Pilgern mit Hund nach Santiago de Compostela

Translation:

Reinhard: Hälfte geschafft!

Von Conques nach Livinhac-le-Haut, 24 km

Bitte mal zu Hause die Fanfaren blasen! Wir Jakobspilger haben die Hälfte geschafft!!! Und das in doppelter Hinsicht: Wenn wir davon ausgehen, dass Santiago de Compostela zwar unser Hauptziel ist, wir uns aber als kleinen "Nachschlag" noch eine Handvoll Tage bis zum Kap Finisterre bzw. bis Muxia auferlegen wollen, dann haben wir gestern von der Kilometerzahl und morgen von den Wandertagen her tatsächlich "nur noch" nochmal so viel vor uns. Gigantisch!

Kleines Zwischenfazit: Der Jakobsweg hat für mich bisher nichts von seiner Faszination eingebüßt. Die Landschaften, Städte und Dörfer, durch die wir gezogen sind, begeistern mich immer aufs Neue, halten ständig andere Überraschungen für mich bereit. Die Menschen sind freundlich, grüßen, haben Spaß an Sira, wünschen "Bon route!". Die Zahl der Mitpilger steigt beständig und jeder hat für den anderen ein gutes Wort. Das leibliche Befinden ist sehr zufriedenstellend. Die Hornhaut unter den Füßen wird zusehends dicker. Eigentlich könnte ich mir noch ein Profil reinschnitzen und die Schuhe wären überflüssig. Blasen - Fehlanzeige! Verdauung - komplikationslos! Die Gelenke der Knie und Hüften arbeiten inzwischen reibungslos und auch bei der "goldenen Schraube" am Rücken setzt deutliche Besserung ein. Nur die Schultergelenke singen schrill das Hohelied vom leise rieselnden Kalk und haben etwas dagegen, vom Rucksack weiterhin derart malträtiert zu werden. Die Schultermuskulatur schließt sich dem gerne an und sorgt für Verspannungen. Mein Körpergewicht geht wunschgemäß herunter und ich kann so langsam damit beginnen, auf meinen Rippen Klavier zu spielen. Kopfhaar und Bart sprießen und irgendwie sehe ich struppig aus. So muss es als Pilger sein.

Und was habe ich über solch eine lange Strecke über mich selbst erfahren? Zu welchen Erkenntnissen bin ich gekommen? Zunächst einmal, dass das Geld ganz schön schnell weniger wird, dass man sich beschränken muss, dass man mit wenig auskommt, wenn man es nur will. Auf die großen, zukunftsweisenden Gedanken warte ich (noch) vergebens, erst recht auf die spirituellen Erkenntnisse. Ersatzweise kommt mir in den Sinn: Boah, ist das schön hier! - Huch, da ist er ja wieder, unser Kuckuck! - Verdammter Schotterweg! - Jippiihh, nur noch zwei Kilometer! ...

Das tägliche Zusammensein mit Annika ist eine Freude. Ein zwischenmenschlicher Lagerkoller ist noch nicht eingetreten. Ich bewundere ihren Umgang mit Sira: voller Liebe, aber auch großer Konsequenz. Ihr Weg mit Sira ist körperlich und nervlich anstrengender als meiner. Ich hoffe nur, dass sie das nicht überfordert und sie wenigstens zum größten Teil die Natur so genießen kann wie ich.

Ich freue mich riesig auf die zweite Hälfte!

Es ist empfindlich kalt, aber sonnig, als wir unser Mobil-Home auf dem Campingplatz von Conques verlassen. Unmittelbar hinter der Pilgerbrücke beginnt der Aufstieg, und zwar einer, der sich gewaschen hat. Über Felsen und Baumwurzeln mühen wir uns hoch und kommen trotz der Morgenfrische bald ins Schwitzen. Vielfach ausgetretene Stellen im Fels zeugen von Hunderttausenden von Pilgern, die hier ebenfalls schon geschwitzt haben.

Oben auf der Höhe dann ein leichter Weg. Wir nehmen nicht die Hauptroute, sondern die Variante. Aber gerade sie folgt dem historischen Verlauf des Jakobsweges - auf kleinen, aussichtsreichen Straßen. Je länger wir unterwegs sind, umso mehr zieht es sich zu. Der Wind wird immer stärker, ja eisiger. Die Fleecejacke kommt unter meinem Anorak wieder zum Einsatz, ebenfalls Ohrenschutz, Hut und mein Buff als Halstuch. Wie seinerzeit in der Schnee-Eifel. Die Aussicht nach links und rechts in die Täler ist beeindruckend, könnte aber noch besser sein, wenn der Dunst in der Ferne nicht immer weiter zunähme. Der Wind wird immer stärker, beutelt uns manchmal richtig hin und her. Zur Rastzeit kommt zwar ein schöner, kleiner Rastplatz wie gerufen, jedoch ganz windgeschützt ist er auch nicht. Also weiter!

Ein langer Abstieg schont den Kreislauf, aber lässt die Oberschenkelmuskulatur jubilieren. Noch vor Decazeville dann der Schock! Ein großer Schäferhund kommt von einem Gehöft bellend zu uns an die Straße gejagt und baut sich drohend vor uns auf. Sira gefällt ihr Artgenosse nicht und sie kläfft ein Mal kurz auf. Sekundenbruchteile später springt der Köter vor - und beißt Anni in den Oberschenkel. Anni schreit erschrocken auf und gleichzeitig versucht das Mistvieh, Sira zu packen, was ihr aber glücklicherweise nicht richtig gelingt. Mit Fußtritten und Geschrei versuche ich, den Beißer und meine Pilgergenossen auseinanderzuhalten. Zusätzlich reiße ich meinen großen Schirm aus dem Rucksack, für den Fall, dass der Schäferhund den nächsten Angriff startet. Ob es mein Geschrei, mein Schirm oder dann doch die gellenden Rufe der Bäuerin sind, die den Angreifer abdrehen lassen, wird sich nicht eindeutig klären lassen. Sira ist verschreckt, ich auch, Anni ist stinksauer. Und als die herbeieilende Bäuerin sich nach Annis Befinden erkundigt, bekommt sie von ihr die passende Antwort, im besten Französisch. Ein blutiger Kratzer und eine heftige Schwellung bleiben bei Anni zurück. Gut, dass noch Tetanusschutz besteht.

  Beim Gang durch Decazeville dann fast eine Duplizität der Ereignisse: Links hinter einem Gartenzaun spielt der nächste Schäferhund verrückt. Wir wähnen uns vor ihm sicher und gehen vorbei. Von Sira kommt kein Ton, sie verhält sich vorbildlich. Im selben Moment rast rechts hinterm Gartenzaun der nächste Schäferhund heran - und springt mit einem Riesensatz über den Zaun. Anni und Sira stehen wie angewurzelt. Aber unser nächster vierbeiniger Freund ist harmlos, er will eigentlich nur spielen. Sira hat jetzt die Schnauze voll und hält sich drohend den verliebten Verehrer vom Leib.

Dass auf dem Campingplatz in Livinhac-le-Haut, wo wir mal wieder in einem Mobil-Home übernachten, ein riesiges, aber treudoofes Ungetüm von Bernhardiner auf sie wartet, kann sie zu dem Zeitpunkt noch nicht ahnen. Doch das erzählt euch morgen Annika.

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Kommentare: 5
  • #1

    Mama Ingrid (Sonntag, 21 April 2013 01:35)

    Zuerst mal herzlichen Glückwunsch zum "Bergfest"!
    Wie ihr es immer schafft, so viele Kilometer zurück zu legen, wenn ihr soviel kraxeln müsst, ist mir ein Rätsel.
    Nein, Anni, natürlich gefällt es niemandem, dass dich dieser blöde Schäferhund gebissen hat. Dein "bestes Französisch" hätte ich gerne gehört, hihi. Eines Tages wird Sira dich richtig verteidigen - wenn sie mal groß und stark ist.
    Bin immer in Gedanken bei euch - in dieser wilden Landschaft und den alten Städtchen.
    CU, Küssi

  • #2

    Josef Lukas (Sonntag, 21 April 2013 09:08)

    Hallo Ihr Beiden,

    es ist Sonntagmorgen und ich lese wieder fasziniert die Einträge der zurück liegenden Woche. Dabei kamen bei mir besondere Erinnerungen an Conques hoch. Habe dort vor Jahren in der Kirche eine Pilgermesse erlebt, die von einem pilgernden Chor aus Belgien gestaltet wurde. Dieses Erlebnis war einfach unbeschreiblich.

    Wünsche Euch für den zweiten Teil der Pilgerschaft weiterhin viel Glück und vor allen Dingen Gesundheit. Jakobus wird es sicher zu richten wissen.
    Gruß Josef

  • #3

    Nanni (Sonntag, 21 April 2013 09:40)

    Zum ersten Teil des Berichts: Ich musste die ganze Zeit kichern und lachen, als ich von Hornhaut und Klavier gelesen habe. Johan hat sich schon irritiert nach mir umgeschaut. Ihr schreibt echt super Berichte. Vielleicht auch eine Sache, die die Reise mit sich bringt?! Ist wahrscheinlich gar nicht schlecht mal zu reflektieren, was man so gelernt hat bisher. Hat mir bei unserem AbschlussCappuccino in Venedig auch gut gefallen.

    Zum zweiten Teil des Berichts: Bin schockiert und entsetzt. So ein Mistvieh! Respekt vor Annika! Ich wäre so eingeschüchtert gewesen, dass ich kaum noch an irgendeinem Zaun vorbeigelaufen wäre.
    Hoffentlich passiert das nicht nochmal. Jetzt lach ich nicht mehr über den Regenschirm!

  • #4

    Dani (Sonntag, 21 April 2013 17:33)

    Also, wenn Anno und Sira die erste Hälfte gepackt haben, schaffen sie die zweite erst Recht. Und wartet´s mal ab: Vielleicht ist Sira ja als Pilger-Hund mal so was wie ne Institution in Spanien und Frankreich, die das Ansehen der Hunde verbessert…?

  • #5

    ullala (Sonntag, 21 April 2013 20:47)

    hallöchen ihr tollen pilger, meine hochachtung wächst - obwohl das kaum möglich ist. ich beneide euch auch ein wenig ... und wünsche euch auf der 2. hälfte des weges weder böse hunde noch katzen, sira gutes heilfleisch und euch beiden alles gute und viel freude weiterhin
    beste grüße aus dem bergischen...