Pilgern mit Hund nach Santiago de Compostela

Translation:

Annika: Ein Tag geschenkt

Von Portomarin nach Palas de Rei, 26 km

Um drei Uhr nachts werde ich wach. Es ist stockdunkel. Endlich mal. Das erste Mal seit gefühlten Ewigkeiten sind wir an einem Ort angekommen, an dem die Laternen nachts nicht an-, sondern ausgemacht werden. Eine interessante Nacht, so ganz im Dunklen.

Auch interessant ist, dass der ganze Campingplatz leicht hanglagig ist. Wir haben lange nach einem ebenen Plätzchen gesucht und dachten auch, eins gefunden zu haben. Nachts haben wir gesehen, dass das wohl nicht so war. Immer wieder sind wir so tief in den Fußraum gerutscht, dass bis zur Tür mehr als eine Armlänge Platz war. Endlich mal jeden Zentimeter des Zeltes genutzt! Aber da sieht man mal, wieviel Platz da wirklich ist...

  Um Siras Morgengeschäfte zu erledigen, gehe ich mit ihr hinunter zum See. Wenn man schon mal in Wassernähe schläft, muss man es sich auch aus der Nähe angucken. Es dämmert noch. Der Tag ist noch nicht richtig aufgegangen und den gluckernden See kann man nur schemenhaft erkennen. Sira ist das nicht geheuer. Ganz nah ran traut sie sich nicht.

Über meinen Kopf hinweg hat Papa gestern Abend am Campingplatz Frühstück für heute Morgen bestellt. Weil die Übernachtung schließlich so billig war... Toll, so spar ich ja nie Geld. Aber wirklich böse drum bin ich auch nicht, wenn ich morgens nicht noch mit dem blöden rußigen Kocher rumhantieren muss. Das heißt, eigentlich ist gar nicht der Kocher, sondern nur der Spiritus blöd. Mit dem, den ich in Deutschland gekauft hab, konnte ich sogar spurlos in Hotelduschen oder auf der Fensterbank kochen. Mit dem spanischen Brennspiritus flämme ich sogar draußen die Wiesen an und ruße mir alles voll. Riesenschweinerei!

  Also frühstücken wir heute mal Indoor. Das Frühstück ist zwar mit 4,50 € das teuerste bisher, aber dafür auch ganz schön reichhaltig. Das erste Mal, seit wir Deutschland verlassen haben, stehen Wurst und Käse auf dem Tisch, außerdem Äpfel, Orangen, frische Kirschen, Joghurt, ACE-Saft, Muffins und das obligatorische Weißbrot mit Marmelade, Nachschlag inklusive. Durch ein solches Frühstück sind natürlich alle guten Vorsätze für einen frühen Aufbruch dahin. Wieder verlassen wir um kurz vor neun unsere Unterkunft und wissen schon jetzt zähneknirschend, dass wir wieder mal spät ankommen werden und wir nach Zeltaufbau, einrichten, duschen und essen mal wieder kaum noch Zeit zum Bloggen haben werden. Das ist ärgerlich, aber kein Beinbruch, und wieder muss ich sagen: Hilft ja nichts. Ich wundere mich nur immer, dass bei allen anderen Pilgern eine halbe, höchstens eine ganze Stunde vom Weckerklingeln bis zum Abmarsch vergeht, wo wir doch immer ziemlich genau zwei brauchen, egal ob mit oder ohne Zeltabbau, egal ob mit selbst gekochtem Frühstück oder bestelltem.

Obwohl wir spät dran sind, verlassen wir Portomarin nicht als die Letzten. Ein paar "Babys" stehen vor der Kirche. Man erkennt sie sofort, die 100 km-Läufer, die gestern erst gestartet sind. Sie tragen, wenn überhaupt, kleine Tagesrucksäcke, weil man sich den Rest entweder schicken lässt oder für eine Woche eben nicht mehr braucht. Ihre Kleidung ist sauber, ihre Socken ohne Löcher, ihre Gesichter sind noch nicht von der Wandersonne gebräunt. Sie tragen leichte Turnschuhe oder Trekkingsandalen, weil sie keine gewaltigen Klettereien mehr zu überstehen haben. Ihre Hüte und Kleidungen sind mehr schick als zweckmäßig, da sie keine Langzeit- und Härtetests überstehen müssen. Ihre Körper krümmen sich nicht unter der Last der schweren Rucksäcke und sie haben dieses Anfängerleuchten in den Augen, mit denen wir vor vier Monaten zu Hause, eine Handvoll andere in Le Puy en Velay, einige vor fünf Wochen in St.-Jean-pied-de-Port, und wieder ein paar in den großen Städten Pamplona, Burgos oder León gestartet sind. Jeder der "echten" Pilger, die schon länger unterwegs sind, betrachtet die Neulinge mit einer gewissen Herablassung, weil man selbst doch schon viel weiter ist, viel mehr weiß, wie es läuft, vielmehr geleistet hat. Ich persönlich sage mir immer, jeder geht seinen eigenen Camino. Mit Sicherheit haben auch die 100 km-Läufer an ihren täglichen gut 20 km zu knabbern, an die der Körper nicht gewöhnt ist. Und jeder sucht sich seine Last doch selbst aus. Mich hat niemand gezwungen, mit dem unvorstellbaren Gewicht von 14 kg auf dem Rücken die unvorstellbare Distanz von 2800 km zurück zu legen. Das habe ich selbst entschieden. Der Camino ist für jeden so, wie man ihn sich selber legt. Darum übe ich mich in Respekt und Toleranz den Neulingen gegenüber. Trotzdem kann ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, wenn ich bei einem "Buen Camino!" im Vorbeigehen nur einen verständnislosen Blick ernte, oder die Frischlinge ohne den geübten Pfeilesuchblick verzweifelt vor einer Wegegabelung stehen sehe.

Als wir die Brücke hinter Portomarin überqueren, hören wir hinter uns immer noch weitere Pilger kommen. Die Angst vor den Massenanstürmen und der Obdachlosigkeit am Abend scheint so groß also nicht zu sein.

Gleich der erste Anstieg hat es in sich. Steil bergauf geht es durch den Wald, über einen zum Glück sehr unsteinigen Weg. Sira hat mal wieder den Wahnsinn gefrühstückt. Sie schmeißt Tannenzapfen und Äste in die Höhe und vor sich her und jagt ihnen nach. Im Endeffekt rennen wir die gesamte steile Steigung hinauf und alle anderen schauen uns fassungslos und belustigt zugleich nach.

Auf halber Höhe entdecken wir ein Zelt im Wald. Ein Wildcamper hat sich hier wohl niedergelassen. Ist es wohl ein Pilger, der heute weiterzieht? Oder ist es einer der Aussteiger, die im Wald und im Zelt leben und von denen wir schon ein paar kennen gelernt haben seit Astorga. Minimalismus, wie er im Buche steht. Was bringt die Leute zu so einem Leben? Bewusste Entscheidung? Armut? Unzufriedenheit mit den herrschenden Systemen? Einfach nur Freakigkeit? Ich weiß es nicht. Mir wird nur mal wieder deutlich, dass ich fürs Wildcampen nicht gemacht bin. Weil es verboten ist und ich nur ganz widerwillig Verbotenes tu. Weil ich mich schutzlos fühle. Und weil ich fließendes Wasser, ein Klo und Strom eben doch gerne hab.

  Auf der Höhe angekommen laufen wir durch viele kleine Dörfchen. Hier sieht man dann aber doch, dass sich eindeutig mehr Leute auf dem Camino befinden als sonst. Die Bars in den zeitlich zur ersten Rast nach zwei Stunden passenden Dörfern sind reichlich überlaufen. Wir machen es wie mit den Herbergen auch: Gehen wir eben aus dem hochfrequentierten Touri-Bereich von Gonzar raus, noch einen weiter nach Castromaior und machen dort Pause in der Bar, wo kaum ein Mensch sitzt. Hier scheint so wenig los zu sein, dass die Wirtin nicht sofort abkassiert, sondern jeden Pilger im Auge hat, bis man geht und davor noch schnell abrechnet. In unserem Fall musste sie das. Wir hätten nämlich um ein Haar die Zeche geprellt. Ganz ins Gespräch vertieft, verlassen wir die Bar und vergessen, zu bezahlen, bis sie uns nachläuft. Peinlich, peinlich, aber wer uns kennt, sagt jetzt: Typisch!

  Das kommt davon, wenn man so abgelenkt ist! Ben, ein junger, deutscher Linguistiker, der uns seit St.-Jean immer mal wieder und ganz vermehrt in den letzten Tagen begegnet ist. Er hat uns wegen seiner fließenden Spanisch-Kenntnisse schon mehrfach wertvolle Dienste bei der Unterkunftssuche geleistet, heute rettet er uns auf andere Weise. Irgendwie bringt er uns darauf, dass unsere Tageszählung unstimmig ist mit den Wochentagen. Papa hat beim Aufschreiben einen Sonntag ausgelassen, weswegen wir quasi einen Wochentag gewonnen haben. Wir sind also schon Mittwoch in Santiago und Montag am Cap Finisterre, wären also Mittwoch schon in Muxia, wo mein Bruder Basti und seine Freundin Dimi uns aber Donnerstag erst abholen. Da wir quasi einen weiteren Tag geschenkt bekommen haben, werden wir wohl einfach einen (unseren ersten) Ruhetag in Fisterra einlegen. Schön! Gut, dass wir uns nicht umgekehrt vertan haben. Nicht auszudenken, was wäre, wenn uns ein Tag fehlen würde! Gut, dass es Ben gibt, sonst hätten wir in Muxia vielleicht ganz schön lange auf Basti und Dimi gewartet.

  Nachdem wir unsere Schulden beglichen haben, laufen wir über und an kleinen Landstraßen durch weitere Dörfer. Ben war schon vorgegangen, wir holen ihn aber schnell wieder ein und laufen ein Stück der Strecke gemeinsam. Quatschend erreichen wir Ligonde, wo wir eine zweite Pause machen bei einer Donativobar und -herberge mit einem bunten Schild mit der Aufschrift: "Free hugs/kostenlose Umarmungen". Soso... Na, das ist ja was für mich. Sowas kann ich ja gar nicht haben. Wenn Leute einem zu nahe kommen, die man nicht kennt. Und dann auch noch schwitzige Stinkepilger umarmen. Wer macht denn sowas freiwillig?!? Naja, der free hugger scheint heute Urlaub zu haben. Uns werden keine Umarmungen angeboten...

Nach einer Weile stetigen  sanften Abstiegs durch kleine Dörfchen erreichen wir die ersten Häuser von Palas de Rei, unserem Etappenziel. Jessica, die Ex-Hundepilgerin und Hospitalera von A Balsa hat uns aufgeschrieben, man könne in der öffentlichen Herberge anfragen und bekäme dort die Erlaubnis, auf der Dorfwiese umsonst zu zelten. Wolle man aber die sanitären Einrichtungen nutzen, müsse man den vollen Herbergspreis von 6€ zahlen. Ben fragt nach, man verweist ihn fürs Zelten auf das kleine Stück Wiese zwischen Herberge und Straße und sagt ihm aber, der eigentliche Ortskern sei jedoch  noch einen Kilometer entfernt und dort sei die andere öffentliche Herberge. Er zieht also weiter ins Zentrum, wir bleiben stehen und beratschlagen. Wir sind weit weg vom Zentrum und müssen fürs Wochenende einkaufen. Die Zeltmöglichkeit ist nicht optimal. Jessicas Vermerk steht außerdem bei der öffentlichen Herberge im Zentrum. Na gut, also ziehen wir weiter. Im Zentrum dämmert uns schnell, dass bei der Herberge direkt an der Hauptverkehrsstraße und mit all den Hundeverbotszeichen, ein Unnterkommen schwierig werden könnte. "Perro? No! Schlafen im Zelt? No! Andere Möglichkeiten in der Umgebung? No se!"

  Na dann mal herzlichen Dank. Wir sind erschöpft von dem langen Tag in der Sonne, Sira braucht Schatten, Wasser und Ruhe, wir beiden nicht weniger. Von jetzt an sind uns der Preis oder die Art der Absteige egal, Hauptsache wir finden ein Bett und müssen kein Zelt mehr aufbauen! Glücklicherweise liegen die Pensionen und Hotels hier dicht an dicht, also heißt es, abklappern. Papa und Sira parken in der Sonne und ich suche die nächstbeste Pension. Man grinst, man lacht, man ruft den "king of the house" an, nur um mir dann grinsend zu sagen: "No perro!" Ja, haha, wirklich witzig. Dass man das noch mit Grinsen sagen kann. Ich finde das nicht besonders lustig und gehe zum nächsten Hotel. Verzweiflung, Erschöpfung und die Angst vor der nächsten Absage übermannen mich und noch bevor ich meine Frage zu Ende gebracht hab, heule ich dem Mann an der Bar einen vor. Er schaut mitleidig, aber genauso hilflos wie ich mich fühle, als er den Kopf schüttelt. "Perro no possibile." Er verweist mich auf eine Unterkunft ein paar Häuser weiter. Ich bedanke mich und ziehe hoffnungslos davon. In der Pension Guntina keimt neue Hoffnung auf, als ich einen kleinen Hund in der Bar herumdackeln sehe. Ich frage an und - siehe da! wir bekommen ein Doppelzimmer ohne Bad für 20 €! 20 € ??? Soviel bezahlt man für zwei Personen manchmal in Pilgerherbergen mit Schlafsälen für zehn Leute! Wer braucht schon ein eigenes Bad?

Ich stürme zu Papa und Sira, halte triumphierend den Schlüssel hoch und wir erobern unser Zimmer. Der Flur stinkt unheimlich nach Katzenklo und dem Versuch, das Ganze mit Parfum zu übertünchen. Das lässt Schlimmes in Bezug auf das Zimmer befürchten. Selbst das ist uns allen jetzt völlig egal. Hauptsache Bett! Als wir unsere Zimmertür öffnen, sind wir angenehm überrascht. Zwei große saubere Betten in einem sauberen großen Zimmer, sogar mit Balkon und Bad im Flur gleich nebenan. Der Blick vom Balkon hat leichten sozialen Wohnbausiedlungs-Charakter. Auch das ist mir egal. Gleich schräg gegenüber auf dem Balkon steht ein alter Mann im speckigen Unterhemd und raucht, während sein schwarzer Fiffi uns anbellt. Sira weiß wohl, dass sie heute einfach nur froh um ihre Schlafstätte sein sollte und spart sich jeden Ärger, Sie wirft einen Blick auf das wütende schwarze Knäuel, geht rein, legt sich auf ihre Decke und schläft ein.

Und wenn man denkt, es geht nicht mehr, kommt Jakobus und öffnet uns ein Türchen. Danke!

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