Pilgern mit Hund nach Santiago de Compostela

Translation:

Reinhard: Noch 100 km bis Santiago!

Von Sarria bis Portomarin, 24 km

Wir sind noch beim Packen und haben noch nicht gefrühstückt, als Anke in Begleitung von Thomas mit ihrem Rucksack aus dem Wohnmobil herauskommt. Mit einem strahlenden Lächeln und vor Aufregung etwas roten Wangen verabschiedet sie sich von uns und wird dann von Thomas noch zum Tor des Campingplatzes begleitet. Sie ist noch nie eine längere Strecke gewandert, hat noch nie mit anderen zusammen in einem Schlafsaal die Nacht verbracht. Sie lässt sich relativ spontan darauf ein und das beeindruckt mich. Buen camino, Anke!

Dicker Hochnebel liegt noch über Sarria, als wir den Vorortsbereich durchqueren. Eigentlich gibt es nichts Besonderes in Sarria - wenn Sarria selbst nicht etwas Besonderes wäre. Auf dem Camino gilt die Regelung, dass man als Fußpilger mindestens die letzten 100 Kilometer vor Santiago erwandert und auf seinem Pilgerpass durch Stempel dokumentiert haben muss, um seine sog. Compostela in Santiago ausgehändigt zu bekommen. Und Sarria liegt in unmittelbarer Nähe zu diesem magischen Punkt. Besonders viele Spanier steigen erst hier in den Jakobsweg ein und die Frequentierung des Weges nimmt sprunghaft zu.

Über eine vielstufige breite Treppe geht es in den Altstadtteil von Sarria mit seinen engen Gassen, hübschen Häusern und dem alten Monasterio de la Magdalena. Ich schenke mir die bestimmt fast 100 Stufen und umfahre sie mit meinem Wheely über eine hochführende Straße. Direkt gegenüber vom Monasterio höre ich plötzlich eine Stimme aus dem Obergeschoss-Fenster einer kleinen Pension laut "Annika!" rufen. Wir drehen uns um und erblicken John aus Detroit, mit dem wir mal einen Tag zusammen mit der Belgierin Ingrid gegangen sind. Irgendwo zu Beginn der Meseta war das, und in Hornillos del Camino haben wir uns das letzte Mal gesehen. Seitdem war er schnell unterwegs, so sagt er uns, war sogar schon in Santiago. Jetzt ist seine Frau aus Detroit, die uns vom Fenster aus zuwinkt, nachgekommen und geht mit ihm die Strecke Sarria - Santiago ein zweites Mal. Dann aber in ihrem Tempo, so dass er vielleicht auch mehr gezwungen ist, die Landschaft Galiciens zu genießen. Wer weiß, möglicherweise sehen wir die beiden sogar in Santiago nochmal wieder.

Noch während wir Sarria verlassen, reißt der Hochnebel auf und innerhalb einer Stunde ist der Himmel tiefblau. Die Kleiderfrage muss möglichst schnell überdacht werden, denn gleich kommt der knackige Aufstieg nach Barbadelos. Also rechts ran, raus aus dem Wheely-Geschirr, Jacke aus, Schuhe aus, Hose zur Shorts zippen, Schuhe wieder an, Jacke auf dem Wheely griffbereit festzurren und wieder vor's Wheely spannen - wie oft habe ich das nun schon in den letzten Wochen so gemacht. Aber noch nie haben uns im Verlauf dieser fünf Minuten so viele Pilger, oder solche, die es mal für 100 Kilometer sein wollen, überholt. Manche sehen allerdings eher aus wie Sonntagsausflügler, im weißen Baumwollshirt, Tennisshorts und Turnschuhen. Andere kommen als Familienausflug mit dem Fahrrad daher. Wird DAS der Camino der letzten 100 Kilometer sein?

  Doch es hält sich in Grenzen. Irgendwann sind die Massen weit auseinandergezogen und machen sich für uns nicht mehr störend bemerkbar. Die nächsten Kilometer werden zu einer Genusstour. Wir durchwandern die Landschaft auf einer Höhe, die uns das grüne Galicien wie von einem Balkon aus überblicken lässt. Mehr als in irgendeiner Region Spaniens, durch die wir bisher gezogen sind, sehen wir von hier oben große Waldgebiete und gehen durch viele auch hindurch. Fast archaisch anmutende uralte Kastanienbäume wirken auf mich nahezu ehrwürdig und geheimnisvoll, mächtige Eichen genauso. Sie spenden Schatten, geben dann den Weg wieder frei in die Sonne, im ständigen, angenehmen Wechsel. Efeubewachsene Feldsteinmauern begleiten den Weg oder unterteilen die hoch mit Getreide bewachsenen Felder. In Feuchtwiesen quaken unzählige Frösche ein fröhliches Konzert, Riesenbüsche von gelbblühendem Ginster lassen ihre Zweige über dem Weg hängen und verbreiten einen intensiven Geruch. Grillen zirpen und Vögel singen um die Wette, es ist ein Tag für die Sinne, ein friedlicher Tag.

Mercado, Ferreiros, Moimentos, Moutras, Vilacha heißen die kleinen Orte entlang der Strecke, fast jeder mit mindestens einer kleinen Bar oder einer Albergue, wo der erschöpfte Pilger für ein Weilchen rasten und es sich wohlergehen lassen kann. Genau das wollen wir in Morgade. Doch wieder mal ist eine Katze die Spielverderberin. Sie denkt nicht im Traum daran, von der Bildfläche zu verschwinden und Sira dreht an mehreren Rädern gleichzeitig. Anni zieht die einzig richtige Konsequenz: Sie schnappt sich Rucksack und Hund, geht 100 Meter weiter und wartet dort entspannt und stressfrei auf ihren Vater, der noch schnell seinen Bocadillo verdrückt und mit Kaffee hinunterspült.

Kurz nach den drei Häusern des Weilers Brea ein wichtiger Hinweis: noch 100 Kilometer bis Santiago! Stimmt aber nicht so ganz! D.h., irgendwann hat das mal gestimmt, aber durch die Wegverlaufsänderungen in den vergangenen Jahren sind es genau genommen noch 106 Kilometer. Aber wer will da schon kleinlich sein...

Die immer mehr aufkommende Nachmittagshitze fordert ihren Preis. Sira erhält wiederholt ihre verdienten Schatten- und Trinkpausen und auch unsere Schritte werden langsamer, je tiefer wir nach Portomarin hinunterkommen und die Hitze ansteigt.

Endlich überqueren wir auf einer langen Brücke den aufgestauten Fluss Miño, der tief unter seiner Wasseroberfläche das alte Dorf Portomarin begraben hat. Nur die Kirche wurde einst Stein für Stein abgetragen und am gegenüberliegenden Hang wieder neu aufgebaut, umgeben von den Häusern des neuen Portomarin.

Direkt von der Brücke aus führt eine lange Treppe fast komplett hinauf in den Ortskern des Ortes. Jeder Pilger muss sich nach einem langen Wandertag diese vielen Stufen hinaufquälen, um sein Tagesziel endgültig zu erreichen. Uns, und vor allem meinem Wheely, bleibt das erspart. Wir müssen zum Campingplatz, hinter der Brücke direkt rechts rum.

Wie der heutige Wandertag begonnen hat, so hört er auch auf: Von der letzten Treppenstufe oben hört Anni, wie man ihren Namen ruft. Es winkt jemand freudig erregt zu uns hinunter. Anke ist es und sie strahlt. Dabei bleibt es aber nicht. Sie begleitet uns zu unserem etwa einen Kilometer außerhalb am Ufer des Stausees liegenden Campingplatz und berichtet uns von ihrem ersten Pilgertag. Sie hat ihn unbeschadet und ohne große Mühe überstanden, ist für den morgigen Tag höchst motiviert und schreibt gleich ihrem Thomas per SMS einen Kurzbericht von ihrem ersten Pilgertag. Wir freuen uns mit ihr.

Kommentar schreiben

Kommentare: 3
  • #1

    Einfach bewusst (Sonntag, 16 Juni 2013 17:04)

    Hallo Ihr drei,

    schön, dass Ihr so gut vorankommt und weiter nette Begegnungen, wie die mit Anke, habt! Bald ist es ja geschafft. Vermutlich freut Ihr Euch aufs Ankommen. Nur wessen Tagesberichte lese ich dann? Muss ich wohl selber wieder auf lange Meilen gehen ...

    Viele Grüße und passt auf Euch auf,

    Christof

  • #2

    Mama Ingrid (Sonntag, 16 Juni 2013 20:01)

    Mir gehts genauso wie dir, Christof. Was mache ich, wenn die 3 wieder daheim sind und keine spannenden Berichte mehr schreiben?
    Zuerst mal freue ich mich auf die vielen Fotos, die wir hier ja nicht mehr sehen können. Nach euren Beschreibungen müssen die ganz toll sein! :-)
    Hihi, es ist voll geworden auf dem Camino. Das muss ein seltsames Gefühl sein, wenn man weit in der Fremde öfters unverhofft seinen eigenen Namen hört.
    Ab jetzt nur noch eine zweistellige Kilometer-Entfernung bis Santiago!
    Na dann...
    Genießt das nochmal richtig, jeden einzelnen Kilometer!
    LG

  • #3

    Dani (Montag, 17 Juni 2013 09:12)

    Finaaaaale oooooh!!!