Pilgern mit Hund nach Santiago de Compostela

Translation:

Reinhard: Nöte mit der Notdurft

Von Santo Domingo de la Calzada nach Belorado, 24 km

In der noch recht menschenleeren Calle Mayor von Santo Domingo de la Calzada treffen wir den Bochumer Jungen wieder, dem wir schon einige Tage zuvor begegnet waren. Seinerzeit klagte er über starke Schmerzen im Knie und wollte an dem Tag nur noch wenige Kilometer gehen. Jetzt geht gar nichts mehr, heute will er mit dem Bus fahren. Zehn Minuten später überholen wir einen anderen jungen Mann, dessen Körper ihn zwingt, ganz langsam zu gehen. Als ich mich nach seinem Befinden erkundige, deutet er nur mit schmerzverzerrtem Gesicht auf sein rechtes Fußgelenk. Diese beiden sind nur die ersten, die mir heute wegen ihrer ungeschmeidigen Gehweise auffallen. Und mir fällt auch auf, dass es gerade die jungen Menschen sind, die nicht gut dran sind. Sind das die jungen Stürmer, die am Anfang ihrer Pilgerschaft losrennen, weil sie sich so stark fühlen? Die meinen, sie würden nur dann als echte Pilger anerkannt, wenn sie möglichst viele Kilometer "abreißen"? Sowas rächt sich meistens.

Bei mir rächt sich allerdings auch seit drei Tagen irgendwas, in der Magengegend. Ich habe nachts damit Probleme, es versaut mir die Relaxphasen nach den Tagesetappen und auf der Strecke brauche ich, das bilde ich mir jedenfalls ein, doppelt so viel Kraft. Heute drückt mir der Bauchgurt des Wheelys so sehr auf die kränkelnde Körpergegend, dass ich die erste Pause doch sehr herbeisehne. In Redecilla del Camino geht diese uns an der Nase vorbei, weil Sira nicht mit in die Bar darf, im Dorf zwei Kilometer später liegt keine Bar am Weg, in Castildelgado auch nicht, aber jetzt ist Schluss. Wir setzen uns auf eine windgeschützte Bank am Rande des Kirchplatzes und Anni kocht uns einen Tee auf ihrem Kocher. Eigentlich hätte ich ja lieber einen Kaffee, aber ich muss meinen Magen schonen. Eine Tafel Nuss-Schokolade muss aber dran glauben, es muss ja nicht direkt Zwieback oder trockener Toast sein.

Wenn man sich Tee zuführt, kommt recht bald der Moment, jedenfalls bei Anni und mir, dass Tee auch wieder raus will. Und zwar mit Macht! Wer aber diesen Abschnitt des Jakobsweges kennt, weiß, dass das gar nicht so einfach ist. Anni hat sich ja bereits über den Mangel an öffentlichen Toilettenanlagen beschwert, aber jetzt mangelt es sogar an geeignetem Buschwerk. Nur noch Getreidefelder soweit das Auge reicht, durchzogen von Straßen und Schotterpisten, und eine dieser Schotterpisten ist der Jakobsweg. Und auf dem Jakobsweg gehen im Durchschnitt alle 100 Meter ein Pilger oder eine kleine Pilgergruppe. Und wir mit randvoller Blase mittendrin. Eine Zeit lang

 versucht man, sich auf Autopilot zu setzen und den Gedanken an die Erleichterung einfach wegzuschwitzen, aber irgendwann hörst du nur noch deine innere Stimme: "Du musst pinkeln! Du musst pinkeln!" Aber hinter dir kommen andere Pilger, neben dir auf der Schnellstraße brausen die Autos und LKWs dahin. Dann ... , ja dann kommt vielleicht der Moment, dass eine kleine Anhöhe zwischen dir und dem nächst folgenden Pilger auftaucht und dich für den kurzen notwendigen Moment erlöst. Für Anni muss es dann doch schon ein größerer, dichterer Busch sein, und wenn dann ein LKW-Fahrer in rasender Vorbeifahrt einmal kurz hupt, weiß Anni, dass der Busch doch nicht dicht genug war.

  Ja, ja, es gibt schon peinliche Situationen. Da sich eine angebrochene Tüte Milch schlecht im Rucksack oder im Wheely transportieren lässt, bekam ich heute morgen von meiner Tochter den Auftrag, meine PET-Trinkflasche anstatt mit Wasser lieber mit dem Rest (genau einem halben Liter) Milch aufzufüllen, um sie bis morgen früh zum Frühstück sicher zu verwahren. Jetzt laufe ich heute ganz offen mit einer weiß-leuchtenden Milchflasche im Bauchgurt über den Jakobsweg. Wie bitteschön sieht das denn aus?! Dezent hänge ich meinen Hut drüber.

In Villamayor machen wir unsere nächste Pause, diesmal aber in einer Bar. Wir müssen uns einfach mal etwas aufwärmen. Man stelle sich das mal vor! Ende Mai, in Spanien! Anni ist nochmal so mutig und leint Sira an einer Laterne an. Was zunächst auch kein Problem ist. Aber nach uns betreten weitere Pilger die Bar, andere verlassen sie. Und nahezu alle gehen zu Sira, bedauern sie, streicheln sie. Sira findet das mordsmäßig gut, genießt ihre Streicheleinheiten und heult allen nach, die sie dann doch verlassen. Wir merken immer wieder, Siras Fangemeinde wird immer größer. Wie sagte doch vor kurzem eine junge spanische Pilgerin: "La mascotta del Camino!"

  Wir verlassen gerade wieder Villamayor auf dem Randstreifen der N 120, als Anni sich mit ihrem Handy strahlend zu mir umdreht. "Ich hab's gewusst! Ich haaab's gewusst!" Mein fragender Blick lässt sie herausplatzen: "Nanni und Johan waren das ... mit 'Sira' ... und der Hundepfote ...!!" Jetzt dämmert es mir. Vor Logroño..., der mit Kieseln in den getrockneten Schlamm eingedrückte Schriftzug mit Siras Namen und ihrem Pfotenabdruck. Wir konnten uns das nicht erklären. Dann haben diese beiden Weltenbummler doch tatsächlich auf ihrem Weg von Pamplona zum Camino del Norte diese Erinnerung hinterlassen. Schöne Idee, ihr Beiden!

  Die letzten fünf Kilometer bis Belorado geht es stur auf einer breiten Piste neben der Schnellstraße her. Alle Pilger gehen inzwischen langsamer, viele leidender. Nur wir drei hauen nochmal alles raus. Wir überholen einen nach dem anderen und gegen 16 Uhr sind wir in unserer schönen kleinen Pension Waslala und werden herzlich aufgenommen. Ganz große Sahne: der Herr des Hauses reserviert für uns die nächsten drei Unterkünfte.

Abends stehe ich beim Kochen am Küchenfenster und sehe draußen auf dem Giebel der nahegelegenen Kirche vier Storchennester, zwei davon mit Jungen. Idylle drinnen und draußen.

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Kommentare: 2
  • #1

    Dani (Freitag, 24 Mai 2013 13:58)

    Ach ja, die Notdurft ohne Sichtschutz. Das kommt mit bekannt vor von unserer Wanderung über schneebedeckte Hochhebenden in Norwegen. Ich sag nur "Waldesel"!

  • #2

    Mama Ingrid (Freitag, 24 Mai 2013 23:45)

    Besser Milch als Schnaps in der Pilgerflasche :-)
    Hihi, muss Anni sich halt einen langen Rock anziehen wie die Pilgerinnen früher - ohne Unterhöschen...
    Bessos para la mascotta del Camino