Pilgern mit Hund nach Santiago de Compostela

Translation:

Annika: Es könnte besser gehen...

Von Livinhac-le-Haut nach Figeac, 24 km

Das morgendliche Vogelkonzert versucht, mir das Aufstehen zu erleichtern. Mit einem desserttellergroßen Bluterguss am Oberschenkel ist es allerdings gar nicht so leicht, sich aus seinem Schlafsack zu schälen.

Sira ist froh, den Campingplatz in Ruhe verlassen zu können, ohne dass das Riesenkalb von Bernhardinerdame wieder auf sie zugestürmt kommt. Frei nach dem Motto: "Wer aus dem Sattel fliegt, muss sofort wieder aufsteigen" haben der Campingplatzbetreiber und ich nach dem Abendessen noch versucht, unsere beiden Damen einander anzunähern. Die Gegenseite wollte nichts anderes als Sira beschnuppern, Sira hat diesen Versuch nur panisch verbellt und immer wieder die Flucht ergriffen. Mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen seitens des Campingplatzbetreibers konnte die verständnislose Bernhardinerin am Ende wenigstens kurz an Sira schnuppern, ohne dass sie völlig durchgedreht ist. Immerhin.

Wie immer schlägt meine Blase bereits Alarm, als wir gerade mal zehn Minuten unterwegs sind. Die öffentliche Toilette von Livinhac kommt mir da gerade recht. Ist wie immer keine Augenweide, aber in Ordnung. In Sambia habe ich Schlimmeres gesehen. Ich schließe die Tür ab, schalte das Licht an - und sehe direkt unterm Schalter eine friedlich schlummernde Fledermaus. Schlafende Hunde soll man nicht wecken. Unverrichteter Dinge ergreife ich die Flucht.

Als wir einen Blick zurück auf den Ort werfen, sehen wir bereits mehrere weitere Pilger, die ihre Tagesetappe in Angriff nehmen. Noch sind sie weit hinter uns. Nach fünf weiteren Minuten überholen sie uns. Mann, sind die schnell. Zwei von ihnen haben wir schonmal gesehen, zwei sind "neu". Der eine spricht uns auf deutsch an. Er habe seit Tagen Franzosen, Holländer, Kanadier, Deutsche und Schweizer getroffen und alle haben sie von uns und unserem Hund erzählt. Er sei so froh, uns zu sehen und brauche unbedingt ein Foto. Kein Thema. So langsam sollten wir Geld dafür verlangen. Wir könnten uns so ganz gut finanzieren... Der junge Mann erzählt, er habe heute 35 km vor sich. Meine Herren! Und das ist seine reguläre Etappenlänge. Na, kein Wunder, dass der so rennt... Als die flotte Truppe weiterzieht, ist Sira erstaunlich ruhig und zieht kaum an der Leine. Na endlich, geht doch!

Bald erreichen wir nach stetiger, sanfter Steigung Montredon. Am Ortsausgang taucht vor uns auf einmal eine Herde von zwölf Pilgern auf. Hier ist es vorbei mit Siras Ruhe. Dieses Trüppchen will sie einfach nur kriegen. Mal wieder ein Geziehe und Gezerre... Wir entscheiden uns bald für eine Pause und lassen die "Reisegruppe" aus Siras Geruchsfeld ziehen. Das Wetter gestaltet sich heute freundlicher als in den letzten zwei Tagen. Der Wind ist weitaus milder und es ist bedeckt, aber nicht mehr regnerisch.

Der gestrige Tag hat bei Sira und mir deutliche Spuren hinterlassen. Unser behutsam Tag um Tag aufgebauter lockerer Umgang mit und Vertrauen in andere Hunde wurden gestern mit einem Mal "zerbissen". Jeder Hund, der jetzt hinter einem Gartenzaun erscheint, lässt mein Herz höher schlagen und Sira panisch auf die Straße ausweichen. Ich bete jedes Mal, dass der Zaun dicht ist und der Feind nicht drüber springt. Und warum haben hier eigentlich alle Leute nur deutsche Schäferhunde oder Bullmastiffs? Wo sind die freundlichen Australian Shepherds und Siras geliebte lustige Jack Russell Terrier, wenn man sie mal braucht?!?

Als wir der Landstraße folgen, ist es auch schon wieder so weit: Schon auf 100 m Entfernung sehen wir einen Schäferhund, der aufgeregt bellend hinter seinem Zaun auf- und abläuft. Sira hat er bereits fest im Visier. Zwei alte Männer bewegen sich in Zeitlupe und mit Gehhilfe auf das Tor zu. Natürlich werden unser aller Befürchtungen war, die Männer öffnen das Tor und das riesige Ungetüm schießt bellend auf uns zu (waren Schäferhunde schon immer so groß???). Ich bin wie gelähmt, Sira versucht, panisch bellend zu flüchten und Papa versucht, mit "Ruhig, ruhig..." die Situation zu entschärfen. Der Schäferhund bellt aber immer noch, die Männer brüllen und Sira und ich sterben bald vor Angst. Schließlich gelingt es den Herren, den Riesen zurückzupfeifen, natürlich nicht ohne zu beteuern, wie lieb der ist und dass der außer Bellen ja gar nichts tun würde. Ist klar... An dem eingefangenen, jetzt sehr ungehaltenen Ungetüm vorbeilaufend, bete ich mal wieder, dass der Zaun dicht ist.

Den weiteren Weg über die Landstraße bin ich sehr in mich gekehrt. Ich frage mich, wie das weitergehen soll. Klar, es gibt tausend andere nette Hunde. Klar, ich kann es sowieso nicht verhindern, wenn uns ein Hund angreifen will. Klar, dass Sira und auch jeder Hund, der uns begegnet meine Panik spüren. Trotzdem kann ich genau das nicht verhindern. Es ist die nackte Angst. Mein Herz schlägt. Die Knie werden weich. Ich zittere. Ich fühle mich wie gelähmt. Und das Schlimmste daran ist, dass uns nicht nur weitaus mehr Hunde begegnen werden, sondern auch weitaus mehr feindlich gesinnte Hunde, auch Straßenhunde. Ich weiß nicht, wie ich das in den Griff kriegen soll. Und ich weiß auch nicht, wie ich meinem Hund in einer solchen Situation die heile Welt vorspielen soll. Blöd ist er  ja nun nicht...

Die ganzen Schwierigkeiten, die uns in den letzten Tagen begegnet sind, zehren an meinen Nerven und meinen Kräften. Ich fühle mich wie ein dick geflochtenes Seil, an dem seit Tagen jemand mit einem stumpfen Messer sägt. Jeden Tag wird das Seil etwas schwächer und vielleicht reißt es irgendwann ganz. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht ist das Seil auch stark genug, bis nach Spanien durchzuhalten. Im Moment weiß ich es wirklich nicht. Vielleicht ist ja auch Jakobus der mit dem stumpfen Messer. Vielleicht will er mich prüfen oder mir etwas sagen. Oder Gott. Ob ich diese Prüfungen bestehen werde, werden wir sehen.

Eine Gruppe Pilger überholt uns bald. Es sind die Jungs vom Morgen, die wohl zwischenzeitlich lange gerastet haben. Wir laufen über grobes Geröll und die Jungs laufen im gleichen Tempo wie heute morgen. Einer von ihnen stolpert und stürzt. Ich erwarte gebrochene Knochen, aber er steht einfach auf, klopft sich den Staub ab und gibt Entwarnung: "Nichts passiert!" Andere haben nicht soviel Glück: Kürzlich haben wir von einer Pilgerin erfahren, die bei einem solchen Stolperer mit ihrem Gesicht auf dem Wanderstock gelandet ist und sich die Schneidezähne mitsamt Wurzeln rausgehauen hat. Da kann ich mich über meinen "harmlosen" Hundebiss kaum beschweren.

Auf dem weiteren Weg bleibt Sira plötzlich wie angewurzelt stehen und fixiert einen Hauseingang. Die Vorsteher-Pfote bringt sich in Position. Ihrer Meinung nach hat sie eine Katze entdeckt. Naja, so ähnlich... Sie taxiert drei Scheite Holz.

Bald erreichen wir unsere Unterkunft. Ich rolle mich auf meine nichtblaue Seite und verbringe die nächsten drei Stunden mit meinem berühmten Protestschlaf. Dieser tritt in Kraft, wenn ich alles doof finde und so lange schlafe, bis alles wieder gut ist. Das kann ich bis zu neunzehn Stunden am Stück. Diesmal waren es nur drei. Ist doch ein gutes Zeichen.

Immer wieder versuche ich mir zu sagen: es kommen wieder bessere Tage!

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Kommentare: 4
  • #1

    Dani (Montag, 22 April 2013 09:54)

    Auweia. Kopf hoch und toitoitoi.

  • #2

    Lore aus Lohmar (Montag, 22 April 2013 10:10)

    Annika, es gibt ein waffenscheinfreies Pfefferspray, das würde ich mir kaufen. Damit fühlst Du Dich sicherer vor agressiven Hunden.
    Und die herrenlosen Straßenhunde sind nicht agressiver als die hinter dem Gartenzaun, sondern friedlicher.
    Also keine Angst!
    LG
    Lore

  • #3

    Johananni (Montag, 22 April 2013 18:22)

    Wer auch immer dich auf die Probe stellt, du bist dem gewachsen.
    Straßenhunde laufen vor Angst entweder vor dir weg, oder aus Sehnsucht gemütlich hinter dir her. Die Erfahrung haben wir in Bosnien gemacht. In Spanien habe ich in 4 Monaten noch nicht einen StraßenHund gesehen...
    Wo seid ihr Dienstag in einer Woche? Wir wollen euch doch nochmal besuchen...

    Gruß Johan

  • #4

    Mama Ingrid (Dienstag, 23 April 2013 00:08)

    Oje! Wie kann ich dich nur trösten, Annimaus? Ich glaube inzwischen fest daran, dass du es schaffst, dass IHR es schafft, alle Drei!
    Es wäre schließlich merkwürdig, wenn ihr in viereinhalb Monaten jeden Tag Sonne und gute Laune hättet, zumal ihr euch da ja ein großes Abenteuer zugemutet habt und jeden Tag physisch und/oder mental an eure Grenzen stoßt. Genau das ist es - ein Abenteuer, und am Schluss seid ihr die Helden und habt die bösen Drachen besiegt :-)
    Küssi, Mama