lässt und ins Tal bringt. Was folgt, ist entspanntes Dahintrotten auf nahezu gleicher Höhenlinie am Berghang entlang, auf Feld- und Waldwegen, vorbei an weidenden Pferden und noch grünen Ginsterbüschen und durch kleine Weiler, in denen sich wieder mal kein Mensch rührt. Verlassen kann man sich eigentlich nur auf die Anwesenheit von Hunden und Katzen. Während die Katzen, wie es ihrer Art entspricht, plötzlich einfach da sind, draußen auf der Fensterbank, vor der Haustür, auf der Mauer oder einfach mitten auf der Straße, hören wir die Hunde meist schon von Weitem. Das ist aber auch die günstigste Variante. Auf sie können wir uns vorbereiten, Sira schon vorab beruhigen. Schwieriger zu handhaben sind die Überraschungsangriffe der sog. Wachhunde, die zunächst verträumt vor der Haustür oder in ihrer Hundehütte liegen, dann bei unserem Erscheinen herangeschossen kommen und hysterisch bellend gegen den Zaun fliegen. Sira verjagt sich dann jedesmal so sehr, dass sie Anni fast auf die Arme hüpft. Am unproblematischsten sind die eher seltenen Exemplare, die frei auf der Straße herumlümmeln. Mit ihnen kann Sira Kontakt aufnehmen, Sympathie entwickeln oder auch nicht und dann ist der Drops gelutscht.

Ich empfinde es für mich immer als "ruhige Stunden", wenn wir drei Pilger im gleichbleibenden Schritt neben- oder hintereinander her gehen, außer unseren Schritten kaum etwas zu hören ist, wir selbst schweigen, die Natur genießen und jeder seinen Gedanken nachhängt. Wenn dann noch ein Zitronenfalter munter vor einem herflattert, ein Milan sich in die Luft schraubt oder ein Pferd von seiner Grasmahlzeit hochschaut, bin ich mit meinem gegenwärtigen Leben sehr zufrieden.

Blöderweise kann es dann auch schon mal passieren, dass wir einen Abzweig verpassen und uns irgendwann wundern, wo unsere vertraute Jakobsmuschel geblieben ist, die uns doch inzwischen seit Dijon recht verlässlich durch Frankreich leitet. Doch dank Google-Maps finden wir immer recht schnell wieder auf den richtigen Weg zurück.

Es ist später Vormittag, als wir in Usson-en-Forez ankommen. Und siehe da, hier sind Menschen auf der Straße, sogar viele Menschen! Bei der Kirche sehen wir auch warum. Es ist Markt, um die ganze Kirche herum, an einem Sonntag. Man sieht, dass es viele Bauern aus der Umgebung sind, die hier ihre Produkte anbieten. In geringen Mengen gibt es auch Stoffe, Textilien, Haushaltswaren. Am Käsestand läuft mir das Wasser im Mund zusammen, ich könnte mir glatt einiges von den Köstlichkeiten einpacken. Aber ich habe ja schon so meine Erfahrungen mit Camembert im Rucksack. Anni hält dann immer Abstand zu mir und das ist doch schade. Und ganz ehrlich: Das Käsearoma schlägt sich sofort auf meine Brille nieder, sobald ich den Rucksackdeckel aufschlage und lange kann sich selbst meine in einer Plastiktüte eingeschlagene Wäsche gegen diesen Duft nicht wehren. Also verkneife ich mir lieber den Kauf und hole stattdessen aus der Boulangerie ein großes Baguette.

Uns steht der Sinn nach einer Rast im Warmen. Da kommt die kleine Kneipe (über der Tür steht allerdings "Cafe") an der Kirchplatzecke gerade recht. Drinnen herrscht bereits munteres Geschnatter, aber ein kleiner Tisch direkt an der Theke ist noch frei. Wir bestellen bei dem quirligen kleinen Wirt zwei heiße Kakao und beobachten dann das Treiben. Herrliche Typen sitzen an den anderen Tischen, meist ältere Männer, nur wenige Frauen. Bevorzugtes Getränk scheint der Cassis zu sein, hier und dort steht ein Glas Rotwein. Bier? - Fehlanzeige! Geraucht wird auch nicht. Die meisten Gäste scheinen Marktbeschicker zu sein, die draußen hinter ihren Ständen Frau oder Kinder für sich arbeiten lassen. Ab 12 Uhr wird draußen abgebaut und die Kneipe füllt sich immer mehr. Es wird auch immer lauter und Sira, die bisher lieb zwischen unseren Stühlen gelegen hat , wird unruhig. Während ich mich noch anziehe, geht Anni mit Sira schon mal vor nach draußen. Viele Blicke folgen den Beiden, gleichzeitig erstaunt und amüsiert. Hunde mit eigenem Rucksack sind eben noch eine Seltenheit.

Etwa eineinhalb Stunden müssen wir noch weiter. Unser Weg plätschert weiter so dahin und ab und zu lässt sich sogar für einen kurzen Moment die Sonne blicken. Solch einen Augenblick nutzen wir nochmal für eine kleine Rast, bei der wir das halbe Baguette wegmüffeln. Sira hält währenddessen sehnsuchtsvoll Ausschau nach einer Katze, wird aber nicht fündig.

Ein besonderes Phänomen unserer Pilgerreise ist die Gabe Siras zu merken, wenn die Tagesetappe dem Ende zugeht. Dann wird sie hektisch, zerrt an der Leine, tritt sich mit den Läufen fast auf die Zunge - und bringt Anni zum guten Schluss eines jeden Pilgertages gehörig auf die Palme. Das ist heute nicht anders und wir sind froh, als wir am frühen Nachmittag in Pontempeyrat vor der Tür unserer Unterkunft stehen. Der Chef des "Les Trois Terres" begrüßt uns persönlich und geleitet uns auf unser Zimmer. Sira bekommt ihr Futter, seufzt tief und legt sich auf dem Zimmerteppich zum Schlafen nieder.

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Sa

06

Apr

2013

Annika: Sira unter Strom

Von St.-Thomas-la-Garde nach Montarcher, 20 km

Erst einmal: meinem Bruder Basti und meiner Cousine Maren alles Liebe nachträglich zum Geburtstag!

 

Heute habe ich mal richtig gut geschlafen! Der Blick aus dem Fenster verheißt allerdings nichts Gutes: Die Straßen sind nass! Es hat geregnet. Naja, der gestrige Tag hat auch so angefangen und sich zum Guten gewandt. Vielleicht klappt das heute auch.

Nach einem Frühstück mit dem köstlichsten Tee aller Zeiten (leider undefinierbaren Geschmacks und ohne Namen) begeben wir uns ins Nieselwetter. Unser Wanderführer verheißt uns heute ein Etappenziel auf 1170 m, also 700 m höher als unser Startpunkt. Puh! Gut, dass die Sonne nicht scheint und es heiß ist! Man muss dem schlechten Wetter nur etwas Gutes zuordnen, dann klingt es fast auch gut!

Nach einem Schlenker zum See Etang de Vidrieux laufen wir zunächst bergab und an einer Pferdeweide vorbei. Sira hat sich fast gut im Griff. Sie lässt nur einen kurzen Beller los, als die zwei Braunen neugierig auf sie zukommen. Und dann kommt doch tatsächlich wieder eine Ziege auf uns zu, als wollte sie die Pferde beschützen. Hat das hier in  Frankreich System? Sind Ziegen die neuen Wachhunde? Wer darüber Infos hat, kann sich hier gerne melden.

Sira holt sich allerdings statt von der Ziege lieber eine andere Abreibung ab; aus unerfindlichen Gründen hält sie ihre Nase kurz an den Stromzaun und PITSCH! kriegt sie einen Schlag. Oje, das ist ein Gejanker! Ziege und Pferde sind ihr jetzt völlig wurscht, sie will einfach nur weg. Und ich notgedrungen hinterher. Nach ein paar hundert Metern können wir sie beruhigen. Wir kommen nach La Provéra.

Der Regen hat inzwischen wieder aufgehört. Sag ich doch, man darf die Hoffnung nur nicht aufgeben.

An dieser Stelle komme ich mal wieder zur Kategorie "Infos, die keiner haben möchte". Papa und mir ist etwas aufgefallen. Es wird Zeit, dass jemand antacker- oder anklebbare Unterhosen erfindet. Es kann doch wohl nicht wahr sein! Sowohl bei ihm wie auch bei mir sitzt das blöde Ding nie da, wo es soll. Es rutscht hierhin und dahin, es zwickt andauernd und ewig muss man richten. Wenn jemand da ein Patentrezept hat, kann er sich auch gerne hier melden.

Kurz vor St.-Georges-Haute-Ville setzt Sira kurz zum Pipi machen an, da macht es wieder PITSCH! und sie jault und rennt panisch davon. Scheinbar hat sie sich an einen Drahtzaun gesetzt, den weder sie noch ich gesehen haben und als sie sich gehockt hat, ist sie mit dem Schenkel dagegen gekommen. Die arme Maus! Wir kriegen sie auch dieses Mal wieder mit viel Streicheln und gutem Zureden beruhigt.

Wir besteigen den Montsupt, begleitet von dem aufmunternden "Ultreia!" auf einem Hinweisschild. Auf der anderen Seite steigen wir wieder ab. Toll! Das hätten wir uns also sparen können. Naja, aber dann hätten wir den guten Montsupt aber eben auch nicht bestiegen. Alles hat seine Gründe.

Unser Abstieg führt uns durch eine merkwürdige Art von Wald. Der Feldweg, über den wir laufen, ist breit, rechts und links davon einige dünne Bäume. Vielmehr als lebende Bäume sahen wir allerdings tote, umgefallene und abgestorbene Gehölze. Eine merkwürdige Atmosphäre...

Ab Margerie-Chantagret beginnt dann tatsächlich der eigentliche Anstieg nach Montarcher. Über Feldwege und matschige Pfade gewinnen wir an Höhe. Sira hat sich von ihren elektrisierenden Erlebnissen wieder gut erholt. Sie ist albern und munter wie immer. Allerdings ist sie nicht begeistert von Pfützen, Bächen und Schlamm aller Art. Das zeigt sie mir ziemlich deutlich. Ohne Rücksicht auf Verluste hüpft sie leichtfüßig darüber und ich kann sehen, wo ich bleibe. Manchmal gerate ich ganz schön ins Schleudern, bevor ich doch noch gerade eben so den richtigen Tritt finde. Zweimal wäre es heute fast schiefgegangen.

In St.-Jean-Soleymieux ist ein Teilstück geschafft. Es folgt ein fast ebenes Stück, durch den Wald und über Bäche mit Stegen. Wieder das gleiche Spiel: Sira hüpft mir munter davon, ich fliege hinterher.

An einem Höfchen kurz vor La Citre haben wir fast einen neuen Harley gefunden: Dic heißt er, ist ein lustiger Scotch-Terrier und er und Sira spielen und toben, was das Zeug hält. Beendet wird das ganze Treiben von einer Frau mit Stock und Kopftuch, die ein irgendwie russisch klingendes Französisch spricht und den Terrier einzufangen versucht, mit ihrem Stock immer Prügel androhend. Der Terrier ist wenig beeindruckt von der Dame, die ein bisschen an eine Hexe erinnert. Er ignoriert sie einfach, so gut er kann. Irgendwann hat sie ihn aber dann doch, hält in fest und wir ziehen von dannen.

Bald haben wir die Steigung geschafft. Es war gar nicht so schlimm wie erwartet. Allerdings liegt hier oben doch glatt wieder Schnee. Ja, hört das denn nie auf?!?


Durch eine Moorlandschaft balancieren wir weiter. Nette Menschen haben Stege in das Moor gebaut, allerdings machen Schnee und der ziehende Hund mir den Weg nicht leicht. Ich schaffe es aber doch. Bei Papa wäre das um ein Haar schiefgelaufen. Er kommt ins Rutschen, fängt sich aber so gerade noch. Vor lauter Schreck hat er sich aber ein bisschen das Schultergelenk gezerrt. Ist aber scheinbar nicht sooo wild. Mal sehen, wie es ihm morgen geht.

Wenig später erreichen wir Montarcher, einen Ort auf dem Berg, bestehend aus drei Wohnhäusern, unserer Unterkunft, einer Kirche und der Mairie.

Da muss ich bis nach Frankreich laufen, um zu sehen: Es gibt NOCH kleinere Orte als Helpenstell!!!

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Fr

05

Apr

2013

Reinhard: Veronika auf Heimatkurs

Von Montverdun nach St.-Thomas-la-Garde, 25 km

  Es ist noch dunkel, da fängt es an zu pladdern. Mit eingezogenem Kopf renne ich von unserem Schlafraum durch die Morgenkälte hinüber in den Sanitärbereich und versuche dabei vergeblich, dem  vom Dach herabtropfenden Wasser auszuweichen. Gut, dass das heute Nacht bei meinem gewohnten Toilettengang noch nicht der Fall war, denn schlaftrunken und nur mit Unterwäsche bekleidet, ist das überhaupt nicht lustig.

Die Radpilger, mit denen wir uns gestern abend in der Küche noch etwas unterhalten haben, staunen, als wir tatsächlich unter Poncho und Regenschirm durch das große Tor die alte Klosteranlage verlassen und uns auf den Weg machen. So sehen die wahren Pilger aus!

Und wir werden belohnt! Nach einer Stunde hört der Regen auf und setzt den ganzen Tag auch nicht wieder ein. Es bleibt jedoch grau in grau, aber die Berge des Zentralmassivs erscheinen uns zum Greifen nah. Kein gutes Zeichen für die zukünftigen Wetteraussichten ...

  Ein Wetter zum Zelten ist das jedenfalls immer noch nicht! Das Paket mit unserer Zeltausrüstung, das uns von Veronika vor mehr als fünf Wochen nach Trier nachgeschickt worden war, hat mittlerweile eine nette Reise hinter sich: Zunächst hat es die nette Mitarbeiterin vom Kolpinghaus in Trier wieder nach Windeck zu Veronika geschickt. Die brachte es dann mit, als sie mit Monika und Kurt zu uns nach Beaune kam. Da das Wetter weiterhin nicht campinggemäß war, nahmen die beiden das Paket mit zu ihrem Ferienhaus bei Bordeaux, um es uns eventuell bei Bedarf auf kurzem Weg zuzuschicken. Inzwischen ist es in der Schweiz, da Moni und Kurt dort Sohnemann Marcel besuchen. In zwei Tagen wird es dann wieder in Windeck sein und dann geht der ganze Reigen von vorne los. Irgendwann wird es soweit sein und wir bauen unser Zelt auf! Vielleicht brauche ich dann ja schon neue Schuhe, denn die, die ich trage, sind schon ganz schön abgelatscht.

Nach elf Kilometern auf teils recht matschigen Pfaden, erreichen wir am frühen Mittag Champdieu. Bei der alten, mächtigen Klosterkirche ist der Moment des Abschieds gekommen. Veronika tritt die Heimreise an. Heute noch muss sie Lyon erreichen, um morgen früh von Frederike und Carsten Heggemann auf deren Rückfahrt vom Südfrankreichurlaub aufgepickt und nach Hause kutschiert zu werden. Jetzt tritt Jakobus wieder auf den Plan: Noch auf dem kleinen Platz vor der Kirche spricht sie ein französischer Wohnmobiltourist an und erkundigt sich nach unserer Pilgerreise. Veronika teilt ihm mit, dass sie sich just auf den Weg mache, wahrscheinlich trampend, um nach Montbrison zu kommen, und von dort aus per Bus und Bahn nach Lyon. Eine Hausecke weiter holt unser Wohnmobilist sich wohl die Erlaubnis seiner Angetrauten ein und bietet schließlich Veronika die Mitfahrgelegenheit in seinem Urlaubsgefährt an. Jetzt geht alles ganz schnell: Ein letzter fester Drücker, dann trage ich ihren Rucksack zum Wohnmobil, sie steigt ein, Tür zu - sie ist weg. Und wer schmiert uns jetzt unterwegs die Brote? Wer kocht uns abends die Nudeln? Von wem kann ich mir mal das Handtuch ausleihen, wenn ich zu faul bin, meines aus den Tiefen des Rucksacks hervorzukramen? Veronika, du wirst in etwa sechs Wochen nochmal zu uns stoßen - und dann wird alles wieder so sein!

Alleine ziehen nun Anni, Sira und ich weiter. Noch vor Montbrison erleben wir ein lustiges Zusammentreffen: Einmal mehr kommt ein Esel neugierig an den Zaun und bringt damit Sira in leichte Verwirrung. Um ihren grenzenlosen Mut unter Beweis zu stellen, bellt sie das Traumtragetier aller Pilger an, ohne zu ahnen, dass sie damit des Esels kurzbeinige Freundin, eine kleine Zwergziege, gegen sich aufbringt. Die kommt zügig und die Lage taxierend heranmarschiert, schlüpft unter ihrem Zaun hindurch und stellt sich Sira zum Kampf. Für die Freundschaft mit ihrem Weidegenossen ist sie zu allem bereit. Sie senkt ihren kleinen Kopf, droht mit den Hörnern und rennt drei Schritte auf Sira zu. Die weicht einige Schritte zurück, bellt aber energisch und wird schließlich von Anni zurückgezogen. Wer hat denn nun gewonnen?

In Montbrison kaufen wir Vorräte ein. Den Rest der heutigen Strecke hängt eine Plastiktüte voll mit Lebensmitteln außen an meinem Rucksack, Anni trägt einen Drei-Kilo-Beutel Hundefutter am langen Arm.

Um kurz vor 17 Uhr sind wir in St.-Thomas-la-Gard. Unsere Unterkunft steht direkt neben der Kirche und sieht aus wie das ehemalige Pastorenhaus. Dominique, unsere außerordentlich charmante Gastgeberin, klärt uns auf, dass das Haus ein ehemaliges kleines Nonnenkloster ist. Veronika hätte es gefallen. - Wieso muss ich eigentlich bei einem Nonnenkloster an Veronika denken?

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Do

04

Apr

2013

Annika: Schöner Tag!

Von Pommiers-en-Forez nach Montverdun, 18 km

Zunächst einmal möchte ich Euch und uns zum Knacken der 5000er-Marke gratulieren. 5000 Klicks auf unsere Homepage! Wir sind begeistert! So viel und vor allem solch anhaltendes Interesse an unserer Reise und unserer Homepage hatten wir nicht erwartet. Eigentlich arbeite ich seit drei Wochen schon für dieses Jubiläum an einem persönlichen Dank an jeden einzelnen Kommentator und Gästebucheinträger, aber diese Sache ist mir irgendwie über den Kopf gewachsen. Bei dieser gewaltigen Resonanz werde ich damit ja nie fertig! Außerdem artet das ganze ja auch schon wieder in ein 30-seitiges Werk aus und das will dann ja so langsam auch keiner mehr lesen. Also sag ich es hier im Kurzen: ich freue mich über jeden eurer Einträge und auch bei mir ist es zur Sucht geworden, hier vorbeizuschauen, um zu sehen, ob ihr etwas Neues für uns hinterlassen habt. Auf die nächsten 5000!

So schön, wie der gestrige Tag war, so kalt war die Nacht. Trotz Fleeceschlafsack, Wolldecke und Heizkörper wurde es nachts ganz schön frostig. Ich hab mir um zwei Uhr nachts Wollsocken, Fleecejacke und Jogginghose angezogen, aber trotzdem den Rest der Nacht gebibbert. Dem Hund war scheinbar auch zu kalt. Jede halbe Stunde stand sie auf, drehte eine Runde, stand ratlos im Raum und legte sich wieder auf ihre Decke. Am Liebsten hätte ich sie zu mir ins Bett geholt. Damit wäre uns beiden geholfen gewesen. Aber der Anstand hat mal wieder gesiegt.

  Nach einer durchgefroren Nacht tut der Tee/Kaffee zum Frühstück und Veronikas Rührei gut. Wirklich warm wird uns dadurch allerdings nicht. Ziemlich zügig machen wir uns auf den Weg. Heute sind wir endlich wieder komplett. Nach zwei Ruhetagen hat Veronika heute entschieden, wieder mit uns zu laufen. Quasi den letzten ganzen Tag. Morgen läuft sie noch bis zur Hälfte mit, bevor sich unsere Wege trennen und sie die Heimreise antritt. Schade. Unsere Truppenmutti wird uns fehlen. Es ist immer etwas besonderes, wenn jemand einem ungefragt die Brote schmiert, den Tee kocht, für die Truppe einkauft, uns bekocht... Und alles wie selbstverständlich. Eben wie eine Mama. Und wir haben immer eine Menge zusammen und übereinander zu lachen. Aber bald ist sie ja wieder dabei...

Wir verlassen den Campingplatz und laufen zunächst immer an der Landstraße entlang. Es ist zwar sonnig, aber immer noch recht kalt. Wir müssen zügig laufen, damit unser Kreislauf in Gang kommt und uns warm wird. Besonders schwer fällt der zügige Schritt nicht; Wo wir uns doch die letzten Tage noch munter die Hügel auf und ab kämpften, laufen wir heute durch weeeeeite, flache Ebenen.

Über den Feldern kreisen Schwärme von Vögeln, die merkwürdige Laute ausstoßen. Sie klingen wie kichernde Hexen, die auf ihren Besen umherfliegen. Da fällt mir ein: Mama, bald ist Walpurgisnacht! Und ich bin nicht da, um mit dir auf den Blocksberg zu reiten! So eine Schande!

Der erste Ort, den wir durchlaufen, ist das beschauliche Dörfchen Bussy-Albieux. Heute haben wir uns entschlossen, uns schon früher mit der Organisation unserer Futtersuche zu befassen; Wo es Lebensmittel zu kaufen gibt, kaufen wir ein, wir warten nicht mehr aus tragetechnischen Gründen bis kurz vorm Etappenziel. Hier im Ort haben wir nicht viele Möglichkeiten. Es gibt eine Bäckerei, das war's. Man nimmt, was man kriegt. Allerdings hat diese Bäckerei für französische Verhältnisse eine Mordsauswahl. Es gibt Baguette, Croissants, aber auch Schokocroissants, Milchbrot und gehaltvolles Krustenbrot. Wir sind begeistert und marschieren mit zwei Krustenbroten, zwei Croissants und einem Schokoweck aus dem Geschäft. Hmmm, dieser Duft!

Wir passieren Arthun und laufen weiter durch die Weidelandschaft. Nachdem wir eine riesige Burg (die mehr ein Schloss war) mit einem noch riesigeren Garten (der mehr ein Anwesen war) passiert haben, ist es schon Zeit für unsere erste Rast. Wir lümmeln uns mal wieder an einen Feldrand und ich ergötze mich an unserem köstlichen, frisch gekauften Brot. Sira ergötzt sich derweil auch: Sie hat scheinbar einen unwiderstehlichen Duft wahrgenommen, irgendwo unter der Erde. Die nächsten zwanzig Minuten verbringt sie damit, sich bis ans andere Ende der Welt durchzugraben. Sie hängt kopfüber im Erdloch, schmeißt mit Erde um sich, erlegt Regenwürmer und Wurzeln, scheint aber immer noch nicht gefunden zu haben, was sie sucht. Sie ist unermüdlich. Als wir weiterziehen, kriege ich sie kaum losgerissen.

Der weitere Weg führt uns kilometerlang schnurstracks geradeaus über eine kaum befahrene Teerstraße. Im Vergleich zu gestern haben wir heute wieder etwas weniger Glück mit dem Wetter. Wolken verhindern den strahlenden Sonnenschein, den wir die letzten Tage genießen durften. Solange es nicht regnet, sind wir zufrieden.

Wir erreichen Sainte-Agathe-la-Bouteresse und machen eine weitere Rast am Fluss, bevor wir an der Landstraße weiterlaufen bis Montverdun. Aus dem Ort sehen wir bereits das alte Kloster, unsere Unterkunft, die auf dem Hügel thront. Wir erklimmen den einzigen Anstieg des Tages, bevor wir in unseren Schlafsaal geführt werden. Düster und kalt, wie eine Katakombe. Allerdings unser eigenes Reich, mit Radiator und Licht, also ausbaufähig. Der andere Schlafsaal wird belegt von zwei deutschen und einem französischen Radler, mit denen wir uns in der Gemeinschaftsküche unterhalten.

Veronika kocht, Papa duscht und Sira wird gleich in die ummauerte Klosteranlage entlassen.

Ein schöner Abend!

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Do

04

Apr

2013

Reinhard: Sieger und Besiegte

Von St.-Jean-St.-Maurice-sur-Loire nach Pommiers-en -Forez, 23 km

Veronika ist immer noch nicht wieder fit, besser gesagt, ihre Füße sind es nicht. Etwas sehnsüchtig schaut sie uns heute morgen aus dem Fenster unserer Herberge hinterher, als wir uns um 9 Uhr auf den Weg machen. St.-Jean-St.-Maurice ist zu diesem Zeitpunkt anscheinend menschenleer und wir gehen durch die kleinen Gassen, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Kurz hinter der Kirche fällt unser Weg als schmaler Pfad zur Loire hin ab.

Ja tatsächlich, wir haben inzwischen die Loire überschritten, vorgestern schon. Gestern fiel die 1000km-Marke und wir haben noch immer nicht genug. Sieben Wochen sind wir jetzt unterwegs und wir können schon jetzt die vielen Eindrücke und Erlebnisse kaum noch speichern, wie soll das noch werden?! Wie gut, dass bisher alles im Blog verarbeitet ist, damit bleibt die Erinnerung auf diese Art erhalten.

Während Anni, Sira und ich in der morgendlichen Kühle, aber bei blauem Himmel einige kleine Auf- und Abstiege bewältigen, wartet Veronika auf ihr Taxi, das sie heute zu unserem Etappenziel Pommiers-en-Forez bringen soll. Billig ist das nicht, aber sich quälen taugt auch nichts. In Bully will sie das Taxi nötigen, kurz für einen Einkauf in der dortigen Epicerie anzuhalten, unsere Vorräte tendieren gegen Null. Als wir drei Pilger in Bully ankommen und an der Epicerie vorbeilaufen, steht ein Taxi vor der Tür. Das nenne ich ja mal ein perfektes Timing. Doch der Taxi-Chronometer läuft unaufhaltsam und es ist nicht viel Zeit, das unerwartete Zusammentreffen zu feiern. Veronika packt die Lebensmittel ins Auto und ist auch schon wieder weg, während Anni und ich uns einen Kaffee bzw. eine Cola gönnen. Wir setzen uns draußen an einen kleinen Tisch und genießen die Sonne.

Wir haben gerade unsere Rast beendet und ich komme von der benachbarten öffentlichen Toilette zurück, da sehe und höre ich Anni mit zwei Frauen reden. Schnell erkenne ich sie auch: Schon gestern haben wir sie mit schleppenden Schritten und dicken Rucksäcken in St.-Jean-St.-Maurice einlaufen und ein Quartier suchen sehen. Es sind auch Pilger((innen) und wieder mal Deutsche. Wer hier pilgert, kommt aus Deutschland, jedenfalls zum allergrößten Teil. Wir erfahren, das sie aus Warendorf im Münsterland kommen, seit sechs Jahren dabei sind, sich den Jakobsweg von zu Hause aus zu erlaufen und gestern wieder mal angefangen haben. Ziel für sie ist diesmal Le Puy, für uns nur ein Zwischenziel.

Während wir wieder weiterziehen, holen sie sich wohl ihren Kaffee raus. Das Wetter verwöhnt uns heute. Anni und ich beschließen, den heutigen Tag als ersten vollwertigen Frühlingstag zu bewerten. Sonnenschein von morgens bis abends, dazu sehr angenehme Temperaturen, die uns dazu bringen, im T-Shirt zu gehen. Zur zweiten Rast lümmeln wir uns auf eine trockene Wiese und ich jedenfalls schließe manchmal die Augen, um den Vögeln zuzuhören.

Dann aber höre ich eher Hunde. Erst einen, dann immer mehr. Sie gehören zum naheliegenden Bauernhof und melden Besitzansprüche an. Dabei wollen weder Anni und ich und erst recht nicht Sira ihnen diese abspenstig machen. Sira zeigt zunächst kein großes Interesse an den Kläffern, als diese aber immer mehr und immer lauter werden und sich sogar immer aggressiver nähern, zeigt unser Pilgerhund Zivilcourage. Sie springt auf die Bande zu, bellt ein paarmal drohend - und siegt. Die Feinde treten den Rückzug an. Gut gemacht, Sira!

Die Siegerrolle kann sie nur wenig später nicht unbedingt für sich verbuchen. Als wir bei einem einsamen Bauernhof an einem Teich vorbeikommen, hüpft plötzlich von dessen Rand ein Frosch nach dem anderen vor Siras Nase ins Wasser. So sehr Sira sich auch anstrengt, die Frösche sind immer schneller und sie kann ihnen nur blöd nachgucken. Tja, man muss auch mal verlieren können.

Nach einer immer flacher werdenden Strecke, aber bei immer gleichbleibendem Sonnenschein, erreichen wir gegen 16 Uhr Pommiers-en-Forez. Die Besichtigung der dortigen ehemaligen Benediktinerabtei kann mich heute nicht reizen und wir marschieren den letzten knappen Kilometer weiter bis zum Campingplatz. Veronika erwartet uns dort vor schon auf der kleinen Terrasse vor unserem reservierten Ferien-Caravan. Hier hat sie es sich den Tag über gut gehen lassen und wir drei Pilger tun es ihr jetzt nach.

Wie heute könnte das Wetter gerne noch etwas bleiben, aber die Wettervorhersage hört sich anders an.

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Di

02

Apr

2013

Annika: Am Ende alles gut...

Von St-Haon-le-Chatel nach St.-Jean-St.-Maurice-sur-Loire, 23 km

Unser Wahnsinnsfrühstück haben wir gleich zwei Frauen zu verdanken: Der Herbergsbetreiberin, die uns köstlichen Apfelsaft und sogar Eier spendiert, und Veronika, die uns ein leckeres Frühstück mit Rühreiern und heißem Kakao zaubert.

Sie kann ihren Tag heute ganz in Ruhe angehen, da sie sich nach den gestrigen Strapazen entschieden hat, einen Ruhetag einzulegen und sich mit dem Auto nach St Jean St Maurice sur Loire bringen zu lassen. Ich kann es verstehen. Neidisch bin ich allerdings nicht. Als ich einen Blick nach draußen zur strahlenden Morgensonne werfe, freue ich mich wie jeden Morgen, in meine Stiefel zu schlüpfen.

Als wir gestern 2 km vor St Haon durch Veronikas freundliche Mitfahrgelegenheit abgelenkt waren, müssen wir wohl eine Abzweigung verpasst haben. Keine Markierungen mehr... Was soll's! Nehmen wir halt statt dem Jakobsweg den schnellsten Weg über die Straße in den Ort. Dadurch wissen wir allerdings heute Morgen nicht, wo wir in den Jakobsweg einsteigen können. Die Karte im Führer ist sehr grob, die Beschreibungen vage. Google Maps hilft auch nicht. Nach ein paar Mal Hin und Her und einer belustigten Veronika am Fenster über uns finden wir die Muschel dann endlich - direkt vor unserer Unterkunft, aber seeehr klein (natürlich!). Wir verlassen das beschauliche St-Haon und marschieren im munteren Auf und Ab durch Renaison. Wir hören Grundschulkinder auf dem Pausenhof quieken und Papa vermisst "seine" Kinder.

Bald ist es Zeit für eine erste Rast. Wir lümmeln uns direkt am Feldweg in die Wiese und genießen die Sonne. Ist das herrlich!

Beim Gang durch die Orte St-Andre-d'Apchon und St.-Alban-les-Eaux fällt mir mal wieder auf, was mein Hund für eine coole Nudel geworden ist. Die Hunde hinter denen Gartenzäunen drehen völlig durch, bellen und Rennen wie verrückt, hüpfen aufgeregt hoch und würden am Liebsten durch die geschlossenen Zäune kommen und meine Süße würdigt diese Dollmänner in der Regel keines Blickes, selbst wenn sie sie im Rudel ankeifen. Und wenn sie doch mal loslegen will, reicht ein ermahnendes Wort und sie gibt Ruhe.

Wir sind gut im Schritt. In Lentigny ist es Zeit für unsere zweite Pause, bevor wir zum Endspurt ausholen. Auf einer Steinbank vor der Kirche lassen wir uns nieder und relaxen. Als wir gerade alles wieder einpacken und aufbrechen wollen, quatscht uns ein junger Mann mit langen Haaren an. Er fragt, ob wir Jakobspilger seien und bei ihm etwas trinken wollen. So etwas können wir natürlich nicht abschlagen. Er führt uns zu seinem Haus, wo seine Frau mit Baby auf dem Arm uns gerade noch freundlich begrüßt und dann davonläuft. Im Haus bekommt Sira einen Knochen und wir Saft und das Angebot, etwas zu essen. Das ist nun aber wirklich nicht nötig. Außerdem wollen wir weiter, wollen ankommen. Nach einer halben Stunde bedanken wir uns und ziehen davon.

Eine gute Stunde später erreichen wir Saint-Jean-le-Puy, das zusammen mit dem östlich angrenzenden Saint-Maurice-sur-Loire den Doppelort St.-Jean-St.-Maurice-sur-Loire bildet. Als wir Saint Jean durchqueren, können wir nirgends unsere Gite finden. Wir laufen den Berg hoch bis zur Kirche und noch ein Stück weiter. GoogleMaps hilft auch nicht, Passanten gibt's mal wieder keine. Also rufen wir Veronika an und sie schickt uns, laut Papas Interpretation, wieder runter, also zurück. Gesagt, getan! Dann warten wir auf Veronika, die uns entgegenkommen wollte. Nichts zu sehen, also ein erneuter Anruf. Wir müssen scheinbar doch nach Saint Maurice, also wieder an der Kirche vorbei. Die Leute gucken inzwischen mitleidig.

In Saint Maurice laufen wir zwischen ein paar Häusern durch eine unscheinbare Gasse und - zack! bietet sich uns ein unerwartet schöner Anblick. Das Loiretal erstreckt sich vor uns. Ein breiter Fluss, Greifvögel kreisen darüber, wir schauen auf die vereinzelten Höfe und kleinen Burgen am anderen Ufer. Auf unserer Seite der Loire fällt der Blick auf die wunderschöne Altstadt von Saint-Maurice und die alte Burgruine. Nach weiterem Umherirren in der Altstadt und einem weiteren Telefonat finden wir dann endlich doch noch Veronika und unsere Unterkunft.

Am Ende wird doch alles gut!

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Mo

01

Apr

2013

Reinhard: April, April!

Von Briennon nach St-Haon-le-Chatel, 25km

Gefrühstückt wird heute morgen auf dem Zimmer. Nach dem Einchecken hatten wir bereits gestern auf ein petit dejeuner verzichtet. Bei den eigenen Vorräten wissen wir wenigstens, was wir haben.

Allerdings müssen unsere Vorräte wieder aufgefrischt werden. Der Franzose kennt keinen Ostermontag, daher besteht die Hoffnung, dass wir einen Laden finden. Andererseits sind viele Lebensmittelgeschäfte montags geschlossen, weil sie sonntagmorgens geöffnet haben. Wir haben Glück und finden ein Lädchen, wo wir alles finden, was wir auf die Schnelle brauchen.

Und jetzt kommt der Hammer! Die Sonne scheint - von einem flatschblauen Himmel! Der morgendliche Frühnebel hat sich aufgelöst und es ist einfach nur schön. In der Nacht muss es aber unter 0°C gewesen sein, denn überall, wo die Sonne noch nicht hinreichen kann, liegt noch Raureif auf den Wiesen. Teer- und Wiesenwege bestimmen heute unseren Jakobsweg, nennenswerte Steigungen gibt es kaum. Kein Wald schränkt den Blick ein und wir kommen gut voran.

Es ist kaum eine Stunde vergangen, stehen wir vor der beeindruckenden Abteikirche von La Bennison-Dieu. Über 50 Meter hoch ist der Kirchturm, im typischen farbenfrohen Stil der Region ist das riesige Dach eingedeckt. Anni und Veronika gönnen mir wieder eine kleine Besichtigung, während sie draußen in der Sonne auf mich warten.

Wenig später erleben wir eine etwas beklemmende Situation: Auf einem Weg am Waldrand finden wir eine kleine tote Katze. Fast sieht es aus als würde sie schlafen. Sira vibriert nahezu vor Aufregung. Zentimeterweise nähert sie sich mit ihrer Nase, darauf gefasst, urplötzlich zu reagieren, sollte die Katze irgendeine Aktion ihrerseits zeigen. Sie tastet das Fell der Katze mit ihrer Nase ab, schnüffelt, knurrt leise, startet erste Knabberversuche, jederzeit aber auch zur Flucht bereit. Irgendwann reicht Anni das etwas makabre Schauspiel und sie zieht Sira energisch von der kleinen toten Kreatur weg.

Wenig später eine amüsantere Situation: Wir erreichen einen Bach, der nach den vergangenen Schlechtwettertagen viel Wasser führt. Quer durch den Bach führen kleine runde Watsteine aus Beton von einem Ufer zum anderen, werden aber fast vom hohen Wasserstand erreicht und sehen sowieso sehr glitschig aus. Müsste man tatsächlich hier rübergehen, so wäre das ein sehr waghalsiges Unternehmen. Beim Unwissenden setzt Schnappatmung ein, ich habe meinen Pilgerführer gelesen. Ein Blick nach links und ich sehe, keine zwanzig Meter entfernt, eine kleine Hängebrücke, die wohl schon viele Pilger trocken auf die andere Seite gebracht hat. DAS WEIß VERONIKA ABER NICHT, die etwas verspätet eintrudelt. Anni und ich sind uns in Sekundenschnelle einig: Wir machen uns mit ihr einen Joke. Mit unserem schauspielerischen Talent schildern wir ihr bei Ankunft die etwas "schwierige Situation" und hoffen auf einen kleinen Verzweiflungsausbruch. Jetzt aber verblüfft sie uns. Ohne lange zu überlegen, schnappt sie sich einen ausreichend langen und dicken Stock und macht sich auf die Reise. Bevor nun die Sache schief geht, teilen wir ihr schnell mit, dass WIR lieber die Brückenlösung wahrnehmen. Veronika nimmt's mit Humor und wir erklären diese Aktion zur einem gelungenen Aprilscherz.

Anni greift die Idee des Aprilscherzes sofort auf und spinnt sich einen schönen Aprilscherz für unseren Familienclan zusammen: Papa ist bei dem Versuch, einen Bach zu durchqueren, gescheitert, hat sich dabei verletzt und liegt im Krankenhaus. Veronika ist mit ins Krankenhaus gefahren, sie selbst ist mit Sira allein irgendwo in Frankreich und die Pilgerreise ist wohl jetzt zu Ende. Was soll sie tun??? Man solle ihr bitte per SMS einen Rat geben. - Meine Kinder sind von meinen Aprilscherzen der letzten Jahre wohl ausreichend sensibilisiert, sodass sie darauf nicht hereinfallen. Ihre eingehenden SMS machen mir das deutlich. Enttäuschend!

So gut Veronika die Situation am Bach gemeistert hat, so schwer fällt ihr aber der Rest der Strecke. Immer wieder fällt sie weit zurück, Füße und Beinmuskulatur schmerzen. Bei der letzten Rast in St.-Romain-la-Motte fließen Tränen, nicht nur wegen der Schmerzen, wohl auch, weil unterwegs etwas der Trost fehlt und Anni und ich weit entfernt munter vorwegschreiten. Ich gebe zu, manchmal habe ich die Sensibilität einer Litfaßsäule.

Aber Veronikas Erlösung kommt: Zwei Kilometer vor unserem Zielort St.-Haon-le-Chatel hält neben uns ein Auto. Fahrerin und Beifahrer reden fröhlich auf uns ein und bieten irgendwann Veronika an, sie zur Unterkunft zu fahren. Veronika nimmt natürlich dankend an. War wieder mal Jakobus am Werk? Manchmal möchte man wirklich dran glauben. Das Witzige aber ist, dass das gleiche Auto bereits fast zwei Stunden vorher schon einmal neben uns gehalten hat und die Insassen ein kurzes Pläuschchen mit uns gehalten haben. Veronika hätte sich also vielleicht schon lange nicht mehr zu quälen brauchen. Jakobus, vielleicht warst du hier nicht so richtig auf Zack!

Eine halbe Stunde später steigen Anni und ich die steilen Gassen hinauf bis zu unserer Gite rural in der Rue Grenette und Veronika ist relativ verblüfft, weil wir schneller wieder vor ihr stehen als erwartet. Für sie ist die Welt inzwischen wieder in Ordnung. Gehen kann sie kaum, aber sie lacht wieder. Sie ist begeistert von unserer Unterkunft, freut sich auf unser Abendessen, das bereits im Kühlschrank steht, und auf die daneben funkelnde Flasche Rotwein.

Anni und mich hält es noch nicht in der Gite. Der kleine mittelalterliche Ort hat uns bei unserer Ankunft schon so gut gefallen, dass wir ihn uns nochmal genauer ansehen wollen. Vielleicht kann man unseren kleinen Rundgang so zusammenfassen: Fotomotive zum blöde werden, ein sehr altes Örtchen, aber sehr sauber und gepflegt, nicht kitschig, sondern mit Charakter. Für mich bisher der schönste Ort unserer Pilgerreise.

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So

31

Mär

2013

Annika: Es ostert!

In der Nacht war ich, wie man bei uns so schön sagt, inner Uhr. Die Uhren wurden umgestellt. Ich wusste gestern Abend nicht, ob sich die Zeit am Smartphone selbst umstellt oder ob ich das manuell regeln muss. Ich versuche es einfach manuell.

Nachts werde ich vom Dröhnen des PCs und dem fiesgrellen Licht des Monitors wach. Papa durfte hier seinen Artikel schreiben und als er das letzte Mal abspeichern wollte, lud und lud der PC. Also hat er das Ganze so zurückgelassen und als ich nachts um eins wach werde, muss ich erst einmal alles ausmachen.

Eine Weile später klingelt mein frisch manuell gestellter Wecker. Dummerweise hat mein Phone sich auch automatisch auf die Sommerzeit eingestellt, also ist es erst Viertel vor sechs. Die stündlich lautstark rabäkende Kuckucksuhr im Flur ist so nett, meine Unsicherheit bezüglich der Uhrzeit zu beseitigen. Ich kann noch ein Stündchen schlafen, bevor ich mich wie gerädert parat mache.

Als ich aus dem Bad komme, finde ich in meinem Bett eine Überraschung: Der Osterhase war da! Auf meinem Bett liegt ein Osternest! Ich freue mich über Schokoladeneier, Sira sich mehr über das Nest an sich, mit Moosfüllung.

Als wir unsere Herberge verlassen, frage ich mich, wie der Osterhase überhaupt hergefunden hat: Es ist kalt, es schneit und der Nebel ist so dicht, dass man nicht einmal das Haus auf der anderen Straßenseite sehen kann. Wir sehen eine einzige Frau, die ihre Baguettes holt, ansonsten sind die Straßen menschenleer.

Sira lässt sich vom unheilvollen Wetter nicht beeindrucken. Sie hat ein Bällchen gefunden, das sie die nächsten 300m hingebungsvoll mit sich rumschleppt.

Von den im Wanderführer beschriebenen traumhaften Fernblicken sehen wir nichts. Wir erkennen gerade so den Weg vor uns und eine Kuh-/Kalbs- und Bullenherde. Als Sira diese geballte Menge Steaks anbellt, rennen sie erst auf uns zu und dann vor uns davon. In diesem Nebel sieht das schon echt eindrucksvoll aus...

Als wir weiter über mal mehr, mal weniger matschige Wald- und Feldwege laufen, kommen wir durch kleine Orte, deren Kirchenglocken uns am Ostersonntag begrüßen. Der Nebel lichtet sich immer mehr, der Schnee hat aufgegeben und ab und an wagt sich sogar die Sonne heraus!

Als wir auf einer Anhöhe in Mars unsere erste Pause machen, merken wir allerdings, dass ihr noch ganz schön die Kraft fehlt. Wir frieren und Sira schabt mit der Schnauze im Kies, um sich ein möglichst warmes Nest zu bauen. Am Ende hat sie ihr Plätzchen wie immer ganz nah an Papas Beinen gefunden.

Wir passieren eine Art Kombination aus Schrottplatz, Havarieladen, Kneipe, Bäckerei, Supermarkt, Café und Messiegrundstück. Veronika geht hinein und kauft ein Baguette. Sie ist beeindruckt von diesem riesigen und absolut unorganisierten Chaos. Vor dem Grundstück der obligatorische Hofhund, heiser gebellt, an einer 3m-Kette, völlig abgedreht und in seinen eigenen Exkrementen und Schlamm lebend. Es ist zum Heulen.

Nach einigem Bergauf und Bergab erreichen wir Charlieu. Auch hier wirkt alles sehr ausgestorben. Papa ist glücklich, dass die Abbaye trotz Ostern geöffnet hat und schlüpft hinein. Sira und ich müssen draußen bleiben. Hunde verboten! Veronika hat auch kein Interesse, also nutzen wir unsere Zeit für eine Rast. Und da uns so erbärmlich kalt ist, kommt zum ersten Mal seit Reiseantritt unser Kocher zum Einsatz. Wer hätte das gedacht! Wir schlürfen genüsslich unseren Kaffee und Sira fröstelt auf ihrer Decke zu meinen Füßen.

Nach einer Weile treibt uns die Kälte hoch und wir setzen zum Endspurt an. Die Menschen sind scheinbar so langsam fertig mit ihrer Mittagsruhe - die Straßen füllen sich. Immer an der Landstraße entlang erreichen wir schließlich unser Etappenziel Briennon. Unsere Unterkunft sieht schwer verlassen aus. Als wir die Dame des Hauses anrufen, steht sie plötzlich in der Tür des Nebenhauses. Sie lässt uns herein und schon auf der Treppe schlägt uns ein unglaublicher Hundegeruch entgegen. Der Haushund ist im Nebenzimmer eingesperrt. Naja, nett, dass er wenigstens sein Aroma hiergelassen hat!

Ich begutachte mein Zimmer. Es stinkt nach kaltem Rauch, sonst ist alles da, was man braucht, nur keine Wände. Toilette, Waschbecken, Dusche, alles hinter einem Vorhang.

Prost Mahlzeit, das ist was für mich! Was tut der Pilger nicht alles!

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Sa

30

Mär

2013

Reinhard: Zuuuuurueck!!!!!

Von Propières bis Le Cergne, 22 km

Keine Angst! Die Ueberschrift soll nicht andeuten, dass wir beabsichtigen, unsere Pilgerreise abzubrechen und in Kuerze nach Deutschland zurueckzukehren. Dazu laeuft unser Weg viel zu rund. Was sich dahinter verbirgt, werde ich gleich preisgeben.

 

Bevor ich ueberhaupt noch was anderes schreibe, moechte ich mich jetzt endlich mal bei all denen bedanken, die so fleissig unseren Blog lesen, unsere Artikel kommentieren oder sich in unser Gaestebuch ("Und jetzt ihr!") eintragen. Ihr glaubt ja gar nicht, welchen Antrieb uns das gibt. Dafuer sitzen wir schon mal gerne abends bzw. bis nach Mitternacht vor dem PC (im guenstigsten Fall) oder mit roten Augen vor dem Smartphone. Also vielen Dank dafuer!!! Wer uebrigens nicht weiss, wie das mit dem Kommentieren geht: Auf die jeweilige Ueberschrift klicken, bei dem Artikel nach ganz unten scrollen - und zack! - da ist auch schon das Kommentareingabefeld! Wir freuen uns ueber jede Stimme aus der Heimat!

 

Bevor wir heute Morgen bei Geneviève das Wohn-/Esszimmer betreten, wo bereits das Fruehstueck angerichtet ist, stecke ich erstmal meinen Kopf durch die Tuer und frage vorsichtig an, ob keine Katze im Raum ist. Wenn das naemlich der Fall waere, haette Sira in Nullkommanix IHR Fruehstueck hinter sich. Geneviève gibt Entwarnung und wir setzen uns an den grossen Esstisch. Dieser wird beherrscht von einer grossen Zahl von Marmeladenglaesern, alle voll mit den herrlichsten Marmeladenkompositionen aus eigener Herstellung: Apfel/Traube, Rhabarber/Vanille, Aprikose/Ingwer, Birne/Anis, Banane/Thymian, Pflaume/Zimt etc.  Es besteht der begruendete Verdacht, dass ich, einmal in der Heimat zurueck, monatelang keine Marmelade mehr essen werde nach der wochenlangen Ueberzuckerung bei den petit dejeuners hier in Frankreich, aber hier lohnt sich der Zuckerschock wirklich. Dazu noch mehrere Stuecke Honig-Nuss-Kuchen ... wir sind nur wenige Schritte vom Schlaraffenland (und vom Zahnarzt) entfernt. Geneviéve, die mit uns am Tisch sitzt, freut sich, dass es uns schmeckt.

 

Draussen regnet es leicht, als wir uns vor der Tuer von der Hausherrin verabschieden. Es gibt Quartiere, die kann man gut und schnell verlassen. "La Musardière" gehoert zu denen, wo man glatt einen Tag verlaengern koennte.

 

Weniger schoen ist die Begegnung, die uns kurz nach dem Weggang von "La Musardière" erwartet. Bereits gestern haben wir auf dem Hinweg zur Unterkunft dieses traurige Schauspiel erleben muessen, jetzt auf dem Weg zurueck also ein zweites Mal. Direkt gegenueber eines recht heruntergekommenen Hauses rennen vier Hunde von unbestimmter Rasse in ihrem verwahrlosten Zwinger hin und her, bellen und heulen entsetzlich und wir wissen nicht, ist dies ein aggressives Verhalten oder schreien sie einfach nur um Hilfe. "Holt uns hier raus!" Warum haelt man sich Hunde? Um ihnen ein derart erbaermliches Leben zu bereiten?

 

In Propières fallen Veronika und Anni kurz in die kleine Epicerie ein. Veronika braucht noch ihre Ladung Frischkaese und Anni noch Hundefutter, schliesslich stehen die Ostertage bevor und keine will in Engpaesse kommen. Veronika bekommt ihren Frischkaese, Anni aber kein Hundefutter. Dafuer haelt die Angebotspalette eine Packung Katzenfutter bereit, deren Inhalt nun auf kleinere Tueten umverteilt wird, damit auch Sira etwas zu transportieren, es aber nicht zu schwer hat. Sira schaut bei dieser Aktion ein wenig skeptisch aus der Waesche. Die Groesse der einzelnen Cracker ueberzeugt sie nicht.

 

  Auf der Strasse marschieren wir anschliessend von Propières bis Les Echarmeaux auf gleicher Hoehenlinie. Autos sind nicht viele unterwegs, wir kommen gut voran. Ab Les Echarmeaux geht es wieder in den Wald, Schotterwege mit viel Geroell fuehren weiter auf die Hoehen. Der Col des Aillets, Col des Ecorbans und Col de la Buche werden ueberschritten, dazwischen nur dunkler, meist hoher Fichtenwald im Nebel. Keine Fernblicke, kein Sonnenstrahl, alles - obwohl es nie richtig regnet - immer nur feucht. Pausen fallen nur recht kurz aus, schnell kriecht diese Feuchtigkeit unter die Anoraks. Ich schalte unterwegs auf Autopilot und lasse mich treiben, Veronika traeumt immer wieder von ihrem warmen Kachelofen daheim - und Anni hat laengere Zeit Zoff mit ihrem Hund.

 

Es gibt Phasen, da will Sira einfach nicht so, wie Frauchen es gern haette. Dann zieht und zerrt sie an der Leine und treibt Anni damit an den Rand des Wahnsinns. Dann ist es vorbei mit "Siiirali!" (Koseform), dann folgt "Neeeiiin!!" (1. Warnstufe), "Sira!!! Nein!!!" (2. Warnstufe), schliesslich "Zuuurueck!!!!!!" nebst energischem Zug an der Leine (3. Warnstufe); Danach hilft nur noch ein energisches Aus-dem-Hemd-springen mit dem gleichzeitigen Ausstossen einiger schlimmer Verwuenschungen, deren Inhalt ich jetzt nicht zitieren moechte. Veronika und ich schweigen dann nur noch, Kommentare waeren hoechst ueberfluessig.

 

Kurz nach 16 Uhr sind wir am Etappenziel Le Cergne und finden auch schnell unser Quartier bei Martine und Philippe Danière, eine ganz private Unterkunft bei netten Leuten. Wir haben mal wieder alles, was wir brauchen: Schoene Zimmer, eine herrlich heisse Dusche, einen PC fuer unseren Blogeintrag - und ein leckeres Abendessen. Als wichtige Beigabe erhalten wir noch einen guten Tipp: Uhr umstellen nicht vergessen, ab morgen gilt wieder die Sommerzeit! Bei diesem Wetter draussen kann koennen wir uns im Moment noch nicht so recht an diesen Begriff gewoehnen.

 

Tatsaechlich, Aschermittwoch haben wir uns auf den Weg gemacht und morgen ist schon Ostersonntag. Allen denjenigen, die diesen Eintrag morgen frueh nach dem Fruehstueck, nach dem Eiersammeln oder im Laufe des Tages lesen, wuenschen wir Jakobspilger ein schoenes Osterfest!

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Fr

29

Mär

2013

Annika: Hirngespinste

Von Groß Bois bis Propieres, 20 km

Die Nacht beginnt spät und endet früh, dank der beiden, sich lautstark und ungehemmt unterhaltenden französischen Paare. Auf unserem morgendlichen Gassigang muss ich zwar Pfützenspringen, aber wenigstens regnet es nicht.

 

Zum Frühstück sollen wir nach nebenan kommen, ins Schloss. Unser Herbergsvater empfängt uns in seinen heimischen Hallen, im Speisezimmer. Scheinbar ist er allein. Ich frage mich, ob er auch ganz allein hier lebt. Wofür braucht man dann so ein riesiges Anwesen? Und vor allem,  wie kann man sich das leisten?

 

Bevor wir aufbrechen, werfe ich einen kurzen Blick in die alten Stallungen und bin augenblicklich verliebt: Hier stehen mehrere alte Pferdekutschen, wie man sie aus Westernfilmen kennt, außerdem kleinere Karren zum Transport von Säcken etc. Sofort hab ich Bilder davon vor Augen, wie die Wagen genutzt werden. Und natürlich Bilder davon, wie wir mit dem kleinen Karren gen Compostela ziehen. Das wäre was. Aber Schluss mit Träumen. Taten warten!

 

Während des Frühstücks hat mal wieder Schneefall eingesetzt. Inzwischen ist daraus feinster Sprühregen geworden, in dem wir uns schwerfällig an unsere erste Steigung begeben. Immer weiter laufen wir durch den Wald hinauf bis zum Col de Crie, wo Papa einen Kaffee und Veronika eine heiße Suppe kredenzt. Frisch aufgewärmt und einigermaßen trocken geht es wieder hinaus, auf schlammige Waldwege und zurück ins düstere Wetter.

 

Das Wetter heute würde ich gar nicht zwingend als schlecht beschreiben. Es ist bedrohlich und bedrückend, aber auch extrem fantasieanregend. Als wir durch einen frisch abgeholzten und chaotischen Waldabschnitt laufen, habe ich sofort mehrere Horror-, Katastrophen- und Kriegsfilmszenarien im Kopf. Wenn wir durch klares sonniges Wetter laufen, ist meine Fantasie weitaus weniger aktiv.

 

Nach einem guten halben Tag beginnt die Atmosphäre mich allerdings so langsam zu nerven. Der Sprühregen kommt und geht, wird mal stärker, mal schwächer, aber der Nebel lässt zeitweise nur eine Sicht von unter 50m zu und ich fühle mich eingesperrt.

 

Als der Col de Patoux (915m) erreicht ist, geht es endlich wieder bergab. Allerdings landen wir dafür ziemlich bald in Holzfällarbeiten. Es ist laut, stinkt nach Motoröl und wir müssen mit Sprüngen dem Schlamm entfliehen, den die Zugfahrzeuge erzeugen.

 

Kurz darauf landen wir endlich unterhalb des Wolkenschleiers und freuen uns, in der Ferne die ersten Häuser Propières sehen zu können. Dummerweise wissen wir da noch nicht, dass wir bis zur Herberge noch einmal über eine Stunde ins Tal absteigen müssen, nur um es morgen aufs Neue zu erklimmen.

 

An der Unterkunft sind wir schlammig und bedient für heute. Sira entdeckt allerdings zum krönenden Tagesabschluss noch die zwei Katzen, die in unserer Herberge leben. Sie jault, sie schreit, sie bellt, sie hüpft, aber alles umsonst. Die Dame des Hauses nimmt es erstaunlich gelassen, sperrt die Katzen weg, und heißt uns willkommen.

 

Ihr mittelgroßer, alter Zottelhund (der bestimmt irgendwann in seinem Leben mal süß war), interessiert Sira nicht die Bohne. Erst als er später einmal die Klappe "seiner" Katzen verteidigt, nimmt Sira Notiz von ihm. Seine Verteidigung ist fast niedlich: Dieses Fellknäuel liegt an der Haustür, als mein Hund sich nähert, um die Katzenklappe genauer in Augenschein zu nehmen. Er schaut sie an und gibt eine Art heiseres Fauchen von sich. Das ist wohl seine Art zu Knurren. Dabei zieht er ganz leicht einen Mundwinkel hoch, was wie ein schüchternes Grinsen aussieht. Das ist wohl seine Art, die Zähne zu fletschen. Sira reagiert darauf respektlos wie immer; Sie fordert zum Spielen auf, als würde sie sich ganz herzhaft über seine Drohgebärden kaputtlachen. Konversation beendet!

 

Wenn doch jeder Konflikt so einfach zu lösen wäre!!!

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Do

28

Mär

2013

Reinhard: Danke, Schwester!

Tramayes bis Gros Bois, 20 km

Ich finde, wir sind wirklich gut! Wären wir bisher NUR den spanischen Jakobsweg gegangen, hätten wir schon unser Ziel Santiago de Compostela erreicht. Über 900 Kilometer liegen hinter uns und wir sind noch nicht müde. Von mir kann ich sagen, auch wenn ich abends ganz schön kaputt bin, steige  ich doch jeden Morgen mit viel Freude wieder in die Schuhe und mache mich wieder auf den Weg. Ich glaube, bei Anni ist es nicht anders und bei Sira hoffe ich es wenigstens.

 

Aber nun genug der Selbstbeweihräucherung, jetzt zum Tag: Zum Frühstück treffen wir uns alle fünf auf einem Zimmer, diesmal wollen wir uns das zusätzliche Geld für ein Petit Dejeuner sparen. Nanni kocht in der Dusche das Wasser für den Kaffee, Veronika schmiert für Anni und mich die Baguettes (weil sie es gern und gut macht!), im ganzen Zimmer stinkt es nach Camembert und Knoblauch-Frischkäse und wir alle krümeln hingebungsvoll in die Betten. Ausreichend satt machen sich anschließend ich auf zum Office de Tourisme und Veronika nochmal zu einem kurzen Einkauf.

 

Während Veronika ihren Einkauf zügig erledigt, werde ich im Touri-Büro ganz schön auf die Folter gespannt. Ich will uns doch nur drei Betten für morgen Abend sichern, aber das ist wahrlich nicht einfach! Entweder ist alles voll, weil ja Wochenende ist, außerdem noch Ostern, oder der Beherbergungsbetrieb ist noch gar nicht aus dem Winterschlaf erwacht oder mit Hund geht nichts. Außerdem müssen die Etappenlängen noch einigermaßen sinnvoll sein. Die bemühte Mitarbeiterin versucht ihr bestes und nach dem ca. zehnten Telefonat hat sie Erfolg. Drei Betten sind uns sicher und auch ein Platz für Sira. Jetzt können wir uns beruhigt auf die Socken machen.

 

Wir verabschieden uns von Nanni und Johan vor der Hoteltür. Die Beiden wollen mindestens bis  zur nächsten Autobahnraststätte trampen und von dort aus so zügig wie möglich weiter nach Barcelona. Wir verabreden, uns in etwa vier Wochen erneut zu treffen, für ein paar weitere Tage gemeinsamen Gehens. Letzte Umarmungen und wir gehen wieder getrennte Wege.

 

Nach dem gestrigen sonnigen Nachmittag hängen die Wolken heute wieder tief. Von den rundum recht hohen Bergen sieht man nicht viel und es ist eigentlich nur eine Frage der Zeit, wann es zu regnen anfängt. Wir haben gerade die erste Höhe erklommen, da ist es auch schon so weit: Erst kommt der feine Niesel, dann der recht heftige Regen. Unter Poncho und Regenschirm stapfen wir dahin, Sira ist "not amused". Eine Pause ist fällig, aber wo ist der passende Regenschutz?

 

Jetzt tritt Jakobus wieder auf den Plan: Aus der Tür eines unscheinbaren Hauses in Cenves sehen wir eine junge Ordensschwester die Treppe hinuntereilen, um ihre Mitschwester aufzusuchen, die in einer Art Kellerraum Blumen in einer  großen Vase zusammensteckt. Veronika fragt, ob wir uns mit in den Raum setzen dürfen um zu rasten. Postwendend kommt das Angebot, Mutter Oberin zu fragen, ob wir nicht drinnen im Warmen und Trockenen einen Kaffee trinken können. Wir wittern Geborgenheit und warten auf das Ergebnis der Anfrage an höchster Stelle. Welches dann lautet: Wir könnten reinkommen, aber der Hund müsse draußen bleiben. Das geht für uns natürlich gar nicht! Wir sehen schon unseren Kaffeegenuss schwinden, als eine weitere Schwester uns anbietet, den einmal in Aussicht gestellten Kaffee in die angrenzende Scheune zu bringen. Wir signalisieren Begeisterung und zehn Minuten später steht er auf einem Tablett neben uns. Gleichzeitig kommt ein Minibus vorgefahren. Eine Abordnung der Schwestern kommt just vom Großeinkauf zurück und nun wird das Auto ausgeladen und Gemüse, Obst, Getränke, Blumen usw. werden von einer  Anzahl  junger  Schwestern ins Klosterinnere verbracht. Ab und zu schaut die ein oder andere zu uns hinüber und lächelt oder winkt uns schüchtern zu. Der Kaffee wärmt uns prächtig auf.

 

Es regnet immer noch, als wir weiterziehen. Wir bleiben auf der Straße von Cenves nach Saint-Jacques-des-Arrets, die Waldwege könnten heute zu matschig sein. Wir kommen gut voran, pfeifen auf das Wetter und plauschen und scherzen. In einem kleinen, niedrigen Holzschuppen machen wir nochmal Rast, dann begeben wir uns auf den Endspurt.

 

Über eine kleine Steinbrücke kommen wir nach Ouroux, wo wir in der Schule noch Kindergeschrei hören, dann geht es bergauf - und das nicht zu knapp. Wir schrauben uns immer höher durch dichten Fichtenwald, immer entlang einer nicht enden wollenden hohen Steinmauer. Wie wir später feststellen, ist es die gewaltige Umfassungsmauer der Burg Gros Bois, die uns sogar bis zum Burgtor begleitet. Im älteren Burgbereich finden wir unsere heutige Pilgerherberge, im neueren Schlossbereich wird man uns morgen früh das Frühstück kredenzen. Drinnen ist es nicht gerade warm, aber in der Küche bemüht sich ein Holzofen um etwas Wärme, oben bei den Schlafräumen versucht ein Radiator sein bestes.

 

Veronika kocht uns ein leckeres Abendessen, ich spüle. Jedem das, was er kann. Wir bleiben nicht die Einzigen in der Herberge, zwei offensichtlich befreundete Paare kommen später dazu. Auch Pilger etwa? Sie sind weder nass noch dreckig, so wie wir hier eingelaufen sind. Sind sie mit dem Auto hierher angefahren und beginnen morgen ihr Pilgerabenteuer? Wir werden es erfahren.

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Mi

27

Mär

2013

Annika: Internetfreie Zeit!

Von Poncey bis Saint-Gengoux-le-national, 26 km

Von Saint-Gengoux-le-national bis Cluny, 27 km

Von Cluny bis Tramayes, 24,5 km

Und zack! ist der letzte Blogeintrag auch schon wieder drei Tage alt! Die vergangene Woche ist wie im Flug vergangen. Jetzt ist schon wieder Mittwoch, wir sind seit sechs Wochen und über 900 km unterwegs und ich habe das Ganze immer noch nicht wirklich realisiert.

 

Montag morgen fasse ich beim Gassigang einen Entschluss: Hinter unserer Schlösschen-Unterkunft befindet sich eine 500m lange Einfahrt. Rechts dieser Einfahrt Weinfelder, links so etwas wie ein Schlossgärtchen und eine Wiese. Zur Straße hin eine niedrige Mauer, bei der Einfahrt ein offenes Tor. Hach ja, hier den Hund laufen lassen... Hier würde die doch wohl nicht abhauen... Selbst wenn da hinten ein Karnickel wäre, wäre Sira wahrscheinlich aus der Puste, bis sie am Ende des Gartens angekommen wäre... Also nicht lang nachdenken, Leine los und auf gehts! Meine Güte, die ist gar nicht zu bändigen! Rauf und runter durch den Wein, über die Wiese und wieder durch den Wein. Ich gehe frühstücken, hab dann  aber bald keine Ruhe mehr und sammle meinen total überdrehten Hund wieder ein. Sie knallt sich auf den Teppich und meint, sie hat ihr Tagespensum erreicht. Höhö.

 

Als wir kurze Zeit später unsere total überteuerte Unterkunft mit Sack und Pack verlassen, guckt Sira ziemlich doof aus der Wäsche.

 

Die Sonne gibt sich an diesem Morgen alle Mühe. Ab  und an spendet sie uns in den nächsten paar Tagen  ein herrliches kleines bisschen Wärme und Frühlingsgefühle. In St. Desert treffen wir wieder auf Johan und Nanni, die dort (weitaus billiger als wir) im Kloster geschlafen haben. Wir konnten das leider nicht. Hunde unerwünscht!

 

Bis Montagny-les-Buxy laufen wir nun  durch kleine Dörfchen und leichte Hügel. Unsere Gruppe ist groß, lustig und extrem unterschiedlich. Papa und ich sind eher die Zielwanderer. Wir machen höchstens zwei Pausen und laufen ansonsten ziemlich strack und zügig durch. Johan und Nanni sind meiner Meinung nach totale Genusswanderer. Päuschen, wo und wann auch immer es geht und am Besten immer mit Essen verbunden. Veronika würde ich als Kasteiungswanderer bezeichnen. Dadurch, dass sie jetzt seit letztem Jahr nicht mehr gewandert ist, beschwert sich ihr Körper ziemlich deutlich: Blasen, Knie und überhaupt... Abends oder nach Pausen sieht sie so gequält aus, dass man vermuten könnte, dass sie nie wieder einen Fuß in ihre Wanderstiefel setzt. Trotzdem ist sie jeden Tag aufs Neue dabei und hält durch bis zum Schluss. Und ich glaube sogar, die Schmerzen werden weniger. Vielleicht haben ja auch wir uns von Kasteiungswanderen zu Zielwanderern entwickelt. Vielleicht werden wir ja auch noch zu Genusswanderern wie das Pärchen?!?

 

Obwohl unsere Truppe ein extrem unterschiedliches Tempo an den Tag legt, geht keiner lange allein, sondern mal mit dem, mal mit dem. Schön einfach!

 

Nach Montagny tritt das erste Mal ein Phänomen auf, dass wir  interessanterweise an den beiden Folgetagen auch erleben: Die nicht enden wollenden letzten Kilometer! Da denkt man: Noch EIN Hügel, oder noch EINE Kurve, aber der Zielort kommt und kommt nicht in Sicht.

 

Schließlich erreichen wir aber doch St-Gengoux, mit einer Unterkunft, die doch so ganz anders ist als die davor. Herzlich, großzügig und vor allem günstig!

 

Als ich abends im Dunklen mit Sira vom Gassigang zurückkomme, bin ich total begeistert von der Altstadtstraße. So eng, mit abgewetztem Steinboden und schummriger Beleuchtung. Nein, ich fühle mich nicht ins Mittelalter versetzt. Aber sofort kommt mir Jack the Ripper in den Kopf. DAS könnte sich hier alles gut abgespielt haben... Hua, schaurige Vorstellung!

 

Der nächste Morgen gestaltet sich wieder freundlich. Es ist trocken, nicht zu kalt, also, was wollen wir mehr? Wir verlassen St-Gengoux über bewaldete Feldwege an Weiden entlang. Die Weinhänge und Felder haben wir so langsam hinter uns gelassen. Durch weite Weidenflächen, durch kleine Dörfchen und über sanfte Hügel laufen wir bis nach Saint-Hippolyte.

 

Nach Flagy ist es Zeit für eine Pause und wir lümmeln uns direkt an den Wegesrand. Zwei junge Leute, ca Ende zwanzig, laufen an uns vorbei. Sie sind aufgrund ihres Knüppels und der Muschel am Rucksack offensichtlich Pilger. Scheinbar sind sie nicht an Konversation mit einer Bande wie uns interessiert. Als wir fragen, wohin es geht, ernten wir ein knappes "Mal sehn..." und sie sind weg, den Rest des Tages extrem bemüht, uns nicht mehr zu treffen und wenn doch, uns wenigstens nicht anzusehen.

 

Nach einigem schweißtreibenden Bergauf und Bergab gelangen wir nach Cluny. Bei der obligatorischen Sightseeingtour kommen wir zu spät zur Abtei. Sie haben bereits geschlossen und wir können nichts mehr besichtigen. Papa ist sauer. Er sagt, das sei einer der kulturellen Höhepunkte der Tour gewesen. Ich dagegen kann es verschmerzen.

 

In Cluny sehen wir viele junge Männer und Frauen mit bunt gestalteten Kitteln. Wir fragen uns, was das soll. Religiöse Glaubensgemeinschaft? Politische Gruppierung? Alberne LARP-Veranstaltung? Auf Nachfrage erfahren wir, dass es sich um Schüler der technische Akademie handelt, die einen Kittel tragen müssen und dieses notwendige Übel mit individuellen Motiven kreativ verschönert haben. Naja, für mich sieht das eher aus wie Hogwarts für Erwachsene.

 

Ebenso wie am Vortag versuche ich mich vergeblich am Internet. Es will einfach nicht! Und wenn doch, dann ist es so langsam, dass ICH nicht mehr will...

 

Heute morgen verlassen wir Cluny zeitig und laufen auf die Höhen. Wir gelangen nach Sainte Cecile. Ab dort steigen wir stetig und steil sogar in so etwas wie Berge hinauf. Durch den schweißtreibenden Anstieg zerreißt es die Gruppe mal wieder etwas. Oben angekommen genießen wir den Fernblick hinunter ins Tal.

 

Ein letztes Mal laufen wir gemeinsam im Etappenziel, in diesem Fall Tramayes, ein. Ab morgen schrumpft unsere Gruppe ein wenig: Johan und Nanni ziehen weiter nach Barcelona.

 

Schade! Schön wars mit euch!

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So

24

Mär

2013

Reinhard: Schwere Unterkunftsfrage

Von Beaune (Gigny) bis Fontaine, 30 km

Von Fontaines bis Poncey, 17 km

Naaaaaaaaa????? Habt ihr schon auf unseren Bericht gewartet? Sorry, aber gestern Abend war einfach nichts mehr drin. Zunächst haben wir erstmal eine Monsteretappe hinter uns gebracht, dann lange Zeit (vergeblich) versucht, die nächste Unterkunft zu klären und dann war es auch schon zu spät anzufangen. Aber jetzt liege ich nach einer kalten Dusche im Bett und hole Versäumtes nach.

 

  Anni hatte vorgestern gerade ihren Bericht beendet, kamen Monika und Kurt mit Veronika angerauscht. Ich habe mich riesig gefreut, (heimat)bekannte Gesichter wiederzusehen, denn Anni und ich waren jetzt über fünf Wochen lang ganz  auf uns konzentriert, da kann etwas Abwechslung nur gut sein. Das Hallo ist groß und sofort besichtigen sie unsere originelle Unterkunft. Besonders interessieren sie sich für unsere gelungene Klospülung und die auf einem etwa 80 cm hohen Podest installierte Duschtasse. Genau wie wir sind sie sofort begeistert von der Herzlichkeit unserer Gastgeber und haben überhaupt nichts dagegen, sich mit uns zum Abendessen am großen Tisch im Wohnzimmer niederzulassen. Sabine, unsere Gastgeberin, die nicht müde wird zu betonen, dass sie nicht kochen kann, fährt lukullisch leckere Vorspeisen an und rundet das Ganze mit einer Pizza ab, während ihr Mann Bruno den Rotwein fließen lässt, "den besten auf der Welt" aus Papas Weinberg. Die Konversation geht flockig einher in einer Mischung aus Deutsch, Französisch und Englisch. Es wird viel gelacht und palavert und ich befürchte schon, dass es ein böses Ende nehmen wird, als wir doch nochmal so gerade die Kurve kriegen, Monika und Kurt sich Richtung Hotel verabschieden und der Rest sich zum Schlafen in die Horizontale begibt.

 

Am nächsten Morgen bringt uns Sabine mit dem Wagen ins Zentrum von Beaune. Am Office de Tourisme lässt sie uns raus und wieder mal nehmen wir Abschied von einer kurzen, aber

herzlichen Bekanntschaft. Wie  viele werden es noch werden?

 

Wir winken Sabine noch nach, da laufen wir auch schon Johan und Nanni in die Arme. Wir hatten uns hier telefonisch verabredet und wieder ist die Wiedersehensfreude mit unseren Freunden vom "Traumpfad München - Venedig" groß. Wir gehen nochmal ein Stück zusammen - herrlich!

 

Leider regnet es, als wir durch Beaune bummeln, und es hört zunächst auch nicht auf. Für die Drei nicht sehr motivierend für den Anfang, aber sie kennen das und sind keine Schönwetterwanderer. In den Weinbergen wird auch nicht gearbeitet, den Weinbauern ist es wohl auch zu nass. Wir ziehen durch riesengroße Weinflächen in der Ebene, etwas eintönig, aber das ist jetzt auch schon egal. Nicht egal ist es meinen lieben Mitpilgern, als die Strecke sich immer weiter und weiter zieht. Telefonisch hatten wir eine preiswerte Unterkunft in einer Pilgerherberge in Fontaines reserviert, etwas abseits des Weges. Aber sooo weit abseits des Weges wäre nun auch nicht nötig gewesen. Veronika wirft das Handtuch, nimmt das Angebot unseres "Herbergsvaters" an, nutzt seinen Abholdienst ab Chagny, und lässt sich zum "Refuge" karren, während wir anderen Vier und Sira weiterschluffen. Was laut Wanderführer vier Kilometer abseits des Weges liegen soll, entpuppt sich als ganz andere Herausforderung. Es werden nochmal zehn Kilometer, sieben davon an einem fast schnurgeraden Kanal entlang. Als wir irgendwann dann doch in Fontaines ankommen, tendiert die Begeisterung für's  Wandern bei den meisten gegen Null. Selbst die Kirmes im Dorf reißt uns nicht mehr vom Hocker und wir sind heilfroh, als wir die Herberge endlich erreichen. Veronika hat inzwischen gekocht und notwendige Einweisungen vom quirrligen kleinen Herbergsvater erhalten. Jetzt wollen wir eigentlich nur noch unsere Ruhe - und ich die Sicherstellung unseres Quartiers für morgen. Veronika bemüht sich mit ihrem vorzüglichen Französisch am Telefon, aber nichts geht. Die Unterkunftsfrage bleibt am Abend unbeantwortet. Was mir gewaltig stinkt!

 

Beim Frühstück heute Morgen gibt uns der Herbergsvater außer einem Stempel für unseren Pilgerpass noch ein paar weitere Adressen und Veronika versucht unterwegs weiter ihr Glück. Und siehe da, während einer Rast wird sie in einem kleinen Dorf bei Givry fündig. Eine Chambre d'hotes ist bereit, Anni, Veronika, Sira und mich aufzunehmen. Nanni und Johan wollen sich noch nicht entscheiden und sich später selbst kümmern.

 

Von nun an kann ich den Weg genießen, weiß ich doch nun, dass ich mein Haupt heute Nacht weich betten kann. Wir alle ziehen durch Weinhänge, über kleine Straßen und Dörfer, steigen zu einer Hochfläche hinauf, rasten bei Bedarf (unter anderem einmal an einem Verpflegungsstand für ein Mountainbikerennen) und haben bei nicht unbedingt sonnigem, aber doch trockenem Wetter unseren Spaß.

 

  Gegen 15 Uhr schon sind wir bei unserer Unterkunft - und erstmal geschockt über den Preis. Veronika muss da am Telefon was Falsches verstanden haben... Außerdem scheint sie mir heute sowieso nicht in Hochform zu sein. Hat sie doch glatt heute Morgen im Refuge den Kanten Gouda im Kühlschrank vergessen, den ihr ihre liebe Schwester Thea mit auf die Reise gegeben hat! Und was soll ich heute Abend essen???

 

 

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Fr

22

Mär

2013

Annika: Das kann ja was werden!

Von Nuit-St-Georges bis Beaune (Gigny), 19 km

Eine gemütliche Runde
Eine gemütliche Runde

Nach Siras und meiner morgendlichen Runde durch den ueberraschend schoenen englischen Garten verlassen wir unser "Motel" und gelangen erstaunlich schnell wieder in die Weinhaenge. Wir sind heute morgen frueh unterwegs, da wir nachmittags Zeit haben wollen, uns auf unseren Besuch einzustimmen.

 

Ich blicke in unsere naechste Zukunft mit einer Mischung aus Freude und Skepsis. Natuerlich freue ich mich, dass wir Besuch bekommen, der uns gern ein Stueck begleiten moechte. Allerdings bin ich auch gespannt, ob es zu Reibereien kommen wird. Wir laufen jetzt seit fuenf Wochen ausschliesslich im Dreiergespann, wir sind ein eingespieltes Team, laufen quasi im Gleichschritt, sehen die Wehwehchen und Emotionen des Anderen und wissen sie zu deuten und damit umzugehen. Ich weiss, dass Papa damit auch bei anderen Leuten zurechtkommt. Ich weiss auch, dass unsere Besucher sehr umgaenglich sind. Aber ich kenne auch mich selbst. Und genau da liegt das Problem. Ich bin gespannt, wie die naechsten Tage werden. Und wie ich mich benehmen werden. Aber was soll's, wenn mir etwas nicht passt, gehe ich eben ein paar Tage allein weiter... Wir werden sehen.

 

Auch heute sind die Arbeiter und Arbeiterinnen in den Weinbergen schon frueh aktiv. Sie stutzen, sie verdrahten, sie kokeln, sie pflanzen neu, sie hacken, sie pfluegen... Viel Arbeit, die komplett von Hand gemacht wird. Ich frage mich, ob die Leute ihre Arbeit als angenehm empfinden, immer in gebueckter Haltung, unter Umstaenden in viel Wind, Sonne oder Regen. Allerdings sind sie den ganzen Tag in der Natur, an der frischen Luft, arbeiten mit lebendem Material und gewinnen im Herbst sprichwoertlich die Ernte ihrer Arbeit. Vielleicht gefaellt ihnen das. Ich habe sie nicht gefragt.

 

Wir laufen heute kontinuierlich 300 m oberhalb der Strasse durch die Weinhaenge, immer mal wieder vorbei an Schildern, die den Namen des zugehoerigen Weinguts preisgeben.

 

Es ist sonnig. In der Stadt war es heute morgen noch kuehl, also habe ich meine lange Unterhose, mein Fleece und meine Ueberjacke an. Hier, in der leichten Brise und stets in der Sonne wird mir schnell zu warm. Also rechtzeitig vor der naechsten Anhoehe eine kurze Pause gemacht und unnoetigen Stoff abgeworfen. Ah, schon besser!

 

Am Friedhof von Corgoloin steht eine idyllische Bank im Halbschatten. Zeit fuer eine Rast! Aber die halbschattige Lage treibt uns recht schnell wieder hoch. Mich froestelt mal wieder.

 

Ueber weitere Weinberge wandern wir voran, bis die Dame in unserem Wanderfuehrer uns schreibt, von jetzt an seien wir auf uns allein gestellt, weil die Markierungen hier oft wechseln wuerden. Also folgen wir den angebrachten Wegweisern. Sie schicken uns vor einem Haus hinauf in den Wald, ueber einen munteren Pfad wieder hinab und nach circa einem Kilometer verlassen wir den Wald und stehen vor der anderen Seite des Hauses. Mich ueberkommen Erinnerungen an gestern und ich muss schmunzeln. Naja, ein bisschen Abwechslung von den Weinbergen kann auch nicht schaden.

 

Bei Ladoix-Serrigny machen wir einen weiteren kurzen Stopp, um niedliche kleine Bluemchen am Wegesrand zu fotografieren. Ploetzlich faengt Sira an zu bellen. Unbemerkt hatte sich uns ein Mann genaehert, der ihr nicht geheuer war. Ein Wanderer! Und noch dazu ein Deutscher! Und auch noch Pilger! Nach einem kurzen Plausch trennen sich unsere Wege wieder. Vielleicht trifft man sich ja wieder. Mensch, unser erster Pilger!

 

Am fruehen Nachmittag erreichen wir unser Etappenziel Chigny, ein Vorort von Beaune. Verzweifelt irren wir die Strasse, in der unsere private Unterkunft sein soll, rauf und runter, immer an einem kleinen Schloesschen vorbei. Man muss dazu sagen, dass das hier nicht ueberall so einfach laeuft mit den Hausnummern wie bei uns. Hier wird gesprungen von 72 zu 113 zu 176 und dann zu 194. Unsere Hausnummer soll  die 129 sein. Wir suchen weiter. Bis wir den Briefkasten des Schloesschens betrachten. 129. Das IST unsere Unterkunft!!!

 

Wir laufen durch den vertraeumten Garten und auf die Haustueren zu. Kein Mensch zu sehen. Papa klopft und klingelt ueberall, aber es tut sich nichts. Wir rufen die Nummer an, die uns Christine in Tarsul gegeben hatte. Wir rufen dort an, Bruno hebt ab und oeffnet uns die Tuer. Er ist ganz schoen ueberrumpelt, denn man hatte hier mit unserem Betsaetigungsanruf gerechnet. Davon wussten wir aber nichts. Er ist ziemlich gestresst, aber trotzdem sehr freundlich und bemueht, uns einen netten Aufenthalt zu bescheren, bis seine Frau kommt und uns weiterhilft. Das Haus versinkt seiner Ansicht nach im Chaos (was wir gar nicht so sehen) und er entschuldigt sich hundertmal.

 

Sira spielt an der Schleppleine im Garten. Sie hat die Katzenmami mit ihren Babys auf dem Sofa noch nicht entdeckt. Das werde ich auch verhindern. Nicht, dass wir noch Waisen zuruecklassen.

 

Etienne, der Sohn der Familie und seine Mutter werden von Sira uebermaessig und verschreckend begruesst. Sie kriegen sich schnell ein.

 

Hanni und Nanni haben leider fuer heute abgesagt. Tramper leben eben von den Mitfahrgelegenheiten, und die waren gestern rar gesaeht. Also treffen wir uns erst morgen. Schade! Aber immerhin Veronika schafft es heute bis hierher und bekommt hier ein Quartier.

 

Sabine, die Frau des Hauses wuselt herum, um unsere Zimmer vorzubereiten. Sie entschuldigt sich auch immer wieder.

 

Was haben die denn alle?? Die waren wohl noch nie bei uns zu Hause?!?

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