Pilgern mit Hund nach Santiago de Compostela

Translation:

Annika: Oh, what a night!

Von Najera nach Santo Domingo de la Calzada, 20 km

"Anni! ... Anni! ..." Es dauert eine Weile, bis mir klar wird, dass ich nicht mehr schlafe und ich die Stimme nicht nur im Traum höre. "Anni! ..." Der verschlafene, irgendwie schwächliche, aber doch panische Ton in Papas Stimme macht mir Angst, schon bevor ich überhaupt richtig wach bin. Ich schalte das Licht ein. Papa sitzt auf dem Bett und der Schweiß strömt seinen Körper hinunter und tropft von seiner Nase. "Papa, was ist los?" " Mir isses nicht gut..." Er schließt die Augen und kippt in Zeitlupe zur Seite. "Papa, was ist? Was hast du??" Er antwortet nicht mehr. Die Augen bleiben geschlossen und er kippt langsam weiter. "Papa!" rufe ich jetzt lauter und haue ihm leicht aufs Bein. Kurz gehen die Augen auf. "Ist dir schwindelig?" Keine Antwort. "Musst du kotzen?" Keine Antwort. "Papa, rede mit mir!" Wieder öffnet er kurz die Augen und setzt sich grader hin. "Ich glaub, ich werd ohnmächtig." Dann sind die Augen wieder zu und er beginnt, am ganzen Körper zu zittern wie Espenlaub. Ich fühle seine Körpertemperatur. Fühlt sich normal an. Aber er schwitzt wie in der Sauna und zittert. Im Kopf gehe ich die verschiedenen Möglichkeiten durch. Natürlich auch sämtliche Horrorszenarien. Mag hysterisch sein, aber in dem Moment kann ich das nicht verhindern.

Ok, konzentrier dich! Was kannst du tun? Was musst du tun?

Ich gehe ins Bad und tauche ein Handtuch ins kalte Wasser und gebe es ihm, damit sein Kreislauf wieder zurückkommt. Dann stelle ich seine Hausschuhe vor seine Füße und bitte ihn, seine nackten Füße vom kalten Boden zu nehmen, damit er nicht von unten rauf auskühlt. Er reagiert nur mit Nicken, also übernehme ich und platziere seine Füße. Kurz schießt mir durch den Kopf, dass ich die spanischen Notrufnummern gar nicht kenne. Und ich frage mich, wie ich denen mit meinem Nicht-Spanisch die Sachlage erklären sollte.


Inzwischen öffnet Papa wieder öfter die Augen. Nach circa zehn Minuten ist er ansprechbar. Den Gedanken mit dem Notruf brauch ich wohl vorerst nicht weiterzuspinnen. Laut eigener Aussage geht es wohl wieder und es war eine reine Kreislaufgeschichte. Ich stelle ihm trotzdem den Mülleimer als Kotztüte ans Bett und schlafe ohne Ohropax weiter. Es ist halb zwei.

Den Rest der Nacht schlafe ich nicht besonders gut. Ich bin in ständiger Alarmbereitschaft. Meinen Wecker drücke ich scheinbar weg, denn um sieben Uhr werde ich von allein wach. Mein Kopf fühlt sich an, als hätte ich gestern eine wilde Party gefeiert. Und der Rest auch!

Als erste Amtshandlung wecke ich Papa, um den Ist-Zustand zu klären. Wie geht's ihm und wie ist der weitere Tagesplan? Ruhetag? Arzt? Bus? Und wie der Herr Vater dann ja ist: "NIX! Wir gehen wie geplant weiter!" Wäre die ganze Sache umgekehrt gelaufen, hätte er mich gar nicht wählen lassen, sondern mich gleich zum Doc geschleppt. Naja, aber es ist eben, wie es ist, also gibt es zum Frühstück heute Schonkost (wenigstens das konnte ich durchsetzen), bestehend aus einer Tasse Tee, und dann ziehen wir los.

  Wir sind bloß eine halbe Stunde später als sonst, aber das merken wir gleich: Wir sehen anfangs keinen einzigen sonstigen Pilger. Ist mir auch gar nicht so unlieb. Da heute morgen alles irgendwie anders war als sonst, war ich auch noch gar nicht mit Sira draußen. Inzwischen ist sie in größter Not. Aber in der Stadt, einfach auf den Bürgersteig oder in irgendwelche Rabatten, das kann sie ja nicht! Kaum haben wir aber das letzte Haus des Ortes passiert, ist die Not so groß, dass sie sogar über eine 1,20 m hohe Mauer hüpft, um dahinter im hohen Gras ihr beachtliches Morgengeschäft zu verrichten. Jungejunge, das sind Düfte, und dann noch nach so einer durchzechten Nacht! Zu meinen ordentlichen Kopfschmerzen kommt so auch noch eine gehörige Portion Morgenübelkeit dazu. Na bravo!

Der Weg vor Azofra über die braunen, vor Felsen liegenden Ackerflächen kommt mir endlos vor. Und wenn man irgendwie unpässlich ist, kommt ja lustigerweise auch immer gleich alles dazu. Die Füße haben sich immer noch nicht an die blöden neuen Schuhe gewöhnt und Knie und Rücken mosern heute auch.

Als ich in Azofra die Pilgerbar sehe, fühle ich mich erleichtert und steuere darauf zu. Es ist nicht sooooo kalt und trocken, also können wir uns mit Sira gut auf den Außenbänken der Bar niederlassen. Gleich empfängt uns Ingrid, die heute früher losgelaufen ist und hier auf uns gewartet hat. Für sie ist Azofra auch unerwartetes Etappenziel: Ihr Knie macht ihr zu schaffen und sie hat sich für einen Ruhetag entschieden. Manche Leute können es also doch!

Aus der Bar ertönt wieder ein Lied von Il divo. Sagt mal, ist das Zufall oder irgendwie ein Camino-Soundtrack?

Als wir quasi aufbrechen wollen, kommen drei Deutsche, Vater, Sohn und Freund an. Der Freund fragt mich, ob es schwer sei mit Hund auf dem Camino, denn er habe seinen auf Anraten aller zu Hause gelassen. Ojeoje, damit tritt man ja ein Thema los, über das ich mich wochenlang auslassen könnte. Nach einer Weile reiße ich mich aber doch los, wir verabschieden uns von Ingrid und hoffen auf ein baldiges Wiedersehen.

Auf dem Weg nach Ciriñuela hält mich mein missgünstiger Körper weiterhin in der Null-Bock-Stimmung. Der einzige Lichtblick sind die Kilometerschilder, an denen wir vorbeilaufen. Angefangen hat es mit "Santiago de Compostela: 586 km". Von da an sehen wir sie den Rest des Tages immer wieder, in Abständen von je einem oder zwei Kilometern. Und so fängt man an schweren Tagen an, sich den Weg in kleine Stücke aufzuteilen. Erst zählt man jeden einzelnen Schritt, dann jede Kurve, dann jeden Hügel, bis man sich von Schild zu Schild durchschlägt und damit von Dorf zu Dorf.

  Da wir inzwischen auch schon wieder fünf/sechs Kilometer geschafft haben, pausieren wir an einem Picknickplatz mit ziemlich stylischen, aber unbequemen und kalten Steinliegen und dem aussagekräftigen Schild: "Don't shit". Die Angst vor einer tüchtigen Blasenentzündung treibt uns wieder hoch, nur um zwei Kilometer später wieder zu pausieren. Wir gönnen uns gerade ein Eis, als ein leinenloser Schäferhund interessiert in unsere Richtung stürmt. Boa, die Viecher können noch so freundlich sein, wenn so einer auf mich zurennt, bin ich wie erstarrt und Sira flippt völlig aus. So auch bei diesem Exemplar. Andere Gäste und die Wirtsleute versuchen erfolgreich das Ungetüm einzufangen und wegzuschaffen. Sira und ich atmen auf und begeben uns an die letzte Teilstrecke nach Santo Domingo de la Calzada.

Verzweifelt suchen wir die Toutisteninformation. Danach besuchen wir die furchtbar kommerzielle Kathedrale, auf deren Glockenturm sich ebenfalls Störche in ihren Nestern räkeln. In der Kirche das gleiche unsprirituelle Getue, was ich in anderen Ausstellungskirchen schon nicht mochte. Der Geist ist eben irgendwie dahin. Und der berühmte Gockel, der in der Kirche von Santo Domingo verweilt, zeigt mir auch nur seinen Hintern. Vielleicht fragt sich der eine oder andere jetzt: "Wie, Gockel in der Kirche?" Hierzu ein Auszug aus unserem Reiseführer: "Santo Domingo de La Calzada ist für folgende Legende berühmt: Ein Ehepaar war mit seinem Sohn auf Pilgerfahrt nach Santiago und übernachtete in einem Wirtshaus in Santo Domingo. Die Wirtstochter verliebte sich in den Sohn, aber der wollte nichts von ihr wissen und zog am nächsten Tag mit seinen Eltern weiter. Das beleidigte Mädchen hatte aber einen silbernen Becher in das Gepäck des Jungen gesteckt und zeigte ihn des Diebstahls an. Der Becher wurde entdeckt und der Junge zum Tode durch Erhängen verurteilt. Als die Eltern nach Vollstreckung der Todesstrafe noch einmal zu dem Baum gingen, an dem ihr Sohn hing, stellten sie überrascht fest, dass der Junge lebend am Galgen hing, denn Santo Domingo stützte ihn an den Beinen. Das Ehepaar begab sich also zum Richter, um ihm von dem Wunder zu berichten, das ja die Unschuld ihres Sohnes bewies. Der Richter saß gerade am Mittagstisch und sagte, dass der Junge so lebendig sei wie die zwei Hühnchen, die er gerade verspeisen wollte. Daraufhin flogen die beiden Tiere davon. Seitdem werden in der Kathedrale von Santo Domingo in einem Käfig ein weißer Hahn und weiße Hennen gehalten, die wöchentlich ausgewechselt werden. Dies ist die bekannteste Legende des Jakobsweges und in vielen Ländern findet man in Kirchen Darstellungen dazu." (Outdoor-Reiseführer Spanien: Camino Francés, Raimund Joos & Michael Kasper, S. 108).

Zu der Geschichte vom Hühnerwunder gibt es sogar eine Darstellung bei uns in der Gemeinde, in der katholischen Kirche in Herchen.

Zu guter Letzt erreichen wir am Ende auch unsere Unterkunft, die von außen fast schäbig und vergammelt aussieht, von innen aber überraschend frisch renoviert und mit tollen alten Möbeln eingerichtet ist. Unser Zimmer sieht auch aus wie frisch renoviert und außerdem riecht es überall nach teuren Pflegeprodukten. Die zugehörigen Pröbchen stehen im Bad bereit. So macht das Duschen Spaß! Und es entschädigt für die vergangenen harten sechzehn Stunden!

Kommentar schreiben

Kommentare: 4
  • #1

    Sebastian (Freitag, 24 Mai 2013 00:06)

    Morgen zum Arzt!!

  • #2

    Mama Ingrid (Freitag, 24 Mai 2013 00:45)

    Ja, Wunder gibt es immer wieder! Du siehst schon wieder Störche und hast auch noch MORGENÜBELKEIT? Hoffentlich wird das nicht auch eins.
    Achte darauf, dass Papa mindestens 2 Liter trinkt - außer Kaffee.
    Küssi

  • #3

    Dani (Freitag, 24 Mai 2013 13:49)

    Es gibt doch tatsächlich Tage, an denen ich froh bin, nicht dabei zu sein. Aber die Tage des "Neids" überwiegen.

  • #4

    Christel (Freitag, 24 Mai 2013 20:52)

    Da dachte ich gerade, Du schreibst den beiden, dass in unserer Kirche das Fresko von der Legende ist, --- aber natürlich wisst Ihr das (bemerke ich dann beim Weiterlesen).
    Alles Gute!