Pilgern mit Hund nach Santiago de Compostela

Translation:

Reinhard: Am Ende der Welt

Von Fisterra zum Kap Finisterre, 10 km

Liebe Anverwandte, liebe Freunde, liebe Leser dieses Blogs, ich muss euch etwas beichten! Seit heute bin ich unter die Almosenempfänger gegangen. Doch dazu komme ich noch.

Mit dem herrlichen Gefühl, dass uns heute ein wunderschöner Ruhetag erwartet, schlafen wir zwei Stunden länger als normal. Als ich die Augen öffne, sehe ich über unsere Dachterrasse hinaus einen knallblauen Himmel, höre das Geschrei einzelner Möwen und den Meereswind, der ums Haus schlägt. Und wenn er gerade mal eine kurze Pause einlegt, meine ich sogar, die Brandung unten vom Strand zu vernehmen. Ich hüpfe übermäßig gut gelaunt aus dem Bett und würde im Badezimmer gerne laut singen oder flöten, lasse es aber, weil Anni noch schlummert - oder wenigstens so tut. Zehn Minuten später bin ich parat und gehe mit Sira raus, die mich etwas verdutzt ansieht und sich wohl fragt, warum ihr Frauchen zu diesem Zwecke nicht aus der Kiste kommt.

Draußen ist die Luft wie Samt und Seide und schon angenehm warm. Für mich würde das von den Temperaturen her reichen, aber die Sonne wird bestimmt noch einiges zulegen. Was haben wir wieder mal für ein Glück mit dem Wetter! Nahezu wochenlang hat es hier, am westlichsten Punkt Spaniens, geschüttet, berichtet uns Jan. Pilger und Touristen haben tagelang vor lauter Nebel und Regenwolken kaum das Meer gesehen, geschweige denn die Küstenberge der Umgebung. Kein Wunder, dass man den Küstenabschnitt dieser Region die "Todesküste" nennt. So manchem Schiff wurden bei solch einem Wetter die hiesigen schroffen und zerklüfteten Uferfelsen zum Verhängnis.

Sira vermisst bei ihrem Gassigang ihr Frauchen, erledigt schnell ihre Geschäfte und zieht mich zurück ins Haus. Anni ist inzwischen auch aufgestanden, für Sira ist ihre Welt wieder in Ordnung. Rosa fragt, ob sie uns das Frühstück aufs Zimmer bringen könne. Zimmerservice sozusagen. Ich lehne natürlich nicht ab und eine Viertelstunde später bringen uns unsere Gastgeber ein typisch deutsches Frühstück auf unser Schlafgemach. Wenn der Lebenspartner Deutscher ist, weiß eine Spanierin, was ihren deutschen Gästen zum Frühstück schmeckt. Pappesatt beginnen wir danach mit der Gestaltung unseres Ruhetages.

Jan hatte uns gestern bereits den Tipp gegeben: "Wenn ihr zum Kap wollt, geht nicht den langweiligen Weg über die, sich bergauf lang hinziehende Landstraße, auch wenn der Camino offiziell dort entlangführt. Geht lieber ..." Dann zeigt er uns auf einer Karte den Weg über die höchste Erhebung der Kap-Halbinsel, beschreibt ihn als landschaftlich äußerst reizvoll und aussichtsreich. "Ihr nähert euch von oben dem Leuchtturm am Kap und der Blick über ihn hinweg aufs offene Meer ist einmalig". Wir glauben ihm gerne, packen nur das Nötigste in meinen kleinen Rucksack und nehmen dann seine Empfehlung unter die Füße.

Wie einfach ist es doch, steile und steinige Anstiege ohne Wheely zu schaffen. Trotz der immer mehr aufkommenden Hitze ziehen wir zügig den Berg hinauf. Der Schatten von Hohlwegen und Kiefernwäldern sorgt dafür, dass ich nicht einmal ins Schwitzen gerate. Mit jedem geschafften Höhenmeter wird die Aussicht spektakulärer und oben bei der ehemaligen Erimitage San Guillermo gerate ich heute das erste Mal ins Schwärmen. Ich sehe unter mir den Strand "vor unserer Haustür", den Playa Mar de Fora, ich sehe die Häuser von Fisterra, die langgezogene Strandsichel von A Langosteira, über die wir uns gestern Fisterra genähert haben, weiter hinten den Strand von Cee, wo wir vorgestern unsere leckeren Fischmahlzeiten verzehrten, und weiter herüber immer wieder andere ruhige Sandflächen und zerklüftete Felsabschnitte dieser wohl besonders beeindruckenden Küste der Iberischen Halbinsel.

Von der ehemaligen Erimitage San Guillermo ziehen wir weiter auf die nächste Aussichtsanhöhe, erklimmen noch zusätzlich einige Granitfelsen und kommen wieder aus dem Staunen nicht heraus. Wir sind jetzt noch höher, bekommen nun sogar einen Überblick über den Wegverlauf Richtung Muxia. Wir sehen Fischerboote wie kleine Nussschalen auf dem Meer liegen und weiße Schaumkronen auf dem Wasser tanzen. Nur Richtung Westen reicht der Blick noch nicht allzuweit, dorthin, wo hinter einem Kiefernwald der Weg zum Kap und dem Leuchtturm abfällt. Als ich vom höchsten Felsen aus mit meiner Fotokamera ein Rundum-Video versuche, bläst mich der Wind fast runter.

"Jetzt aber endlich zum Kap!", mahnt Anni. Recht hat sie! Seit 24 Stunden sind wir so nah dran. Fast eilig marschieren wir unsere letzten zwei Kilometer in Richtung Westen. Nach dem kleinen Wald und hinter einer Wegebiegung sehen wir es dann unter uns: Kap Finisterre mit seinem Leuchtturm. Und hinter beidem nur noch grenzenloses weites Meer.

In vorchristlicher Zeit wurde das westlichste Kap Galiciens fälschlicherweise als der westlichste Punkt des europäischen Festlandes und somit ebenso irrtümlich als das Ende der Welt betrachtet, worauf auch dessen Name hinweist. Verschiedene Quellen vermuten, dass der Ort daher schon zur Zeit der Kelten einen bekannten Pilgerort darstellte, dem auch im Zuge der Pilgerreise nach Santiago später eine mehr oder weniger große Bedeutung zukam.

Von der kleinen Straße aus, auf der wir den Berg hinunterkommen, sehen wir auf der unter uns liegenden Landstraße, die zum Leuchtturm führt, andere Pilger entlangziehen. Für die allermeisten von ihnen wird ihr langer Weg, sei es zu Fuß oder mit dem Rad, nach wenigen Metern nun endgültig zu Ende sein. Im Moment, als wir auf die Landstraße treffen, fährt ein älteres Ehepaar mit einem angestrengten, aber auch glücklichen Lächeln nebeneinander an uns vorbei. 50 Meter weiter geben sie sich die Hand und fahren so gemeinsam über eine imaginäre "Ziellinie". Dann steigen sie ab, fallen sich in die Arme und küssen sich überschwänglich. Wie ich später erfahre, sind sie Holländer, sind zu Hause gestartet und jetzt, nach 6 Wochen, an ihrem Ziel angekommen.

Auch für Anni und mich ist es nochmal ein sehr emotionaler Moment, als wir hinter dem Leuchtturm stehen, vor uns nur noch steil abfallende Felsen, dann Wasser, Wasser, Wasser ... Wir halten uns im Arm und keiner von uns beiden bleibt unberührt. Ich glaube keiner, der diesen Weg nicht gemacht hat, kann sich in dem Moment in uns hineinversetzen. Dieser Moment gehört nur uns.

Ein Ritual steht noch aus. Nach alter Sitte verbrennen Pilger hier unterhalb des Leuchtturms ein von der langen Pilgerreise verschlissenes Kleidungsstück oder Schuhe. Wir opfern unsere Wandersocken, d.h. wir "opfern" sie eigentlich nicht, sehen sie doch sowieso mittlerweile aus wie ein Schweizer Käse. Und noch genauer gesagt, bei Anni ist es noch das erste Paar (ein Lob an die Hersteller!), bei mir schon das vierte.

Mit Geduld, aber auch mit Mühe, bekommt Anni unsere Opfergaben, trotz des anhaltenden Windes, in Brand gesteckt, sodass sie wirklich zu einem kleinen Aschehaufen zerfallen. Andere bekommen das nicht so gut hin. An manchen Stellen in den Felsen liegen nur angekokelte Textilien, stehen einsame Schuhe auf den Felsen oder stecken Wanderstäbe zwischen Steinen fest.Auch wenn dieser Hang teilweise aussieht wie eine kleine Müllhalde und so mancher Tourist sich über diese "Umweltverschmutzung" aufregen mag, so gehört er doch zum Jakobsweg wie das Gebet in der Kathedrale von Santiago.

Wir schauen noch eine Weile hinaus aufs Meer, drehen uns dann um und gehen zum ersten Mal wieder bewusst nach Osten, auf der Landstraße zurück nach Fisterra. Auf den genauso traditionellen Sonnenuntergang hier warten wir nicht. Den hatten wir in vollendeter Schönheit bereits gestern Abend.

Zurück in Fisterra müssen dringend mal wieder Lebensmittel eingekauft werden. Während Anni in den Supermarkt geht, setze ich mich mit Sira davor auf den Boden, hole noch die Wasserschale aus meinem Rucksack und fülle Wasser ein. Dem Hund soll es ja an nichts mangeln. Dann kommt der Moment: Eine junge Frau geht hinter meinem Rücken aus dem Laden, sieht mich Bettler (mit Hund) auf dem Boden sitzen, zückt ihre Geldbörse - und wirft 50 Cent in Siras Wasserschale. Ich bin so verblüfft, dass ich überhaupt nicht reagiere und das Missverständnis aufkläre. So starte ich also eine neue Karriere, ein Anfang ist gemacht.

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Kommentare: 3
  • #1

    Daniel (Mittwoch, 26 Juni 2013 15:01)

    Hahaha!!! Der Start in eine neue Karriere!! Ihr seid tatsächlich von einem Ende der Welt zum anderen gelaufen. Unfassbar!!!

  • #2

    Fritz (Donnerstag, 27 Juni 2013 23:43)

    Hoi Reinhard,
    das ist mir auch mal passiert. Auf dem Pilgerweg "Via Tolosana". Ich war Bargeld-mässig total abgebrannt. Da der Geldautomat anscheinend Defekt war musste ich die Siesta-Zeeit überbrücken. Es regnete. Meine allerletzte Groschen wollte ich nicht für eine "Sitzplatz-Gebühr" in einer Bar vergeuden. So ging ich zur Kirche und stellte mich mit Rough beim Portal unter. Kam eine einheimische Frau mit Regenschirm und drückte mir eine 2-Euro-Münze in die Hand. Das war in Lodeve.
    Ein anderes mal habe ich in einem Euroski-EKZ eingekauft. Rough platzierte ich ohne Leine beim Wheelie. Als ich nach einer halben Stunde wieder rauskam unterhielt sich eine Frau mit Rough. Als sie mich wahrnahm drückte sie mir eine Dose Hundefutter mit vorwurfsvollem Blick in die Hand und ging ihrer Wege. Daas war in Deba (Baskenland). Übrigens wird Deba im Nahverkehr mit Aufzügen erschlossen. Deba liegt in einem sehr engen Tal. Die Berlanken sind terassenförmig bebaut, und deshalb fahren auf diesen schmalen Quatierstrassen keine Busse, sondern Aufzüge zwischen Talsohle (=Stadtkern) und Quatier-Terassen

    Gruss Fritz

  • #3

    Mama Ingrid (Sonntag, 30 Juni 2013 23:14)

    Hihi, vielleicht hättest du das eher schon mal versuchen sollen, dann wäre die ganze Pilgerreise billiger geworden.
    Nein, eure Gefühle kann ich mir vorstellen, aber wohl nicht annähernd nachempfinden. Ich hoffe nur, Anni, du hast nicht meine gestrickten Socken verbrannt!!!