Pilgern mit Hund nach Santiago de Compostela

Translation:

Reinhard: Einsamkeiten und ein Bums

Von Calzadilla de los Hermanillos bis Mansilla de las Mulas, 25 km

Die aufgehende Sonne scheint morgens in unser Zimmer und macht sofort gute Laune. Wir wissen, dass wir wieder bestes Wanderwetter haben werden und unsere Strecke einsam durch die Meseta geht. Also beste Startbedingungen.

Wir sind mal wieder die Letzten, die die Unterkunft verlassen. Und warum? Weil wir es uns leisten können! Für heute Abend ist telefonisch reserviert, daher brauchen wir keinen Stress aufkommen lassen. Außerdem, wenn die anderen Pilger alle weit vor uns sind, geht Sira nicht auf Pilgerjagd und Anni hat nicht so viel Arbeit. 25 abzuleistende Kilometer sind im Flachland auch kein Problem und selbst wenn wir drei erholsame Pausen machen, müssten wir gegen 16 Uhr in Mansilla de las Mulas sein. Wir brauchen also nicht zu hetzen.

Seit gestern sind wir schon auf einer Nebenstrecke des Haupt-Camino. Eigentlich müsste sie die Hauptstrecke sein. Man kann dem Autor des sog. Gelben Führers (Conrad Stein Verlag, OUTDOOR: Spanien - Jakobsweg Camino Francés, 15. Auflage 2012), Raimund Joos, nur dankbar sein, dass er diese Nebenstrecke so dringend empfiehlt. Unmittelbar hinter Calzadilla de los Hermanillos finden wir uns in der Einsamkeit wieder. Und wir sind tatsächlich einsam, vor und hinter uns sehen wir keine Pilger. Was wir sehen, sind endlose Felder, ab und zu ein paar Büsche, im Norden die schneebedeckten Gipfel des Küstengebirges, über uns einen azurblauen und wolkenlosen Himmel und vor uns der Weg, der sich erst am Horizont verliert. Wir hören nichts außer das intensive Zwitschern der Vögel, das laute Quaken von Fröschen, wenn wir mal an einem kleinen Teich vorbeikommen, und unsere eigenen Schritte. Blumen in Rot, Gelb und Blau wachsen am Wegesrand, Mai und Juni ist die bunteste Zeit auf dem Camino. Solange die Temperaturen nicht zu hoch sind oder Gewitterstürme über sie niedergehen, muss man die Meseta nicht "überstehen", sondern man muss sie genießen. Auf der gesamten Strecke von Köln an, habe ich kaum eine Landschaft so genossen wie diese. Vielleicht spielt dafür auch eine Rolle, dass die Sonne herrlich scheint, die Temperaturen im Moment aber sehr angenehm sind. Wir brauchen keinen Schatten. Bei 40°C, oft zu dieser Zeit nicht ungewöhnlich, sähe das anders aus.

Nur Sira braucht Schatten. Seitdem wir uns auf der "calzada romana" befinden, der Trasse einer alten Römerstraße, läuft sie wieder mal an der Schleppleine. Und sie läuft im wahrsten Sinne des Wortes. Nicht mehr an der kurzen Leine, entdeckt sie eine fast vergessene Freiheit neu. Sie rennt hin und zurück, nach links und rechts in die Felder, jagt querlaufenden grünen Eidechsen nach und springt in die Höhe, um tieffliegende Insekten zu fangen. Bei der ersten Rast an einem Unterstand ist sie aber noch nicht zu einer aufgezwungenen Pause zu überreden. Zu schön ist es, immer noch weiter an der langen Leine durch das hohe Gras zu springen oder dem von Frauchen geworfenen Spiel-Puschel hinterher zu jagen. Auch wir genießen es, unsere Pilgerfreundin so ausgelassen und verspielt zu sehen.

Als wir uns schließlich wieder auf den Weg machen wollen, hat Sira nicht eine Minute im Schatten verbracht. Das ist nicht gut, aber auch nicht schlimm. Schlimmer hätte etwas Anderes ausgehen können. Anni berechnet das tiefstehende Dach des Unterstandes falsch, muss aber drunter durch. Sie taucht ab, berücksichtigt die Dachziegel, nicht aber den etwa zehn Zentimeter tiefer querverlaufenden Holzbalken. Ein dumpfes Dröhnen, der ganze Unterstand wackelt, Anni schreit verwundert auf und sinkt danieder. Vaters Schrecksekunde. Besinnungslosigkeit? Fließt Blut? Dann die Erlösung: Anni hält sich die Stirn und lacht. Zwar gequält, aber sie lacht. Sie steht auch wieder auf, kann sich dabei aber zwei, drei Tränchen nicht verkneifen. Eine kleine Beule blüht.

Viel schlimmer sind andere Situationen. Immer wieder gibt es Pilger, die ihren Jakobsweg nicht überleben. Mindestens fünf Mal habe ich von Le Puy bis hierher Kreuze am Weg gesehen, deren Inschriften eindeutig darauf hinweisen, dass an dieser Stelle ein Pilger oder eine Pilgerin zu Tode gekommen ist. Was ist im Jahr 2003 an der Stelle, die wir kurz nach dem Unterstand passieren, mit Giselle geschehen? Herzversagen? Blitzschlag? War sie allein oder in Begleitung ihres verzweifelten Ehemannes? Ich will nicht weiter darüber nachdenken und sehe zu, dass ich weiterkomme.

Langsam aber sicher nähern wir uns in dieser verlassenen, schattenlosen Gegend der Bahnlinie Burgos - Leon an. An sich ist das für uns uninteressant, aber dort, wo der Camino kurz diese Bahnlinie berührt, steht jenseits der Schienen die im Verfall sich befindende Wartehalle eines ehemaligen Haltepunktes. Voraus auf dem Weg können wir in absehbarer Zeit keine Rastmöglichkeit im Schatten ausmachen. Für Anni und mich noch kein Drama, Sira hat ihn jetzt aber dringend nötig. Ich lasse mein Wheely auf dem Weg stehen und wir drei steigen über die Gleise. Böse, böse! Wir zwingen Sira in den Schatten der Wartehallenruine und sie lässt es geschehen. Anni sucht sich ein kleines sonniges Plätzchen in der Nähe ihres Hundes und ich lege mich auf den verlassenen Bahnsteig, mit meinem kleinen Rucksack als Kopfkissen. Die ganze Zeit kommt kein Zug vorbei.

Nachdem wir alle genug ausgeruht sind, springen wir wieder über die Gleise auf den Weg zurück. Weiter geht es durch die Meseta, Blicke bis Unendlich, weiterhin wunderschön. Die angenehmen Temperaturen steigern sich langsam zu einer (noch) ertragbaren Hitze. Als wir an einer großen Schautafel vorbeikommen, die auf die an dieser Stelle vorgenommenen Konservierungsmaßnahme der noch vorhandenen Reste der alten Römerstraße aufmerksam macht, wirft sich Sira plötzlich in deren breiten Schatten, legt ihren Kopf auf die Vorderpfoten und macht die Augen zu. Pilgerverweigerung? Nein, nur eine selbstverordnete weitere Pause. Nach fünf Minuten, die wir ihr gerne gönnen, läuft sie bereitwillig und bis zum Etappenziel wieder mit.

  Die "calzada romana" verlassen wir in Reliegos, gönnen uns dort in der "Bar Elvis" eine kleine Stärkung und machen uns dann an die letzten sechs Kilometer bis Mansilla de las Mulas. Die verlaufen allerdings etwas gewöhnungsbedürftig schnurgerade an der Landstraße entlang, begleitet durch junge, noch nur wenig Schatten spendende Bäume, die in exakt Zehn-Meter-Abständen gepflanzt sind. Man muss sich hüten, nicht irgendwann anzufangen, sie zu zählen.

  Als wir in Mansilla de las Mulas einmarschieren, ist es exakt 16 Uhr. Gut geschätzt!

In der Herberge herrscht ordentlich Betrieb. Draußen, in einer Art Biergartenbereich, sind nahezu alle Tische besetzt, Wäscheleinen hängen voll und erschöpfte Pilger liegen auf der Wiese und dämmern vor sich hin.

Ich verschaffe mir einen Platz im Himmel. Für Anni und Sira war bereits bei der Reservierung ein Platz zum Zelten auf der Wiese ausgemacht worden, für mich ein Bett im Schlafsaal. Bei der Anmeldung bekomme ich mit, dass eine erschöpfte Pilgerin abgewiesen wird, weil alles besetzt ist. Da schlägt meine großherzige Sekunde. Ich gebe mein Bett an sie ab und gebe an, mit im Zelt zu übernachten. Die Erschöpfte fällt mir fast um den Hals.

Manchmal bin ich ein Held!

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Kommentare: 4
  • #1

    Ralf (Montag, 03 Juni 2013 20:24)

    Sicher bist Du ein Held Reinhard......aber was Du auf jeden Fall bist....ein Pilger. Denk mal zurück...wie oft hat Dir Jakobus in den letzten Wochen ein Bett gegeben :-)

    Buen Camino

  • #2

    Mama Ingrid (Montag, 03 Juni 2013 22:45)

    Nene, Reinhard, wenn man von sich selba glaupt, man wär einen, dann is man keinen mehr! Du Held!
    Dat muss richtig schön sein inne Meseta, ich tät dat auch genießen.
    Richtig, Sira, sach die ma so richtig Bescheid, wattat auf sich hat mitte Sonne un mitten Schatten un mitte Pausen!
    Mann Mann, Anni, watt machse denn füa Sachen? Für watt hausse denn mitte Stiane vor datt Holzdingen? Hinterkopp happich doch gesacht! Wegen datt Denkvamogen!
    Ich mach mia datt imma so richtich gemütlich mit bissken Rotwein und le

  • #3

    Mama Ingrid (Montag, 03 Juni 2013 22:57)

    Mensch nä! Datt brinkt mich imma an den Rand von Wahnsinn, wenn datt nich geht mitte Elektrik!
    Jedenfalls les ich datt imma an Feierabend un bin mitten dabei inne Mesata oder diese anderen Pampas.
    Datt gipt en langen Fottoabend! Glaupich!

  • #4

    Dani (Dienstag, 04 Juni 2013 09:08)

    Yo Papa. Das war tatsächlich heldenhaft von dir. Und Anni: gute Besserung. Und bitte auf den letzten Metern keine nennenswerten Verletzungen.