Pilgern mit Hund nach Santiago de Compostela

Translation:

Annika: Tropfsteinhöhle

Von Boente nach Santa Irene, 25 km

Schon vor dem Frühstück hat Papa den Kaffee auf. Oder eben nicht. Hierzu muss man erklären, dass ich, so oft es geht, versuche, den Morgenkaffee mit dem heißen Wasser aus dem Hahn herzustellen. Nur, wenn dort wirklich kaltes Wasser rauskommt, wird meine Faulheit besiegt und ich packe den rußenden Kocher aus. Heute entscheide ich, dass das Leitungswasser heiß genug ist und nutze den Kochtopf als Schale für unser Müsli. Papa will die Tassen mit Wasser füllen und kommt maulig zurück. "Das war ja wohl mal gar nix! Eiskalt, die Plörre! Das kann man ja keinem Esel ins Ohr schütten..." Ich grinse und schweige. Nachdem er zehn Minuten lang still gelitten hat, erlöse ich ihn und kaufe ihm an der Bar unserer Herberge einen heißen Kaffee. Der Tag kann beginnen.

Ich bin heute sowas von gut in der Zeit! Wenn es nach mir ginge, hätten wir um 7.20 Uhr unterwegs sein können. Papa braucht länger. Er nimmt noch Blog-Korrekturen vor. Naja, auch so sind wir um zehn vor acht parat, das ist immer noch früh genug.

Das Wetter am Morgen ist nicht unbedingt viel besser als das am Vorabend. Es regnet zwar gerade nicht, aber dicke Wolken verhängen den Himmel, alles ist nass und ungemütlich und kalt und die richtige Wanderlust mag nicht aufkommen. Und wie sollen die Waldwege erst aussehen nach dem Regen?!?

Es ist weniger schlimm als erwartet und wir erreichen bald Rivadiso. Aus der Herberge kommen gerade fröhlich unser Ben und Lukas, ein junger Österreicher. Ben hatte gestern keine Lust mehr weiter zu laufen, also wandern wir nun gemeinsam nach Arzúa.

Nach gemeinsamem Einkauf und einer Rast ziehen die Zwei allein weiter. Sie haben heute einen weiten Weg vor sich, da sie ihren frühen Stopp in Rivadiso wieder ausgleichen müssen. Wir verabschieden uns und bleiben noch einen Moment.

Sira benimmt sich komisch seit ein paar Tagen. Keine Sorge, sie ist nicht krank oder so. Sie verhält sich nur komisch. Vielen Artgenossen, teilweise auch wirklich sympathischen Rüden gegenüber ist sie auffallend zickig. Das kenne ich von ihr seit Monaten nicht. Gestern bei unserer Mittagsrast an einer Bar hat sie quasi durchgehend gefiept und gejammert. Einen Grund konnte ich nicht erkennen. Heute bei unserer Rast ist sie wieder irgendwie knatschig. Sie knurrt und fiept in Richtung der Sonne, die blass durch die Wolken hindurchscheint. Ok, das ist ihr grundsätzlich nie geheuer, aber heute steigert sie sich regelrecht rein. Sie setzt sich sogar schutzsuchend unter den Tisch, immer noch maulend. Erst als ich ihr Schutz hinter mir biete, ist sie zufrieden.

Ich frage mich in solchen Momenten, welcher Teufel sie gerade reitet. Merkt sie, dass das Ende der Reise näher rückt? Hat sie genug von immer neuen, ständig wechselnden Bekanntschaften? Oder projiziere ich hier etwas auf den Hund, was vielleicht eigentlich gar nicht da ist? Ich habe das Gefühl, ihr reicht es. Na gut, sie hat ihre Dienste geleistet und lang ist es jetzt ja auch nicht mehr.

Auch nach der Pause behält sie ihre Mauligkeit. Sie zieht durchgehend, egal ob mit oder ohne Pilger voraus. Ich bin mal wieder ausreichend genervt, um von Papa Ablöse einzufordern. Er willigt wie immer ein. Was würde ich hier bloß ohne ihn machen?

Als die beiden vorausjagen, komme ich nicht mehr nach. Ich falle zurück und bleibe stehen. Mein Blick schweift über die Weiden. Es ist mal wieder warm geworden. Bald ist das hier alles vorbei. Dann müssen wir nicht mehr bangen, wenn Regen vorhergesagt ist. Dann müssen wir morgens nicht mehr dreimal überlegen, ob uns auch ja nicht zu kalt oder zu warm wird den ganzen Tag über. Ich muss mich nicht mehr täglich intensivst mit Sira herumzanken und bin nicht mehr andauernd auf Papa angewiesen. Schade eigentlich. Bei all der Vorfreude auf zu Hause und meiner Begeisterung, das Ziel zu erreichen, vergesse ich manchmal, was wir hier jeden Tag für ein Abenteuer erleben und was für ein Glück wir haben, dass uns das so lange, in der Intensität und mit so viel Glück möglich ist, auch gesundheitlich. Wir haben hier eine tolle Zeit erlebt und ein bisschen traurig bin ich doch.

Während ich so vor mich hin sinniere, wandert meine Hand zu der kleinen Tasche am Hüftgurt meines Rucksacks. Es ist Zeit für ein Klümmek (=Bonbon). Ich greife in die Tasche und ziehe sie angeekelt wieder raus. Aus den Karamell- und Hustenbonbons, die wir noch in Frankreich gekauft haben, ist im Laufe der Zeit und der Sonnenstunden ein großer, klebriger Klumpatsch geworden, der sich nicht mehr auseinander dividieren lässt. Und mein Pfefferspray mittendrin. Na lecker. Unverrichteter Dinge ziehe ich den Reißverschluss einfach wieder zu. Das mache ich sauber, wenn ich zu Hause bin.

 Schon während wir durch den Wald laufen, zieht sich der Himmel langsam aber bedrohlich zu. Bald hält neben uns ein Auto. Eine deutsche Frau steigt aus und sagt, sie sei so begeistert, dass sie mal eben aussteigen und den Hund anfassen müsse. Nach dem üblichen Smalltalk über das Wandern mit Hund fragt sie, ob Sira eine Pilgermuschel hätte. Ich verneine und sie bittet uns, bis zu ihrem Haus mit Kaffee- und Kuchenstand zu laufen und dort einen Moment zu warten. Das tun wir auch und werden von zahlreichem Hundegebell aus einem Freigehege und einem kleinen Fiffi begrüßt, der um uns herum springt. Sira und er sind sich auf Anhieb sympathisch und spielen lange und ausgelassen miteinander. Wir trinken Tee und unterhalten uns lange über den Tierschutz. Ihre fünf Hunde sind allesamt arme Tiere gewesen, einer ein krepierender Kettenhund, der Nächste nachgelaufen, wieder einer überfahren und mehr tot als lebendig von ihr zum Tierarzt geschleppt. Die Tiere beeindrucken mich durch ihr tolles Sozialverhalten, ihre blinde Folgsamkeit und ihre Grundfreundlichkeit, auch der bullige Kampfhund.

 Während wir uns unterhalten, kommt ein uns bekanntes Gesicht aus dem Haus: Anke hat nach einer kurzen aber heftigen Migräne-Attacke hier Zuflucht gefunden. Sie durfte zwei Stunden schlafen, jetzt geht es ihr besser und sie zieht mit uns weiter. Der zugezogene Himmel hat sich zu einem handfesten Regen entwickelt, der auch bis zum Abend durchhält.

Durch weitere Hohlwege und Wälder kommen wir voran.

Für eine weitere Rast kauern wir uns zu viert in eine Bushaltestelle. Wir sehen dem Regen zu. Der klitschnasse Hund drückt sich gegen mein warmes Bein, um nicht zu frieren.

 Der Weg zum Ziel kann gar nicht schnell genug vergehen. Bei Regen ziehen wir in Santa Irene ein. In der öffentlichen Herberge weist man Anke ein Bett zu und zeigt uns die  Pferdebox für den Hund. Mit der grundsätzlichen Thematik komme ich klar, aber das Wasser, das in der leicht abschüssigen Seite der Box steht und vor sich hinfault, macht mir das Ganze nicht unbedingt sympathischer. Das Wissen, dass ich mit Sira diese Schlafstätte teilen werde, erst recht nicht. Die Frau von der Herberge guckt nur ungläubig, als ihr klar wird, dass ich bei meinem Hund bleiben werde.

Papa würde gern mit uns leiden, aber der faulende See in unserer Box lässt nur Platz für einen Menschen nebst Hund. Ich bin ganz froh, dass er sich das hier nicht mit antun muss. Schweren Herzens geht er rein und ich baue, wie so oft in letzter Zeit, unser Zuhause für eine Nacht. Ich kehre, versuche, das stetig nachlaufende und deshalb tropfende Wasser im Trog zu stoppen, stelle Eimer unter, lege Alumatten aus, pumpe Matratzen auf, lege Schlafsäcke zurecht und ziehe alles an, was ich habe. Es wird kalt werden.

Papa und Anke kommen abwechselnd immer wieder mit schlechtem Gewissen vorbei, um mir irgendwie etwas Gutes zu tun. Abends liege ich eng an Sira gekuschelt in meinem Schlafsack, das Wasser, das durch die Abflussrinne fließt, klingt wie eine Tropfsteinhöhle und der Regen scheppert aufs Dach. Während mir mal wieder kurz übel wird von dem Geruch des faulenden Brackwassers neben uns, denke ich mir: Es geht auch schlimmer. Das Wasser könnte auch noch von oben kommen.

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Kommentare: 1
  • #1

    Dani (Mittwoch, 19 Juni 2013 13:11)

    Schwesterchen, ihr seid echt ein tolles Rudel! Hut ab!