Pilgern mit Hund nach Santiago de Compostela

Translation:

Reinhard: Stierlauf in Los Arcos!

Von Irache nach Los Arcos, 22 km

Ein schönes Hotelzimmer macht noch lange kein schönes Wetter. - Diese Erfahrung müssen wir machen, als wir morgens aus dem Fenster schauen. Der Himmel ist tiefgrau und beständiger Regen pladdert auf die Terrasse. Es wäre doch mal was gewesen, sich hier draußen, unter den ersten wärmenden Sonnenstrahlen, das Frühstück zu richten. Stattdessen Einheitsgrau und Nässe. Aber wir haben ja etwas, worauf wir uns freuen können: Wein! Kostenlosen Wein!

Gestern, am frühen Abend, hätten wir ihn eigentlich schon trinken können. Da wollten wir aber nur noch Sturzregen und Gewitter entfliehen und ankommen, deshalb hatten wir die Abkürzung über die Landstraße genommen. Aber jetzt ist er fällig! Unter Poncho und Regenschirm tapern wir durch die Nässe und freuen uns auf leckere Tropfen.

Nach einem Kilometer geistiger Vorbereitung, stehen wir vor dem Weinbrunnen von Irache. Genau! Richtig gelesen! Hier fließt der Wein aus einem Brunnen und erfreut des Pilgers Herz und Gaumen. Die benachbarte Weinkellerei "Bodegas Irache" hat ihn angelegt, um uns damit zu erfrischen, mit Sicherheit aber auch als kleinen Werbegag. Seitdem hier also Rotwein und Wasser zum Abzapfen zur Verfügung steht, stellen sich die Pilger brav in die Reihe und warten, bis sie endlich DRAN sind. Die wenigsten lassen es damit genug sein, den geöffneten Mund zum Trinken in Position zu bringen. Der größte Teil zapft sich im eigenen Trinkbecher zwei bis drei Schlucke ab, einige Gierhälse gleich die ganze Flasche als Tagesration. Eigentlich bei dem Wetter keine schlechte Idee! Mit unserem Kocher könnten wir ihn bei einer Rast erhitzen und hätten unseren Glühwein. Wir belassen es aber bei einer kleinen Ration für jeden, fotografieren nochmal eine der besonderen Kultstätten des Camino Francés, die selbst das benachbarte Kloster Irache, eines der ältesten Klöster Navarras, in der Gunst der vorbeiziehenden Pilger überholt hat, und ziehen weiter.

Claudia, eine Mittvierzigerin aus Eisenach, schließt sich uns an. In der Warteschlange vor dem Weinbrunnen sind wir ins Gespräch gekommen, obwohl wir uns auch vorher schon mal ab und zu über den Weg gelaufen sind. So ist das auf dem Jakobsweg: Man merkt, dass man sich nett unterhalten kann, fragt, ob etwas dagegen spräche, ein Stück gemeinsam zu gehen, und tut es dann eben - oder eben nicht. Mit Claudia lässt es sich gut reden und gut wandern, so ziehen die Kilometer schnell an uns vorbei. Der Regen hört sogar auf und die von uns eingeschlagene Wegalternative über Louqui hat zwar, als Folge der gestrigen Sturzfluten, mit einigen schlammigen Untergründen zu kämpfen, bietet aber schöne Ausblicke in die Täler.

In Louqui, dem einzigen Dorf zwischen Irache und unserem heutigen Ziel Los Arcos, gibt es netterweise eine kleine Bar. Pausen auf Picknickbänken, auf Wiesen oder auch einfach am Wegesrand haben ihre Romantik, Pausen in einer Bar haben ihren Eistee oder ihren heißen Kakao. Bei dem feucht-kalten Wetter heute steht uns der Sinn nach Kakao. Ein Besuch einer spanischen Bar bedeutet aber: Der Hund muss draußen bleiben! Hätten wir jetzt schönes Wetter, könnten wir im Garten sitzen. Die Wirtin hätte nichts dagegen. Sira mit reinnehmen geht aber nicht, aus Rücksicht auf die anderen Gäste. Sorry! Anni macht den Versuch, bindet Sira an einen Baum an und verschwindet mit uns anderen in die Bar. Und siehe da: Durch ein Fenster beobachten wir, wie Sira sich in die Wiese legt und zufrieden vor sich hinblickt. Damit ist Anni dann auch zufrieden und trinkt in Ruhe ihren Kakao. Diese Ruhe umgibt mich so ganz noch nicht. Wir haben für heute abend noch kein Quartier festgemacht. Wenn wir ohne Hund wären, würde ich es ja drauf ankommen lassen. In irgendeiner Herberge würde sich schon ein Bett finden. Aber die Unterkünfte, wo Sira die Nacht über mit bei uns sein darf, sind äußerst rar gesät. Man muss sich also früh genug "kümmern", um letztendlich auch die letzten Kilometer eines Tages entspannt wandern zu können. Also kümmere ich mich. Ich gehe an die Theke zur freundlichen Wirtin und bitte sie um Hilfe. In meinem "Miam Miam Do Do" zeige ich ihr zwei Telefonnummern, die für uns wohlmöglich interessant sind und sie greift bereitwillig zum Hörer. Ich meine herauszuhören, dass sie uns dabei als sehr sympathische Menschen und Sira als liebes Tier schildert und eine Minute später ist unser Hostal-Zimmer gebucht. Aus Dankbarkeit schleudere ich der Wirtin meinen liebenswürdigsten Augenaufschlag zu und bestelle noch einen zweiten Kakao.

An dieser Stelle muss ich jetzt mal ein Loblied auf unseren Miam Miam Do Do singen. Nichts gegen unseren Wanderführer, in ihm finden wir zu jedem Ort, den wir durchqueren, einige Übernachtungsadressen. Da aber hier entlang des Jakobsweges neue Quartiere wie Pilze aus dem Boden schießen, können die gängigen Wanderführer gar nicht aktuell sein, erscheinen die neuen Auflagen ja nicht jährlich neu. Aber genau das macht unser Miam Miam Do Do. Er ist also immer auf dem neuesten Stand und kann eine umfassendere Quartierauswahl anbieten. Nicht nur das: Zusätzlich informiert er über Einkaufsmöglichkeiten, Bars, Restaurants, medizinische Versorgung, Campingplätze, Bus- und Taxidienste. Sogar ausreichendes Kartenmaterial mit Kilometerangaben ist dabei - also irgendwie ein Rundum-Sorglos-Paket. Die Investition lohnt sich auf jeden Fall und ist hiermit jedem zukünftigen Pilger wärmstens ans Herz gelegt. Wer seinen Informationsstand noch auf die Spitze treiben will, schafft sich noch zusätzlich von den Jakobsfreunden Paderborn den "Schmidtke" an, eine hauseigene Publikation, die sogar mehrmals im Jahr neu aufgelegt wird und viele Herbergen noch kommentiert. So, das war mein Werbeblock!

Mit einem guten Gefühl, was unseren gesicherten und geruhsamen Nachtschlaf anbetrifft, und der Erkenntnis, dass wir Sira, wenn nötig, ruhig einmal draußen vor einer Bar an einem Baum festmachen können, verlassen wir die Bar in Louqui und gehen weiter. Weite, wogende Getreidefelder begleiten uns, dazu Mohnblumen, wie ich sie in dieser Menge noch nie gesehen habe. Überhaupt die Blumen hier am Wegesrand zu dieser Jahreszeit - ein Traum! Wenn es mit meinen Flora-Kenntnissen etwas besser stände, könnte ich jetzt mächtig vom Leder ziehen. Dazu kommen die Weinfelder und teilweise schon gemähten Wiesen, wo es nach Heu duftet ... schön hier!

Der Weg bis Los Arcos ist eine "Pilgerrennbahn": breit, über lange Strecken meist geradeaus und Wheely-freundlich befestigt. Nur Rastmöglichkeitem bieten sich nicht mehr so recht an. Also machen wir es uns, als die Füße mal wieder eine Pause verlangen, am Rand der Piste auf dem Boden gemütlich. Erneut ziehen Pilger aller Nationalitäten vorbei, lächeln, grüßen, sprechen uns an. Als einige sogar wieder ihre Kameras zücken, rücke ich zaghaft meinen offenen Pilgerhut in Position, warte aber vergeblich auf ein Almosen.

Auf dem Weg durch die Calle Major in Los Arcos fallen uns frisch installierte Bretterwände vor den Haustüren und tiefliegenden Fenstern auf. Seitengassen sind durch schwere Holztore abgeriegelt. Was geht hier ab? In Abständen kleben kleine Zettel an den Hauswänden: "Vorsicht! Gefährliche Tiere auf der Straße!" Streunende Killerhunde? Tollwütige Füchse? Irgendwann hören wir von anderen Pilgern, die schon etwas länger im Ort sind , dass heute abend hier ein "Stierlauf" stattfinden wird, Marke Pamplona, aber wohl im bescheideneren Umfang. Uns soll es doch recht sein! Als wir am Hauptplatz neben der großen Kirche ankommen, sind die großen Arkaden der umgebenden Häuser auch zum großen Teil verbarrikadiert. Perfekte Zuschauerplätze! Bei uns steigt die Vorfreude auf das, was uns heute abend hier erwartet.

Unser Hostal ist schnell gefunden, wir essen etwas auf dem Zimmer und dann gehen Veronika und ich zum folkloristischen Abendprogramm. Anni verzichtet. Sie will Sira nicht alleine auf dem Zimmer zurücklassen und sie in die Enge und Lautstärke der zu erwartenden Zuschauermassen mitzunehmen, geht für sie gar nicht. Eine richtige Entscheidung für ein verantwortungsvolles Hundefrauchen, schade für eine Pilgerin, die etwas vom Brauchtum der Gegend miterleben möchte.

Die Arkaden am Hauptplatz sind inzwischen mit Menschen gefüllt, lautstark herumpalavernd und fröhlich dem Alkohol zugewandt. Die Tische und Stühle der Bar, die vorhin noch auf dem Platz standen, sind weggeräumt und die besten Plätze ringsum auf den kleinen Balkonen hauptsächlich mit Frauen besetzt. Auf der Straße, also in der gefährlichen Zone, sieht man zum größten Teil Männer, Jungspunde wie auch ältere Señores. Sie warten auf die Stiere. Die Jungspunde ganz hibbelig, gestikulierend und einige offensichtlich alkoholisiert und dadurch besonders mutig. Unter ihnen auch einige junge Pilger, die wir unterwegs schon öfter getroffen haben und die wohl hier etwas Abwechslung vom Pilgerdasein suchen. Die Señores geben sich gelassen, mit Händen in den Hosentaschen und Zigarillos in den Mundwinkeln, sich noch ruhig miteinander unterhaltend. Dann bläst jemand auf etwas Ähnlichem wie einem Dudelsack, ein lauter Knall hallt durch die Gassen - und die ersten vier Stiere kommen angerannt. Die Menge johlt, Männer hampeln vor den Stieren herum, bringen sich letztendlich hinter Säulen oder Barrikaden in Sicherheit. Es stinkt vor ausgeschüttetem Adrenalin. Die Stiere galoppieren einmal über den Platz, in die Calle Major hinein und durch sie hindurch und auf dem gleichen Weg wieder zurück. Wieder Gejohle und Gehampel, alle haben ihre Freude, nur die Stiere nicht. Mittlerweile beginnt es leicht zu regnen. Die Steinplatten auf dem Platz werden glatt und immer wieder rutschen einige Tiere aus, schlagen hin, berappeln sich aber wieder und rennen weiter, zurück in ihren Verschlag am Ende der "Laufbahn". Dann kommen die nächsten Tiere angerannt. Bei einer Gruppe sehe ich bei ihnen etwas zwischen den Beinen hängen, was nicht unbedingt einen Stier auszeichnet. Es sind Euter! Da laufen doch auch glatt Kühe rum!

Fünf, sechs "Stierläufe" schauen Veronika und ich uns an, dann ist es genug und wir wollen nach Hause. Das ist aber gar nicht so einfach. Unser Weg zum Hostal ist identisch mit der "Stierlauf"-Strecke. Wir warten den Moment ab, an dem gerade mal wieder Stiere (oder Kühe?) an uns vorbeigerannt sind, klettern dann über die Barrikade vor umserem Zuschauerplatz und durchqueren, heldenhaften Mut beweisend, die "gefährliche Zone", in der Hoffnung, dass die Tiere sich nicht soooo schnell auf ihren Heimweg machen. Jedenfalls schneller als erwartet hören wir wieder Gejohle hinter uns, ein sicheres Zeichen, dass die Torros nahen. Wir werden schneller. Die Torros anscheinend auch. Sie sind vielleicht noch zwanzig Meter von uns entfernt, da erreichen wir die rettende Barrikade. Ich schwinge mich sportlich als erster hinüber, damit ich Veronika von der sicheren Seite aus bei ihrem Jump fotografieren kann. Was mir auch gelingt! Auch in diesem Moment stinkt es etwas nach Adrenalin.

Das war doch mal eine ganz andere Art der Abendgestaltung!

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Kommentare: 2
  • #1

    Mama Ingrid (Dienstag, 21 Mai 2013 23:33)

    Mh, na ja, wenns den Stieren (oder Kühen) keinen Spaß macht, warum tut mans dann?
    Also Adrenalin und Testosteron hab ich täglich ausreichend in einer Klasse von 17 Jungs zwischen 16 und 18.
    Das sieht dir ähnlich, also doch kein Gentleman, statt zu helfen, witterst du wieder das ultimative Foto. Anni hat schon Recht gehabt, in der Unterkunft zu bleiben!
    Tröstet euch, bei uns regnets auch. Außer am Pfingstsonntag nur besch...eidenes Wetter, am nächsten Wochenende sollen es wieder einstellige Temperaturen werden :-(
    Uhhh, also Sira lässt sich anbinden und legt sich zufrieden in die Wiese? Nun, das lässt Sira-Mama doch ein wenig Freizeit.
    Mjam Mjam, do do...

  • #2

    Dani (Donnerstag, 23 Mai 2013 13:07)

    Lena und ich sind gerade in Madrid. Auch hier gibt es momentan viele Stierkämpfe. Scheint an der Jahreszeit zu liegen. Übrigens wurde mir von Lenas spanischer Familie erzählt, dass die Spanier HUNDE gar nicht hassen. Sie sind als Haustiere und bester Freund des Menschen bei mindestens der Hälfte der Bevölkerung völlig anerkannt. Die andere Hälfte betrachtet sie eher als Nutztiere und findet, dass sie in einem Hotel oder einer Bar genau so wenig zu suchen haben wie Pferde, Schafe oder Kühe. Damit kann man arbeiten, oder?